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Online-Medien oder: Die Sklerotisierung der Öffentlichkeit

Noch nie gab es so viele Medienschelten wie in diesen Zeiten. In Buchveröffentlichungen wird über die angeblich schleichende Verwahrlosung des Journalismus geklagt. Auch dem Online-Journalismus wird vorgehalten, nur den Spielregeln einer Aufmerksamkeitsökonomie verpflichtet zu sein.

Von Reinhard Mohr |
    Die älteren Zeitgenossen werden sich noch an das fabelhafte Kursbuch erinnern, jene von Hans Magnus Enzensberger und Karl Markus Michel herausgegebene Essay-Zeitschrift, die über viele Jahre tatsächlich den aktuellen Kurs, wer will, den Zeitgeist der Neuen Linken formulierte. Das Kursbuch erschien vier oder fünfmal im Jahr und wurde auf dem Höhepunkt seines Erfolgs von Hunderttausenden Lesern jeweils begierig erwartet und mit wissensdurstiger Inbrunst verschlungen. In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren verkörperte es geradezu idealtypisch den windungsreichen Gang der 68er-Revolte, ihre theoretischen Debatten ebenso wie ihre praktischen Aktionen, nicht zuletzt die Reflexionen ihrer "Verkehrsformen" zwischen "politischem Kollektiv" und individueller Sexualität.

    Genauer, intelligenter und frischer konnte man sich nirgendwo sonst über den Stand der deutschen Kulturrevolution informieren. Noch viele Jahre standen die blauen, roten und gelben Kursbücher, farblich wie chronologisch schön geordnet, zumindest in den unteren Regalreihen - ein fortlaufendes Archiv als lebendiges Gedächtnis eines historischen Aufbruchs.

    Gäbe es das Kursbuch heute noch, im Frühjahr 2011, so säßen seine Leser allerdings nicht mehr schmökernd im Café - natürlich verfolgten sie vor ihrem Laptop, iPhone oder iPad den Liveticker der Revolution. Denn klar, auch Kursbuch online hätte sich dem digitalen Trend der Zeit nicht verschließen können und würde nahezu rund um die Uhr das Neueste von den aktuellen Kriegs-, Katastrophen-und Revolutionsschauplätzen berichten.

    Man stelle sich kurz vor, es hätte schon 1968 statt selbst gedruckten Flugblättern und "Infos" einen Online-Liveticker gegeben, etwa bei den "Springer-Blockaden" oder beim Vietnamkongress in Berlin:

    "15.45 Uhr. Rudi Dutschke spricht: 'Genossen, Antiautoritäre, Menschen! Wir haben nicht mehr viel Zeit. In Vietnam werden auch wir tagtäglich zerschlagen, und das ist nicht ein Bild und ist keine Phrase.'

    16.22 Uhr. Dutschke kommt zum Schluss: 'Die Revolutionierung der Revolutionäre ist so die entscheidende Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen. Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen!'

    16.23 Uhr. Frenetischer Beifall, rhythmisches Klatschen. Ho-ho-ho-tschi-Minh-Rufe!"

    "Kursbuch online" hätte brandaktuelle Videos von Napalm-Bombenangriffen dazu gestellt, einen Link zum Blog von Dieter Kunzelmann "Orgasmusschwierigkeiten machen uns nicht kaputt!" und eine tägliche Zusammenfassung "Kommune 1 intim" mit Rainer Langhans und Fritz Teufel unter dem Titel "Wenn's der Wahrheitsfindung dient ..." . Allein die Twitter-News von Uschi Obermaier - "Leute, Mick Jagger ist irre dünn, ey!" - hatten 100.000 Follower. Schon um 16.31 Uhr wäre der live geschriebene Online-Kommentar zur Dutschke-Rede von Peter Schneider Zeit zu handeln! auf die Homepage gegangen. Ein Trailer zum abendlichen Teach-in mit Herbert Marcuse Kampf der repressiven Toleranz! samt einem Grußwort von JeanPaul Sartre - "Der Mensch ist frei!" - hätte die Aufmachung der Homepage an diesem Nachmittag abgerundet, bevor der Liveticker aus Ho-Tschi-Minh-Stadt nahtlos gefolgt wäre. Apocalypse now. Bleiben Sie dran!

    Es liegt auf der Hand, dass 1968 online ein großer Medienhype gewesen wäre - aber womöglich nicht jener Mythos, der die deutsche Nachkriegsgeschichte geprägt hat. Vor lauter twittern, facebooken, bloggen, googeln, simsen und immer up-to-date-sein hätte einfach kein Mensch Zeit gehabt, die Revolution zu machen.

    Heute macht das nichts mehr. Revolution machen sowieso die anderen. In Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Syrien - und wir sind live dabei.

    Der "Revolutionsticker" ist die Innovation des Jahres 2011, das Minutenprotokoll einer virtuellen Zeitgenossenschaft, bei der man auch mit gut gefülltem Rotweinglas und einem ausreichenden Vorrat an Käsestangen immer mittendrin ist im Horror und Wahnsinn des Geschehens. Der Revolutionsticker, für den sämtliche verfügbaren Informationsquellen, ob Nachrichtenagenturen oder anonyme Twitter-Meldungen, nach verwertbaren Neuigkeiten durchforstet werden, ist zugleich die vorerst letzte Errungenschaft einer Entwicklung, die bereits seit einigen Jahren zu beobachten ist.
    Doch keine Angst, hier soll nicht der soundsovielte Nachruf auf die gute alte Zeitung formuliert werden, die vom vermeintlich bösen Internet zum Aussterben verdammt worden ist. Der Fortschritt ist längst schon keine Schnecke von Grass mehr, und das ist gut so.

    Gerade die Aufstände in Nordafrika und im Nahen Osten haben gezeigt, wie hilfreich die Möglichkeiten der digitalen Kommunikationsmedien in jenen Staaten waren, die die Meinungs- und Informationsfreiheit systematisch unterdrücken. So bildeten Twitter und Facebook nachgerade das spiegelbildliche Phänomen zum Revolutionsticker: Hier die Aktivisten der Revolte, die ihre Aktionen trotz der offiziellen Zensur koordinieren können, dort das globale Publikum in der Zuschauerrolle, weit weg vom Geschehen, doch immer ganz nah dran.

    Die unerhörte Beschleunigung aller weltweit verfügbaren Informationen aber, deren Motor vor allem das Internet ist, hat nicht nur die Medien selbst und ihren Gebrauch massiv verändert, sondern die Struktur der Öffentlichkeit gerade in den demokratischen Ländern selbst. Was auf der einen Seite als Möglichkeit erscheint, einen freien, beinah grenzenlosen Austausch in der globalen res publica herzustellen, Stichwort WikiLeaks, birgt andererseits Risiken und durchaus gefährliche Tendenzen für Meinungsbildung und Urteilskraft in den demokratischen Gesellschaften. In jedem Fall verändert es Willensbildung und Entscheidungsprozesse tief greifend. Die Halbwertzeit von Überzeugungen, Stimmungen und politischen Konstellationen hat sich dramatisch reduziert, und so werden selbst wichtige Minister heute so schnell und rückstandslos ausgewechselt wie Trainer in der Fußball-Bundesliga oder Moderatorinnen von Viva und MTV.

    Dabei fällt zuerst ein Paradox auf: Hatte Jürgen Habermas zu Beginn der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts den "Strukturwandel der Öffentlichkeit" noch als eine Entpolitisierung der Gesellschaft beschrieben, in der der Wähler zum Verbraucher, das Subjekt der demokratischen Republik zum bloßen Objekt austauschbarer Wahlreklame werde, so könnte man heute sogar von einer Überpolitisierung sprechen, die zuweilen überhitzte, ja hysterische Züge trägt.
    Täglich, ach was: Beinahe stündlich findet der sprichwörtlich gewordene "Wutbürger" neuen Stoff für seine schwankende, hoch mobile Empörungsbereitschaft. Dass die Welt schlecht ist und dem Untergang geweiht, wusste man immer schon - oder man ahnte es wenigstens. Die meisten Menschen lassen es aber in der Regel bei dieser allgemeinen Einsicht bewenden und versuchen dennoch, ihr kleines und ziemlich kurzes Leben so gut weiter zu führen, wie es geht. Was sollte man ihnen auch sonst raten?

    Heute aber gibt es keine Waffenruhe der Mediengesellschaft mehr, keine Feuerpause zwischen Montagszeitung und Dienstagszeitung, auch nicht zwischen der 20-Uhr-Tagesschau am Mittwoch und der am Donnerstag, nicht mal zwischen Frühstücksfernsehen und Mittagsmagazin. Jetzt wird rund um die Uhr geballert, und zwar aus allen Rohren. Dass die Welt schlecht, böse, hoch gefährlich, wahnsinnig und verrückt ist, erfahren wir nun im Minuten-, ja Sekundenabstand.

    Die unheilige Trias aus Dramatisierung, Skandalisierung und Emotionalisierung setzt dabei auf die Produktion einer möglichst großen Menge an Affekten, die wahre Gefühlsströme und psychische Eruptionen auslösen sollen. Egal ob Angst oder Hoffnung, Wut oder Sehnsucht, Hass oder Liebe - Hauptsache, die Amplitude auf der nach oben offenen Erregungsskala stimmt und stimuliert den Finger an der Klickmaus. Dabei ist es prinzipiell egal, ob es um den Tod von Knut, dem Eisbären, geht oder um die radioaktive Verstrahlung eines großen Teils von Japan, um den Scheidungskrieg eines Schlagerstars oder um einen Völkermord in Afrika.

    Und fast jeder Internet-Konsument hat sich schon dabei ertappt, wie er inmitten des Weltwahnsinns selbst lächerlichste Boulevardmeldungen anklickt, die normalerweise weit unter seinem intellektuellen Niveau dämmern - irgendwo zwischen Daniela Katzenberger, Lothar Matthäus und Paris Hilton. Merke: In den Untiefen von Trivialisierung und Boulevardisierung sind alle Katzen pink. Die einst großen Unterschiede zwischen der seriösen Tagespresse und Straßenzeitungen wie BILD sind nur noch gradueller Natur - jedenfalls in den Internet-Ausgaben. Um fast jeden Preis müssen die werbeträchtigen Klickquoten hochgejubelt werden.

    Schon eine Kleinigkeit des journalistischen Handwerks mag dies illustrieren: Dient der Vorspann zwischen Überschrift und Text eines Zeitungsartikels in eherner Tradition der knappen, aber präzisen Zusammenfassung seines Inhalts, so hat er online nur noch einen Zweck: Die Verführung zum Anklicken: Hereinspaziert, hereinspaziert! Da ist es nur konsequent, dass im lockenden Teaser das Wichtigste, die Nachricht oder die Pointe eines Themas, gerade nicht genannt wird. Hier dient alles der Stimulierung jener vagabundierenden Neugier, die im World Wide Web in einer virtuellen Endlosschleife immer aufs Neue befriedigt wird.

    Umso knalliger müssen die Headlines sein, Werbe-"Claims" nicht zuletzt in eigener Sache. Geradezu kaskadenartig ergießen sich die unheilschwangeren Botschaften über den Bildschirm, oft mehrere nacheinander zum selben Thema, wenn es denn nur brisant genug ist und die Gemüter anständig in Wallung bringt. Am 15. März 2011 etwa sahen sich die Leser von süddeutsche.de beim Herunterscrollen gegen 22 Uhr der Reihe nach mit folgenden Hauptüberschriften konfrontiert:

    "- Atommeiler Fukushima außer Kontrolle
    - Kommt es zur nuklearen Explosion? Ist Tokio bedroht?
    - Land am Abgrund
    - Erstmal abschalten
    - Ex-CSU-Chef Huber warnt Kanzlerin vor Zickzackkurs
    - Kaum noch Überlebende
    - Chronik einer Katastrophe"
    SPIEGEL online beherrscht das thematisch-semantische Durchtakten auch nicht schlecht. Am Nachmittag des 22. März 2011 lauteten die ersten fünf Headlines:

    "- Stadt im Bann von Angst und Apathie
    - Salihs letzter Tanz
    - Koalition der Kämpfer
    - Heute Abend werdet Ihr sterben
    - 20 Jugendliche prügeln Streitschlichter bewusstlos"

    Es ist offensichtlich, dass es hier wie da nicht mehr zuallererst darum geht, interessierten Zeitgenossen die wichtigsten Neuigkeiten des Tages mitzuteilen. Vielmehr handelt es sich um eine flirrende, durchaus süchtig machende Mischung aus Erregung, Information und Unterhaltung, die das Rohmaterial des Weltgeschehens in die jeweils verkaufsträchtigste Form gießt. Der alte Begriff des "Infotainment" trifft die Sache aber schon nicht mehr richtig, denn sie ist komplizierter.

    Eher repräsentiert die neue Nachrichtenkultur eine rasante Achterbahnfahrt der Gefühle, produktionstechnisch: eine extrem bewegliche Komposition, eine variantenreiche Rezeptur, bei der Fakten so unterschiedlich gewichtet, bearbeitet, dosiert und präsentiert werden wie die Zutaten eines anspruchsvollen Menus im Sterne-Restaurant.

    Alarmmeldungen, die Angst machen - Appetizer -, wechseln sich mit eher beruhigenden, zumindest die Hysterie des Augenblicks dämpfenden Interpretationen ab - als Dessert oder Käse. Es ist dasselbe Schema und dieselbe Logik, nach der auch die politischen Talkshows im Fernsehen funktionieren: Akute Ereignisse und Stimmungen werden aufgenommen, zugespitzt und dramatisiert, bevor sie gleichsam therapeutisch wieder aufgefangen, abgedimmt und arrondiert werden. Eine Seelenmassage fürs aufgewühlte Gemüt.

    "Banken in Staatshand - Kapitalismus am Ende?

    Krise ohne Ende - Jobs und Wohlstand in Gefahr?"

    So warben im Krisenjahr 2008 einschlägige Talkshows um Zuschauer.

    Selbst vor dadaistischem Klamauk schreckte man nicht zurück:

    "Marx hatte Recht! Gebt uns den Sozialismus zurück!"

    So delirierte die Redaktion von Sandra Maischberger in der ARD. Und am 22. März 2011 lautete der programmatische Alarmruf von Maischberger:

    "Bomben auf Libyen, Japan in Not - Welt aus den Fugen?"

    Drunter wird's heute nicht mehr gemacht, ein bisschen Weltuntergang muss immer sein. Dabei ist die "Lust am Untergang" nicht neu. Der konservative Schriftsteller Friedrich Sieburg hat ihr vor einem halben Jahrhundert, zu Zeiten des "Kalten Krieges", einige Betrachtungen gewidmet, die gar nicht gestrig klingen:

    "Denn wir leben im Dauerzustand der Katastrophe, und wenn wir uns auch vor der dunklen Wolke fürchten, die über uns hängt, so ist die Furcht doch auch mit einem heimlichen Vergnügen vermischt. Die Weltuntergangsstimmung durch scharfsinnige Analysen ins allgemeine Bewusstsein zu heben und sie gleichzeitig doch auch zu genießen, gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen der Menschen von heute ... Propheten wollen wir alle sein, und je gelassener wir unseren düsteren Spruch verkünden, umso mehr sind wir des Beifalls sicher ... Die Geschwätzigkeit der westlichen Welt sorgt schon dafür, dass jede Untergangsmöglichkeit gehörig ausgemalt wird ... Wer uns mit einer Schilderung unterhält, wie ein radioaktiver Sowjetnebel die Stadt New York demnächst einhüllen wird, der kann auf gespanntes Zuhören rechnen ... Nicht möglich: Ein Stück in der Größe eines Braunkohlebriketts genügt? Unglaublich! Die Haut zersetzt sich in Stunden? Die Kobaltbombe besorgt das Tausendfache? Hochinteressant!"

    Soweit Friedrich Sieburg. Der Unterschied zu unserer Zeit, der am meisten ins Auge fällt, sind Bedeutung, Rangfolge und Sprunghaftigkeit von Untergangslust und Katastrophendiskurs. Die Ängste ähneln und überlappen sich, zuweilen verschwimmen sie geradezu ineinander, doch die Gegenstände der vagabundierenden Projektion wechseln immer schneller und abrupter. Freudianisch gesprochen: Die Objekte sind austauschbar, nur die Besetzungsenergie bleibt gleich.

    Selten in der jüngsten Geschichte hat sich die Abfolge der medial gestützten MegaHypes derart rasant entwickelt wie in den ersten Monaten des Jahres 2011. Als hätte ein wirrer deus ex machina Regie geführt, jagten sich die aufregenden Ereignisse im Wochentakt. Selbst aufmerksamen Zeitgenossen fällt es da schwer, den Überblick zu behalten, Wichtiges von Unwichtigem, Historisches von Anekdotischem, Substanzielles von Kokolores zu trennen.

    Gerade das publizistisch-journalistische Rudelphänomen, die atemraubende Schwarmbildung der medialen Aufmerksamkeit, sorgt zuverlässig dafür, dass tagelang jeweils nur ein Großthema auf der Agenda steht und so lange durch den Fleischwolf der Event- und Skandalgesellschaft gedreht wird, bis nur noch unverdauliche Einzelteile auf dem Komposthaufen des gerade Vergangenen zurück bleiben. Wenige Wochen später weiß kein Mensch mehr, um was genau es eigentlich gegangen ist. Oder erinnern Sie sich noch an die befremdlichen Äquatorrituale auf der Gorch Fock und ihren angeblich so brutalen "Horror-Kapitän"?

    Vergegenwärtigen wir uns also noch einmal kurz, was bisher geschah: Am Beginn des Jahres tauchte das Dioxin-Ei auf, genauer: gepanschtes Futtermittel eines kriminellen Großhändlers. Im Handumdrehen wurde daraus der "Dioxin-Skandal", in dessen Mittelpunkt unversehens Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner stand. Die konnte jedoch am allerwenigsten dafür, wurde aber von ihrer grünen Vorgängerin Renate Künast und einem Großteil der Medien gnadenlos attackiert. Motto: Hilfe, wir werden vergiftet! Rette sich, wer kann. Selbst Bio-Eier waren kurzzeitig unverkäuflich, und wieder einmal fragten besorgte Bürger, was man überhaupt noch essen könne in diesem verseuchten Land.

    Wie immer wurden "strengere Kontrollen", neue Auflagen, gar neue Gesetze, am besten gleich eine ganz neue Landwirtschaft weltweit gefordert. Ilse Aigners Stellung wankte schon bedenklich, als ihr die famose Gesine Lötzsch zu Hilfe kam. Noch während das Gift im Futtermittel gärte, hatte sie ein ideologisch faules Ei ins Nest ihrer Partei gelegt: Es gebe viele Wege zum Kommunismus, schrieb die Linksparteichefin in schönster Unbefangenheit, man müsse sie nur mal richtig ausprobieren. Einige Spaßvögel kommentierten schon: Na dann viel Glück bei der Suche!

    Aber selbstverständlich, die Mediengesellschaft, allzu oft selbst eine absurde Veranstaltung, versteht keinen Spaß. So brach, ganz im Ernst, eine "Kommunismus-Debatte" aus, über 57 Jahre nach Stalins Tod und zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches. Vor allem den alten Recken deutscher PolitDebatten war es zu verdanken, dass das ebenso hirn- wie geschichtslose Kokettieren mit einer blutig gescheiterten Ideologie einigermaßen rasch als lächerliche Farce abgehakt werden konnte.

    Während der Landweg zum Kommunismus also schon wieder abgeschnitten war, kam über den Seeweg Kunde vom nächsten Skandal:

    "Tödliche Schikane auf der Gorch Fock!"

    Auf dem Segelschulschiff der Bundesmarine war bereits am 7. November 2010 eine Kadettin aus der Takelage tödlich abgestürzt, doch erst jetzt wurde öffentlich nach der Ursache des Unglücksfalls gefragt. Tag für Tag wurden gerüchteweise neue Ungeheuerlichkeiten - von sexuellen Übergriffen bis zu systematischer Schleiferei - verbreitet, und so dauerte es nur wenige Tage, bis die Lieblingsschlagzeile aller Online-Profis einen ersten Schlussakkord setzte:

    "Guttenberg gerät immer mehr unter Druck"

    Und wer "immer mehr unter Druck" gerät, der ist schon schwer angezählt.

    Geöffnete Feldpostbriefe und ein weiterer Unglücksfall der Bundeswehr in Afghanistan komplettierten die von BILD kräftig angeheizte Gemengelage, so dass dem damaligen Verteidigungsminister nur die Flucht nach vorn blieb: Er suspendierte den Kapitän der Gorch Fock, ohne ihn überhaupt angehört zu haben.
    Ein nachhaltiger Befreiungsschlag war das freilich nicht, die richtigen Guttenberg-Festspiele sollten erst noch kommen. Zwischendurch hatte es immerhin allerlei Gelegenheit gegeben, bei spätrömischen Spielen - apropos: Wer erinnert sich noch an Westerwelles post-ciceronische Dekadenz-Theorie? - ein bisschen Psycho-Dampf abzulassen. Rund um "Nerv-Natter" Sarah aus dem RTL-Dschungelcamp hatte sich eine millionenstarke Erregungsgemeinschaft gebildet, während Altkommunarde Rainer Langhans durch stundenlanges, regungsloses Liegen unter grünem Blattwerk versuchte, einer authentischen Todeserfahrung nahezukommen.

    Selbst der schier unendliche Parteienstreit um die Neuregelung von Hartz IV reichte emotional nicht ganz an die Frage heran, ob die romantische Dschungel-Liaison zwischen Indira und Jay Khan wahrhaftigen Gefühlen entspringe oder nur eine abgekartete Medieninszenierung sei. Immerhin hatten die Dschungelkämpfer ein moralisches Problem schon gelöst, das zeitgleich zum nächsten Medienhype avancierte: Was darf ich essen und was nicht, wenn ich ein wirklich guter Mensch sein will?! Denn abgesehen von Känguruhoden, Rattenleber und Mehlwürmern gab es sowieso kaum etwas Handfestes zu beißen für die von der australischen Wildnis gepeinigten RTL-Kandidaten.

    Im Rest der Republik aber erhob sich nach dem gigantischen Rummel um Karen Duves Bestseller Anständig essen, das deutsche Pendant zu Jonathan Safran Foers Mahnfibel Tiere essen, eine geradezu flagellantenhafte Bekenntniswut. Alles musste "auf den Prüfstand", Butter, Käse, Milch und Eier inklusive. Plötzlich tönte es überall:

    "Ja, auch ich habe gesündigt! Nie wieder Currywurst, es lebe das Fallobst von des Nachbarn Streuwiese!"

    Die Talkshows wimmelten nun vor passionierten Salat- und Gemüseessern, und wer sich jetzt noch arglos ein Jägerschnitzel bestellen wollte, dem war nicht mehr zu helfen. Das ARD-Kulturmagazin ttt verstieg sich sogar zu der These:

    "Anständig leben heißt anständig essen."

    Das hätte dem Führer, bekennender Vegetarier, gut gefallen. Darauf hätte er mal kommen sollen: Volk ohne Fleisch.

    Bertolt Brecht aber hätte seine berühmte Zeile aus der Dreigroschenoper "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral" noch mal einmal unter ökologisch-veganischen Gesichtspunkten überarbeiten müssen.

    Eine ganz andere moralische Frage schnellte urplötzlich wie Loch Ness aus den aufgewühlten Wassern: Kann man anständig leben, gar Minister, Ersatzkönig und geliebter Volksheld sein, wenn man seine Doktorarbeit großenteils abgeschrieben hat? Nach zwei Wochen eines kaum je erlebten medialen Ausnahmezustands, der an den Rand eines geistigen Bürgerkriegs zu führen schien, setzte sich am Ende doch die Mehrheitsmeinung durch: Nein, das kann man eigentlich nicht! Noch am 1. März hatte BILD online gebarmt:

    "Der Druck auf Bundesverteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg (CSU) in der Doktor-Affäre hält an: Die gesamte deutsche Opposition fordert den Rücktritt des Ministers. Der Bundestag höhnt. Führende Wissenschaftler glauben dem Minister nicht, dass er unwillentlich Fehler gemacht hat. Seine Uni Bayreuth prüft jetzt, ob zu Guttenberg womöglich bewusst getäuscht hat."

    So ging der Kanzler der Herzen ins innerfränkische Exil, während in Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Bahrein und Syrien das Volk den Aufstand gegen seine verhassten Herrscher probte. Ein echter Realitätsschock für die online vernetzte Talkshow-Republik, ein Mega-Input für den öffentlich zelebrierten Nervenkitzel. Die Revolutionen in den nordafrikanischen Maghreb-Staaten markierten einen so unwahrscheinlichen und tatsächlich sensationellen Einbruch der Wirklichkeit ins Reich der virtuellen Erregungsgesellschaft, dass nicht nur die Politik, sondern auch die Medien Tage oder Wochen brauchten, um sich halbwegs zu sortieren. Das hatte es lange nicht gegeben: Wahrhaft historische Ereignisse, während hierzulande gerade über die angebliche "Feigheit der Frauen", "Islamophobie" und Margot Käßmanns Comeback als "Moral-Promi" diskutiert wurde.

    Die japanische Erdbeben-, Tsunami- und Atomkatastrophe war der endgültige Beweis, dass der Schrecken in der Welt ist - auch ohne Dramatisierung, Skandalisierung und Emotionalisierung. Doch siehe, nicht die Zehntausenden Toten und das schier unvorstellbare Ausmaß der Verwüstung in Nordjapan standen im Mittelpunkt der hiesigen Berichterstattung, sondern der befürchtete Super-GAU in Fukushima.

    Kein Missverständnis: Das Risiko großräumiger Verstrahlung war und ist real, aber die deutschen Reaktionen knapp zehntausend Kilometer entfernt folgten einer anderen Logik als der einer konkreten Gefahrenabwehr und kluger Vorsorge. Vorherrschend waren Reflexe, die mehr mit der Angstlust am Untergang und der Konstruktion eines prospektiven Opferstatus zu tun hatten als mit politischer Reflexion. In diesem Sinne war es auch nur konsequent, dass die schwarzgelbe Bundesregierung dieser gefühlten Bedrohungslage nachgab und ihre Haltung zur Atomenergie binnen Stunden um 180 Grad wendete. Argumente, die jahrzehntelang Geltung beanspruchten, waren nun nichts mehr wert - jedenfalls nicht vor der entscheidenden Landtagswahl in Baden-Württemberg. Auch im Falle Libyen entpuppte sich das eben noch treu transatlantische Duo Merkel/Westerwelle als überzeugtes Pazifisten-Pärchen, dessen plötzlicher Sinneswandel von Lafontaine und Gysi dankbar begrüßt wurde - jedenfalls vor der Wahl.

    All das kann uns nicht wirklich erstaunen. Die dauererregte, sich immer schneller drehende Mediengesellschaft verschärft den Trend zu einer Stimmungsdemokratie, die im Abstand von zwei Mausklicks auf Veränderungen der Lage reagiert, vielleicht reagieren muss - einer Lage, die durch all die simulierten Dramen überhaupt erst entstanden ist. Eine "geisterhafte Wirklichkeitsverdünnung" nannte dies Dietrich Schwanitz einmal, und tatsächlich scheint die greifbare Realität in dem Maße zu entschwinden, wie sie zur "Hyperrealität" mutiert, um einen Begriff von Jean Baudrillard zu verwenden, zur Konstruktion und Simulation von Realität.

    Und hier liegt des Pudels Kern: Die durchgehende Emotionalisierung der Öffentlichkeit, die online rund um die Uhr und praktisch in jeder Sekunde mobilisierbar ist, reduziert den strukturellen Abstand zwischen dem vermeintlichen Ereignis und seiner Verarbeitung - sowohl räumlich als auch zeitlich. Daher schwingen große Teile der Gesellschaft längst im Liveticker-Rhythmus, das heißt, im Alarmmodus einer Echtzeit-Kommunikation, in der das Reiz-Reaktionsschema wichtiger ist als die Parameter vernünftiger Entscheidungsprozesse. Kein Wunder, dass die Bundeskanzlerin vorwiegend per SMS kommuniziert: Das Online-Regieren ist der Reflex auf die Online-Öffentlichkeit.

    Das klassische "Nach"-Denken wird naturgemäß immer seltener, wenn sich die Ereignisse und ihre kaskadenhafte Überbietungslogik derart überschlagen, dass gar keine Zeit mehr ist, sich der Situation in Ruhe und von allen Seiten her zu stellen. Ein abwägender Diskurs, in dem Argumente unabhängig von Augenblicksstimmungen vorgebracht und bewertet werden, kann so erst gar nicht entstehen. Paradoxerweise wird aber gerade dann von "Denkpause" und "Moratorium" gesprochen, wenn jede tiefere Tätigkeit des Geistes eingestellt worden ist.

    Was unmittelbar aus diesem Zusammenspiel von forcierter Mediengesellschaft und Stimmungsdemokratie folgt, ist ein fortschreitender Verlust der allgemeinen Urteilsfähigkeit. Hin und her gerissen von Gefühlen, Ängsten und Sehnsüchten, vom Dauersturm des publizistischen Online-Alarmismus, wird es auch nachdenklichen Zeitgenossen immer schwerer, den sprichwörtlichen "kühlen Kopf" zu bewahren.
    Die Sklerotisierung der Öffentlichkeit beschwört zudem die Gefahr herauf, dass die kritische Selbstwahrnehmung der Gesellschaft geschwächt wird. "Kritisch" bedeutet aber gerade nicht, sich dem medialen Dauerbeschuss mit bad news und Worst-Case-Szenarien hinzugeben, wie es beispielhaft während der Finanzkrise 2008 zu beobachten war. Vielmehr geht es um einen nüchternen, realistischen Blick, der positive und negative Aspekte kritisch gegeneinander abwägt und gerade damit den eigenen Handlungsraum erweitert.

    So läuft die Republik Gefahr, sich selbst dümmer zu machen als sie ist.
    Nur einer darf noch, wenn auch in großen Abständen, öffentlich und in aller Ruhe über die wirren Zeitläufe reden, was er wirklich denkt; selbst für das eine oder andere Zigarettchen ist Zeit: Helmut Schmidt.

    Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Sandra Maischberger, führende Betriebsnudel des Medien-Karussells, liefert dem Altkanzler die Stichworte.

    Natürlich ist auch das eine Inszenierung. Ein Stück aus dem Museum der alten Bundesrepublik - und eine Erinnerung an damals, als die Regierung noch eine wochenlange Nachrichtensperre verhängen konnte.