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Olympia 1948
Improvisierte Spiele in schwierigen Zeiten

Korruption, Umweltsünden, Geldverschwendung: Auch das sind Themen, die man mit Sportgroßereignissen in Verbindung bringt. Doch es geht auch anders, wie Olympia 1948 in London bewiesen hat. Die ersten Spiele nach dem Zweiten Weltkrieg waren ein Meisterstück der Mangelverwaltung.

Von Ronny Blaschke | 29.07.2018
    Eröffnung der ersten Olympischen Spiele nach dem Zweiten Weltkrieg am 29.7.1948 im Wembleystadion von London.
    Eröffnung der ersten Olympischen Spiele nach dem Zweiten Weltkrieg am 29.7.1948 im Wembleystadion von London. (dpa / picture alliance / Sportreport)
    Nach dem Krieg war ein Viertel des britischen Volksvermögens vernichtet. London, eine Stadt in Ruinen. Nur ein Drittel der Wohnungen hatte fließendes Wasser. Die Bewohner erhielten Lebensmittelrationen. Die Vorbereitungen für Olympia gerieten oft in Gefahr. Arbeiter wurden für den Aufbau von Krankenhäusern und Schulen abgezogen. In dieser Atmosphäre machten Medien Stimmung gegen die olympische "Geldverschwendung", erzählt die Autorin Janie Hampton. In ihrem 2008 veröffentlichten Buch hat sie die "Spiele der Entbehrung" bis ins Details beschrieben:
    "In der Woche vor den Spielen wurden viele Schulen geschlossen. In zwei oder drei Tagen hatte man die Klassenräume in Schlafsäle umgewandelt. Ein Olympisches Dorf gab es nicht. Viele Athleten übernachteten in Kasernen, Jugendherbergen und Baracken. Sie brachten selbst Nahrungsmittel mit: Die Ungarn zum Beispiel Zitronen, die Chinesen Ingwer. Und besonders beliebt machten sich die Amerikaner: mit Steaks, Orangen und Brot. Jeden Tag brachte ihnen ein Flugzeug neue Lebensmittel."
    Es waren die Spiele der Improvisation: Die Schweizer spendeten Turngeräte, die Finnen Holz für das Basketballparkett. Britische Bürger durften sich nur alle zwanzig Monate ein Hemd oder eine Bluse kaufen. Viele Athleten schneiderten ihre Kleidung selbst. Oder verkauften Wettkampftickets ihrer Verwandten auf dem Schwarzmarkt. Unternehmen durften schon für 250 Pfund mit den olympischen Ringen werben, nach heutigen Maßstäben wären das 7000 Euro. Die BBC zahlte für die Übertragungsrechte 1000 Pfund. Janie Hampton über die Eröffnung in Wembley:
    "Politiker haben die Feier gemieden. Sie wollten nicht mit Ausgaben für sinnlose Dinge in Verbindung gebracht werden. Doch die Eröffnungszeremonie war eine wunderbare Mischung aus Chaos und militärischer Organisation. Es war der heißeste Tag seit Jahrzehnten. Es gab keinen Schatten im Wembleystadion, das zwei Wochen zuvor noch als Hunderennbahn genutzt wurde. Sie hatten einfach die Lampen ausgetauscht und eine Menge Sand für die Leichtathletik hingeschafft."
    Mehr 80.000 Menschen kamen zur Eröffnung. Zu einer Feier ohne Showeinlagen und Patriotismus, auch als Antwort auf Olympia 1936 in Berlin. Unter den 4000 Sportlern waren ehemalige Soldaten und Kriegsgefangene. Am Tag danach wurden aus dem Postamt in Wembley 66.000 Briefe verschickt, ein Rekord. Mit jedem Tag wuchs die Begeisterung der Londoner. Wettkämpfe waren ausverkauft, Busfahrer legten Sonderschichten ein, Schüler und Senioren meldeten sich als freiwillige Helder. Emil Zátopek, legendärer Langstreckenläufer aus der Tschechoslowakei, widmete seinem Olympia-Debüt 1948 eine große Passage in seinen Memoiren:
    "Nach den dunklen Kriegstagen, nach Bomben, Tod und Hunger: Für mich war die Wiedergeburt Olympia wie ein lang ersehnter Sonnenaufgang. Plötzlich gab es keine Grenzen mehr, keine Hindernisse. Menschen, die Jahre ihres Lebens verloren haben, trafen sich nun ohne Zwang und lernten sich kennen. Wir fühlten uns wieder jung."
    Zátopek gewann in London Gold über 10.000 Meter. Bei den Frauen stach die niederländische Leichtathletin Fanny Blankers-Koen heraus, mit vier Goldmedaillen. Sportler der Kriegsaggressoren Deutschland und Japan waren nicht eingeladen worden. Und doch schaffte es ein Deutscher zu den Spielen: Der einstige Kriegsgefangene Helmut Bantz begleitete die britischen Turner als Trainer. Die Autorin Janie Hampton.
    "Es waren damals keine professionellen Athleten, sie hatten alle einen Job. Da gab es einen Gewichtheber, der in einem Kraftwerk arbeitete. Er schleppte den ganzen Tag Kohlen und konnte sich so fit halten. Oder eine Weitspringerin, die als Sekretärin beschäftigt war. Sie ging in ihren Mittagspausen trainieren. Es existierten strenge Regeln, die das Amateurwesen bei Olympia sicherten. Ein britischer Athlet bekam das zu spüren: Er bewarb sich als Sportlehrer, hatte noch kein Gehalt dafür bezogen, doch schon für die Bewerbung wurde er aus dem Olympiateam geworfen."
    Nach den Spielen verkauften die Briten große Teile des Inventars: Pferde und Boote, Bälle und Flaggen. So erwirtschafteten sie einen Gewinn von 29.000 Pfund. Die Gesamtkosten lagen bei 732.000 Pfund. Gemessen an der aktuellen Kaufkraft waren die Spiele 2012 in London 500 Mal so teuer.