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Olga Ravn: „Die Angestellten“
Die Arbeit - unendliche Weiten

Auch im Weltall herrscht die Ausbeutung: Die Dänin Olga Ravn hat einen Angestelltenroman der besonderen Art geschrieben – und stellt die Frage, wo Menschlichkeit beginnt und endet. Die Lektüre dieses Romans ist Arbeit. Jedoch lohnenswerte Arbeit.

Von Julia Schröder | 07.12.2022
Olga Ravn: "Die Angestellten"
In "Die Angestellten" geht Olga Ravn der Frage nach: Wo beginnt der Mensch und wo seine Umlaufbahn? (Portraitfoto: Laerke Posselt / Buchcover: MÄRZ Verlag)
Olga Ravn schenkt ihrer Leserschaft nichts. Dass ihr Buch „Die Angestellten“ Mitarbeit erfordert, wird auf den ersten Seiten klar, eigentlich schon im Untertitel „Ein Roman über Arbeit im 22. Jahrhundert“. Es beginnt mit einer Vorbemerkung im hyper-abstrakten Stil, mit dem Unternehmensberater ihre Abschlussberichte zu imprägnieren pflegen. Ein Ausschuss habe, so heißt es, Angestellte befragt und ihre Zeugenaussagen aufgenommen, um Einblick in Arbeitsverhältnisse vor Ort zu gewinnen und mögliche Einflüsse auf Arbeitseinsatz und Produktion zu untersuchen.
So floskelhaft geht es zum Glück nicht weiter, der Großteil des Buchs besteht aus den deutlich abwechslungsreicheren Zeugenaussagen. Es sind rund hundert Passagen zwischen einem Satz und mehreren Seiten, Fragmente, deren Kontext zunächst nicht zu entschlüsseln ist. Nach und nach gewinnt die Gewissheit Kontur, dass auf einer Weltraumstation namens Sechstausender-Schiff irgendetwas schwer schiefgegangen ist.
So warnt ein Befragter in seiner Zeugenaussage die anonym bleibenden Mitglieder des Ausschusses, die sich auf dem Raumschiff eingefunden haben:
„Unterlasst es, in den zweiten Raum zu gehen. Es ist nicht angenehm dort. Ihr habt die Möglichkeit, es nicht zu tun. Ihr könnt uns das für euch tun lassen. Wir sind bereits dort gewesen. Ihr habt immer noch die Möglichkeit, euch selbst zu retten. Ich weiß nicht, ob ich noch immer menschlich bin. Bin ich menschlich? Steht in euren Papieren, was ich bin?“

Sind das Dinge oder Lebewesen?

Wer von den Angestellten jeweils spricht, ob menschlich, humanoid, männlich, weiblich, ist meist dem Spürsinn der Lesenden überlassen. Das große Rätsel des Buchs bleiben die eiförmigen Objekte, die auf einem neuentdeckten Planeten ausgegraben und auf die Raumstation gebracht worden sind – sind sie real, sind sie halluzinierte Projektionen? Sind sie Dinge oder Lebewesen? Oder ist das gar kein Widerspruch?
Jedenfalls bringen diese Gegenstände, obwohl selbst unbewegt, das emotionale Gefüge der Angestellten, die sie betreuen und beobachten, in Bewegung, ja, in Aufruhr. Die Objekte leuchten, summen, duften. Damit wecken sie in den Angestellten auf dem Schiff Gefühle, die zunehmend aus dem Ruder laufen. Träume stellen sich ein, die Sehnsucht nach Liebe, schmerzhafte Erinnerungen, betörende Visionen, schließlich Rebellion. Auf Dauer unterminiert der Einfluss der Gegenstände die Arbeitsweltordnung, das alles durchdringende Daseinsprinzip auf dem Sechstausender-Schiff.

Der Witz in den Leerstellen

Die Mechanismen dieser Arbeitswelt, die Selbstdisziplinierung und Selbstoptimierung der Angestellten, die Herrschaft von Technokratie und Bürokratie werden kenntlich, ohne dass der Roman die Perspektive der Sprechenden verlässt. Das wirkt teils erschütternd, teils auch sehr komisch. So ist nach Lektüre dieses Buchs kaum vorstellbar, je wieder an einer moderierten Change-Management-Arbeitsgruppe teilzunehmen, ohne an die Mitglieder des Ausschusses zu denken:
„Eure Stimmen sind freundlich, eure Kleidung ist schwarz, und aus den Ärmeln ragen eure weichen, schreibenden Hände. Die Poren auf der Haut lassen sie zerbrechlich aussehen, als könnte man sie liebkosen und vorsichtig die Haut abschälen, und das würde euch weh tun.“
Olga Ravn ist Lyrikerin, sie spielt mit Motiven, die man aus Klassikern der Science-Fiction kennt, und sie weiß, wie man in wenigen Worten Wahrnehmungswelten verdichtet. In ihrem kaum 150 Seiten umfassenden Roman arbeitet sie nach dem Prinzip der Perlenkette: Loch an Loch, und hält doch. In den Leerstellen sitzt der ganze Witz.
Ja, diese Autorin schenkt uns nichts – außer einer absolut lohnenden Lektüreanstrengung.
Olga Ravn: „Die Angestellten. Ein Roman über Arbeit im 22. Jahrhundert“
Aus dem Dänischen von Alexander Sitzmann
März Verlag, Berlin. 144 Seiten, 20 Euro