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Opferschutz
Kindesmissbrauch sensibel aufklären

Kinder und Jugendliche, die sexuell missbraucht wurden, müssen sich oft vielen schwierigen Befragungen durch Polizei, Jugendamt und Justiz stellen. Aus Angst vor diesen Prozeduren erstatten viele Opfer gar nicht oder sehr spät Anzeige. Durch einen neuen Ansatz soll sich das ändern.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 04.10.2018
    Eine Testperson sitzt in einem Erstaufnahmeraum mit Videoüberwachung im neuen Kinderschutzzentrum der Childhood-Stiftung in Leipzig
    Herzstück der Childhood-Häuser ist ein kleines Zimmer, in dem nur die befragende Person mit dem Kind sitzt. Eine Videokamera überträgt das Gespräch ins Nachbarzimmer, wo andere Prozessbeteiligte zuhören. Ziel ist, die Zahl der Befragungen zu verringern. (picture alliance/ dpa/ Jan Woitas)
    Im Mai 2016 übernachtet ein sieben Jahre altes Mädchen bei seinem Stiefgroßvater. Am nächsten Tag lässt es sich überstürzt von der Mutter abholen. Nachdem Ärzte im Krankenhaus Verletzungen im Analbereich feststellen, muss das Kind zahlreiche Vernehmungen durch eine Polizistin, einen Kriminalbeamten und das Jugendamt über sich ergehen lassen. Vor einem Jahr erst wird gegen den Stiefgroßvater Anklage wegen schweren sexuellen Missbrauchs erhoben. Rechtsanwältin Ellen Engel, die das Kind vertritt, kritisiert die vielen Befragungen und die lange Verfahrensdauer:
    "Wir haben jetzt September 2018 und vor Kurzem ging halt hier ein Beschluss ein, dass das Kind jetzt sich einer Glaubwürdigkeitsbegutachtung zu unterziehen hat. Wir haben hier ein neunjähriges Mädchen, was möglicherweise irgendwann in einer Gerichtsverhandlung nochmal Rede und Antwort stehen muss. Wir haben inzwischen seit der Tat einen Zeitablauf von über zwei Jahren. Ob sich das Kind noch erinnern wird dann, und an was es sich erinnern wird, ist die große Frage."
    Verbesserungsbedarf bei Ermittlungsverfahren
    Nach Ansicht der früheren Staatsanwältin müssten die Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Kindesmissbrauchs deutlich verbessert werden. Eigentlich sollen Jugendschutzverfahren laut Gesetz bevorzugt behandelt werden. Doch die Praxis zeugt vom Gegenteil, sagt Ellen Engel – und das ist nur einer der Kritikpunkte:
    "Leider ist es in allen Fällen, die ich bislang bearbeitet habe, so, dass die Bearbeitungszeit unheimlich lang ist. Die Wege sind lang. Es gibt bislang keine Koordinierung zwischen den unterschiedlichen Stellen, die befasst sind. In Berlin fängt es gerade an, dass die Gewaltschutzambulanzen mit den Polizeibehörden sich ein bisschen vernetzen, dass es da Kommunikation gibt. Aber da stehen wir in Berlin in den Anfängen. Auch im übrigen Bundesgebiet sieht es nicht so gut aus."
    Als Schritt in die richtige Richtung bezeichnet die Anwältin deshalb das bundesweit erste "Childhood-Haus", das vor wenigen Tagen in Leipzig eröffnet wurde. Eine Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, die von sexueller Gewalt betroffen sind oder bei denen dieser Verdacht besteht. Eine Adresse, mit der die Uniklinik kooperieren will, an die sich aber auch Kinderärzte und Jugendämter aus Leipzig und Umgebung wenden können.
    Neues Kinderschutzzentrum der Childhood Foundation
    Nichts soll hier an ein Krankenhaus, an Gericht, Polizei oder Jugendamt erinnern. Die Räume sind hell und bunt gestaltet. Das Childhood-Haus lehnt sich an das skandinavische "Barnahus"-Modell an, ähnliche Einrichtungen existieren bereits in Island, den USA und Brasilien, erzählt Andrea Möhringer, Geschäftsführerin der World Childhood Foundation Deutschland, einer privaten Stiftung:
    "In Zukunft wird es so sein, dass die Ärzte, wenn ein Kind untersucht werden muss, wird das alles im Childhood-Haus passieren. Es wird eine Koordination geben, die Personen, sei es Jugendamt, sei es Polizei, sei es Richterinnen oder Richter, kommen dann ins Childhood-Haus, wenn das Kind dort ist. Da wird ein Termin ausgemacht und dann wird mit dem Kind dort gearbeitet."
    Herzstück der Childhood-Häuser ist ein kleines Zimmer, in dem nur die befragende Person mit dem Kind sitzt – wenn Anzeige erstattet wurde, die Polizei, wenn der Fall vor Gericht kommt, ein Richter oder eine Richterin. Eine Videokamera überträgt das Gespräch ins Nachbarzimmer, wo Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Verfahrensbeistand zuhören und weitere Fragen stellen können.
    Kindgerechte Befragung und Aufarbeitung
    Ziel ist, die Zahl der Befragungen zu verringern, sagt Andrea Möhringer. Es geht um eine kindgerechte Justiz:
    "Nämlich in einer würdevollen und respektvollen Art und Weise mit dem Kind umzugehen. Und wichtig ist eben aus der Sicht von unserer Stiftung, der World Childhood Foundation, dass man auf Augenhöhe mit dem Kind spricht und das Kind ein Recht darauf hat, dass die Menschen, die es dann befragen, sei es die Polizei oder sei es die Richterschaft, dass sie das in einer kinderfreundlichen Art und Weise tun. Dass es Spezialisten sind, die ausgebildet sind, das Kind zu befragen und dass die auch wissen, was sie da tun."
    Ein ähnliches Anliegen verfolgt auf Bundesebene die "Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs", die 2016 ins Leben gerufen wurde. Die Anhörung von Betroffenen zeigte, dass die meisten weder im Kindes- noch im späteren Erwachsenenalter Anzeige erstatten. Grund dafür ist, dass sie lange, belastende Verfahren befürchten - nicht zuletzt, weil die meisten Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden für das Thema nicht qualifiziert und sensibilisiert sind, berichtet die Vorsitzende Sabine Andresen. Allerdings sei auch nach dem Schweigen der anderen zu fragen:
    "Also warum sind die Erwachsenen nicht in der Lage gewesen, Kindern zuzuhören, ihnen zu helfen, den Missbrauch zu unterbinden? Und das ist eine Aufgabe von Aufarbeitung, dass klar wird, wie wichtig es ist, dass Erwachsene Kindern und Jugendlichen zuhören, dass sie sich auskennen mit den Täterstrategien, mit Folgen sexuellen Kindesmissbrauchs. Und dass sie vor allen Dingen wissen, an wen sie sich wenden können, um selbst Unterstützung zu bekommen."
    Um auch auf Behördenseite mehr Sensibilität zu erreichen, hat die Kommission kürzlich empfohlen, Polizei und Justiz regelmäßig fortzubilden und die Ressourcen in Kompetenzzentren für sexuellen Missbrauch zu bündeln. Ähnlich wie im Childhood-Haus könnten neue Schwerpunktstaatsanwaltschaften und -gerichte Kinder und Jugendliche per Videoaufnahme vernehmen und ihnen damit ersparen, wiederholt aussagen zu müssen.