Donnerstag, 25. April 2024

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Özcan Mutlu (Grüne) über Steudtner-Freilassung
"Ein kleiner Lichtblick auf dem Weg zur Normalisierung"

Die Freilassung des Menschenrechtlers Steudtner aus türkischer Haft mache Hoffnung, sagte der Grünen-Politiker Özcan Mutlu im Dlf. Doch bis zu einer Normalisierung des deutsch-türkischen Verhältnisses müsse noch viel passieren. Nun gelte es, die Anklageschrift gegen Deniz Yücel abzuwarten.

Özcan Mutlu im Gespräch mit Stefan Heinlein | 26.10.2017
    Prozessbeobachter Özcan Mutlu von Bündnis 90/Die Grünen vor dem Gerichtsgebäude in Istanbul (Türkei) im Stadtteil Caglayan.
    Prozessbeobachter Özcan Mutlu von Bündnis 90/Die Grünen vor dem Gerichtsgebäude in Istanbul (Linda Say/dpa)
    Stefan Heinlein: 112 Tage war Peter Steudtner in der Türkei in Haft. Jetzt ist der deutsche Menschenrechtsaktivist auf dem Weg zurück nach Deutschland. Am frühen Nachmittag wird seine Maschine aus Istanbul in Berlin landen. Dort ist die Erleichterung groß über den Freispruch. Zwölf Stunden dauerte die Verhandlung. Erst nach Mitternacht kam dann die erlösende Nachricht.
    Mitgehört hat der ehemalige Grünen-Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu. Ihn begrüße ich jetzt in Istanbul am Telefon. Guten Tag, Herr Mutlu.
    Özcan Mutlu: Guten Tag!
    Heinlein: Herr Mutlu, ein positives Signal für die deutsch-türkischen Beziehungen. So die Einschätzung türkischer Medien. Teilen Sie diese Bewertung?
    Mutlu: Das ist ein kleiner Lichtblick auf dem Weg zur Normalisierung des deutsch-türkischen Verhältnisses. Bis wir von einem normalen Verhältnis reden können, muss noch viel passieren. Es sind weiterhin zehn Deutsche in türkischer Haft, darunter Deniz Yücel, Mesale Tolu. Deniz Yücel wartet seit über 250 Tagen auf die Anklageschrift. Er weiß nicht mal, warum er im Gefängnis in Untersuchungshaft ist. Also da ist noch ein weiter Weg. Aber trotzdem macht der gestrige Beschluss des Gerichts Hoffnung.
    "in der Türkei ist ja nichts normal"
    Heinlein: Glauben Sie, dass die zehn anderen Deutschen, die noch in türkischer Haft sind, jetzt auch profitieren können von diesem Urteil, dass es in diese Richtung weitergeht, auch für sie positiv, möglicherweise bis hin zu einer Freilassung?
    Mutlu: Das können wir nur hoffen. Aber in der Türkei ist ja nichts normal. Deshalb kann man nicht von diesem Fall auf andere schließen. Wir müssen einfach abwarten. Wenn jetzt alsbald die Anklageschrift für Deniz Yücel vorgelegt wird, dann kann man davon ausgehen, dass die Türkei jetzt diesen Lichtblick in Sachen Rechtsstaatlichkeit ernst meint und auch an der Normalisierung des Verhältnisses interessiert ist. Das werden wir abwarten müssen. Wir können es leider schwer vorhersagen, weil in Ankara viel aus dem Bauch gemacht wird.
    Heinlein: Herr Mutlu, Sie haben den Prozess vor Ort beobachtet. Welche Eindrücke haben Sie denn? Fiel die Entscheidung der Richter nach Ihrem Eindruck allein nach juristischen Kriterien, oder hat da im Hintergrund die Politik, hat vielleicht der Präsident selbst, Erdogan ein wenig an den Fäden gezogen?
    Mutlu: Ich bin schon mehrfach als Prozessbeobachter in der Türkei gewesen und war gestern von der Atmosphäre überrascht, positiv überrascht. Der Saal war voll mit über 150 Personen, die Angeklagten und die Anwälte eingeschlossen, und die Richter und der Staatsanwalt haben die Angeklagten in Ruhe ausreden lassen, nicht unter Druck gesetzt. Es hat alles den Anschein eines fairen Prozesses gehabt. Das hat mich positiv beeindruckt. Das kann zweierlei Gründe haben. Der eine Grund ist tatsächlich, dass jetzt die Rechtsstaatlichkeit immer mehr durchgreift, dass durchaus andere früher freigelassen worden sind. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere Möglichkeit ist natürlich, dass Ankara gesagt hat, jetzt machen wir ein Zeichen des guten Willens Richtung Berlin. Beides ist wahrscheinlich, wobei unter den gegebenen Umständen glaube ich eher, dass das zweite der Fall ist, dass Ankara quasi auch mit seine Finger im Spiel hat, dass Peter Steudtner endlich nach hundert Tagen freigekommen ist.
    "Die Bundesregierung hat erstmals die Samthandschuhe ausgezogen"
    Heinlein: Unvorstellbar in Deutschland, aber Sie glauben, dass es tatsächlich einen Präsidentenanruf gab oder aus seiner Kanzlei oder von anderen Seiten der Politik bei den Richtern vor Gericht, dass man sagte, Peter Steudtner muss freikommen, und zwar am gestrigen Tag bereits?
    Mutlu: Ja, das liegt nahe, zumal wenn wir jetzt aktuellen Presseberichten zufolge davon ausgehen müssen, dass letzte Woche Gerhard Schröder im Auftrag von Frau Merkel und Herrn Gabriel in Ankara war.
    Heinlein: Was schließen Sie daraus, wenn es tatsächlich diese politische Einflussnahme gab auf diesen Prozess? Welches Signal will Ankara dann aussenden mit Stoßrichtung Berlin?
    Mutlu: Bei der Verhaftung von Peter Steudtner hat die Bundesregierung erstmals die Samthandschuhe ausgezogen und Richtung Ankara Tacheles geredet, Grenzen gezogen, und ich glaube, dieses Signal ist angekommen. Die Türkei ist in einer wirtschaftlichen Krise. Sie kann es sich nicht leisten, mit einem wichtigen Wirtschaftspartner Deutschland oder der EU sich anzulegen. Das alles hat sicherlich mit eine Rolle gespielt. Ich denke daher, dass Ankara mehr und mehr zu der Einsicht kommt, dass man zu einer Normalisierung kommen müsste. Hier ist sicherlich Ankara gefragt. Zehn Deutsche sind nach wie vor in Haft und die müssten auch entlassen werden oder rechtsstaatliche Verfahren bekommen. Auf der anderen Seite muss natürlich auch Berlin was tun, damit dieses zerrüttete Verhältnis wieder gekittet werden kann. Beide Seiten haben ja sich nicht mit Ruhm bekleckert die letzten Monate in puncto gegenseitigen Schuldvorwürfen.
    "Unter Partnern muss man auch unliebsame Wahrheiten aussprechen"
    Heinlein: Was müsste denn Berlin aus Ihrer Sicht tun, damit das Verhältnis besser wird?
    Mutlu: Berlin muss als ein guter Partner immer wieder das Kind beim Namen nennen. Frau Merkel war in den letzten zwei Jahren fünfmal in der Türkei. Sie hat Demokratiedefizite, Menschenrechtssituation, Pressefreiheit nie zum Thema gemacht. Deshalb hat man das als diplomatische Schwäche gedeutet in Ankara und dachte, man kann sich was leisten. Ich rate nur jetzt der zukünftigen Regierung, unter Partnern muss man auch unliebsame Wahrheiten aussprechen. Berlin muss Ankara immer sagen, was die Erwartung ist, und umgekehrt genauso. Nur dann wird ein Schuh daraus. Wenn Ankara an einem guten Verhältnis mit Deutschland interessiert ist, vor allem auch wirtschaftlich weiter mit Deutschland zusammenarbeiten möchte, dann muss Ankara sich bewegen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.