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Organspende
"Hirntote sind sterbende Menschen"

Wenn der Ausfall der gesamten Hirnfunktionen eine Rückkehr ins Leben ausschließt, dürfen Organe entnommen werden. Die Medizinhistorikerin Anna Bergmann kritisiert das Hirntotkriterium. Diese zweckorientiere Todesvereinbarung setze die Medizin auf eine schiefe Bahn, sagte sie im Dlf.

Anna Bergmann im Gespräch mit Benedikt Schulz | 05.09.2018
    Eine Frau zeigt im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein einen Organspendeausweis
    Eine Frau zeigt im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein einen Organspendeausweis (Axel Heimken / dpa)
    Benedikt Schulz: Wir haben gerade eben über das Thema Organspende berichtet und dabei vor allem auch die Perspektiven derjenigen einbezogen, die im Alltag davon betroffen sind, nämlich Ärzte und Krankenpfleger. Und auch, dass die mangelnde Bereitschaft, Organe zu spenden, natürlich auch etwas mit der Organisation dieser Transplantationen zu tun hat. Aber es ist nicht nur die praktische Seite; es ist auch die Frage, wann ist der Mensch tot, die viele verunsichert. In Deutschland und auch in anderen Gesellschaften gibt es einen gewissen Konsens darüber, dass der sogenannte Hirntot das eindeutige Zeichen dafür ist, dass der Mensch eben tot ist oder – etwas präziser formuliert – wenn der unumkehrbare Ausfall der gesamten Hirnfunktionen eine Rückkehr ins Leben ausschließt. Allerdings, diese Diagnose ist ziemlich schwer zu begreifen, nicht nur für Nicht-Experten, denn der hirntote Körper lebt ja weiter und atmet auch. Wann ist der sterbende Mensch also tot. Diese Frage soll uns im Folgenden beschäftigen.
    Wir sprechen mit Anna Bergmann, Medizin- und Kulturhistorikerin von der Europauniversität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Sie beschäftigt sich seit den 90er Jahren aus kulturhistorischer Perspektive mit dem Thema Organtransplantation, hat dazu viele Interviews geführt mit Organspenderfamilien, Organempfängern, und auch mit Transplantationsmedizinern. Frau Bergmann, ich grüße Sie, hallo.
    Anna Bergmann: Ja, guten Tag.
    Schulz: Der Tod ist erstmal eine Metapher, schwer zu definieren, zumindest mit medizinischem Rüstzeug. Aber wann ein Mensch tot ist, das wird ja medizinisch definiert. Frau Bergmann, wann ist der Mensch tot und wer entscheidet das?
    Bergmann: Jahrtausende galt jemand als tot, wenn er sich in eine Leiche verwandelt hat, was dann sinnlich erkennbar war oder es heute auch ist. Denn wir haben diese Todesdefinition nicht aufgegeben, dass nach dem Atem-Herzstillstand sich die Totenflecke einstellen, der Tote blass wird und die sinnliche Wahrnehmung eines Toten für alle irgendwie erkennbar war. Die Hirntot-Definition hat die Todesdefinition vorverlegt und behauptet eben, dass es sich nicht mehr um einen sterbenden, sondern bereits um einen toten Menschen handelt, wenn die Gehirnfunktion ausgefallen ist.
    Das ist das große Problem, dass eben daraus nicht nur das Erscheinungsbild eines Hirntoten ein völlig anderes ist als das eines Herztoten, sondern mit der Organtransplantation verbunden ist dann ja auch die weiterhin erfolgende Pflege und medizinische Kontrolle des sogenannten Hirntoten. Ich ziehe das Wort eines "hirnsterbenden Menschen" vor. Es wird Blutdruck gemessen, also die sogenannten Vitalzeichen wie Puls, Blutdruck, Atemfrequenz werden weiterhin gemessen und dokumentiert. Der sogenannte Hirntote wird weiterhin gepflegt medizinisch und er wird gewaschen und all das wird ja weiterhin praktiziert für den Zweck der Organentnahme. Die klassischen Todeszeichen stellen sich erst auf dem Operationstisch durch medizinisches Handeln ein, sodass der Hirntote sich in eine Herztotleiche auf dem Operationstisch verwandelt.
    "Es wird ein ganz wesentlicher Grundsatz der Ethik verletzt"
    Schulz: Würden Sie denn dann soweit gehen, zu sagen, dass der Hirntote jemand ist, der im Sterben liegt und durch die Organentnahme getötet wird?
    Bergmann: Das haben Sie jetzt so gesagt. Auf alle Fälle würde ich sagen, dass es sich um einen sterbenden Menschen handelt, der für Zwecke Fremder auf eine bestimmte medizinische Weise vorbereitet wird für eine sehr, sehr große Operation. Es wird auch die Diskussionen auf internationaler Ebene, aber auch in Deutschland geführt, dass hier das Tötungstabu berührt wird, dass hier das Leichenschändungstabu berührt wird, also wenn es zum Beispiel um die Gewebeentnahme geht, die ja erst nach dem Herzstillstand erfolgt. Da werden dann auch noch Augen, Hornhaut, bis hin zu Haut entnommen werden kann, Gehörknöchelchen, Meniskus und so weiter und so fort. Es wird ein ganz wesentlicher Grundsatz der medizinischen Ethik verletzt, die davon ausgeht, dass der zu behandelnde Arzt ausschließlich zum Wohl des Patienten, mit dem er zu tun hat, zu handeln hat. Diese drei Aspekte, die werden durch die Hirntoddefinition völlig verschluckt, in dem dann auch auf den Organspendeausweisen nur eine Formulierung steht wie 'für den Fall, dass nach meinem Tod eine Spende von Organen, Geweben für Transplantationen in Frage kommt und so weiter und so fort.
    Also hier wird eine Todesvorstellung suggeriert, die so auf jeden Fall falsch ist. Wenn Sie mich nach der Tötung fragen: Auf internationaler Ebene wie zum Beispiel von einem sehr renommierten Professor für Bioethik, Robert Truog, der spricht von 'Justified Killing', ganz klar, und sagt, dass Hirntote nicht tot sind, das ist medizinisch mittlerweile sehr vielfältig bewiesen. Aber trotzdem geht er davon aus, dass hier dann eine Tötung gerechtfertigt wäre, um das Leben anderer Menschen zu retten.
    Schulz: Trotzdem; die Definition des Hirntods geht ja davon aus, dass es eben einen Point of no return gibt, von dem aus die Wiederherstellung, ins Leben zurückzugehen, als bewusste Person nicht mehr möglich ist. Wie viel toter kann man denn dann noch sein?
    Bergmann: Aber ein Sterbender ist noch nicht tot, ganz einfach. Der Mensch, der im Sterben liegt und eine schwere Krankheit hat, bei dem versucht man seinen Sterbeprozess zu begleiten, ihm die Hand zu halten. Und gerade die Hospizbewegung hat ja sehr stark reagiert auf diesen Tod im Krankenhaus. Also das heißt, es gibt auch ein Bedürfnis, nach dieser Sterbebegleitung, die hier traditionell sehr stark verankert war und ist in unserer Kultur. Durch diese medizinische Definition wird das Sterben als ein soziales Ereignis komplett verneint und wird nur noch für einen medizinischen Prozess erklärt, für den dann ausschließlich bestimmte Mediziner zuständig sind in der Hirntodfeststellung, die auch wieder ihre eigenen Problematiken hat.
    Todesdefinition exklusiv für Transplantationsmedizin
    Schulz: Jetzt haben Sie gerade gesagt, das Sterben ist ein soziales Ereignis oder auch ein sozialer Prozess. Aber dieser Prozess ist auch nichts mehr als eine historisch gewachsene Praxis, die nicht grundsätzlich in Stein gemeißelt ist. Es kann durchaus sein, dass es irgendwann der rituellen Praxis weicht, dass der sterbende Mensch rituell etwas hinterlassen möchte, das für andere Menschen ermöglicht, oder würden Sie das in Abrede stellen?
    Bergmann: Ich stelle das nicht in Abrede, aber man muss auch genau präzise darüber aufgeklärt werden, über diese Kompliziertheit dieser Hirntodvereinbarung, die überall eben nicht einheitlich praktiziert wird. Zum Beispiel habe ich in Österreich interviewt, da wird komplett auf den Stich in die Nasenwurzel bei der Hirntodfeststellung verzichtet; wahrscheinlich, weil das auch ein schwieriger Akt ist für einen behandelnden Arzt, so aggressiv mit einem Komapatienten umzugehen. In Deutschland ist es absolute Vorschrift, dass zwei Mal in die Nasenwurzel gestochen wird, um diese Hirntoddiagnostik überhaupt verifizierbar zu machen. In England gibt es nur die Prüfung des Hirnstamms, da wird komplett auf visuelle Darstellungen verzichtet.
    Schulz: Gibt es denn aus Ihrer Sicht eine andere Möglichkeit, das Tot-Sein zu definieren, so zu definieren, dass die Entnahme von Organen zum Zweck der Organtransplantation möglich ist oder ist schließt sich das aus?
    Bergmann: Ich denke, dass diese zweckorientiere Todesvereinbarung von vorneherein die Medizin auf eine schiefe Bahn setzt. Das verbietet sich eigentlich in der medizinischen Ethik, einen Patienten für das Überleben, für die Therapie eines anderen zu instrumentalisieren. Diese Todesdefinition ist auf alle Fälle von vorneherein historisch eine instrumentalisierte Todesdefinition, die exklusiv für die Bedürfnisse der Transplantationsmedizin zugeschnitten wurde.
    Der Mensch in seiner Ganzheit
    Schulz: Auf der anderen Seite ist der Mensch zur Hilfeleistung verpflichtet gesetzlich und moralisch, natürlich nicht auf Kosten des eigenen Lebens, klar. Aber wenn Sie den moralischen Problemen, sozusagen dieser Hirntoddiagnostik, die lebensverlängernden Vorteile von Organtransplantation entgegenhalten - ist der Verzicht auf Transplantationsmedizin nicht mindestens ebenso ethisch problematisch?
    Bergmann: Sie unterstellen einen absoluten Automatismus, dass, wenn ich Organe entnehme, dass Sie gleichzeitig, also automatisch, das Leben eines anderen Menschen retten. Hier spielt ja auch die Transplantationsmedizin nicht mit offenen Karten. Sie veröffentlicht ja nicht die Zahlen der Überlebensstatistiken von Organempfängern, deren Leben besonders bedroht ist in diesem ersten Jahr nach der Transplantation, da haben wir ja die höchsten Sterberaten. Diesen Menschen wir dann ja auch wiederum die Vorbereitung auf einen anderen Tod, auf ein anderes Sterben genommen, weil sie sich ausschließlich nur noch in der transplantationsmedizinischen Betreuung befinden, die von vornherein so angelegt ist, dass sie nicht heilend wirkt - also die Transplantationsmedizin ist ja keine heilende Therapie –, sondern der Versuch, einem todkranken Menschen noch eine Lebensperspektive zu geben.
    Ein Mann in grüner OP-Kleidung trägt einen Styropor-Behälter für den Transport von Spenderorganen an einem Operationssaal vorbei.
    Ein Spenderorgan wird in ein Transplantationszentrum transportiert (dpa / Soeren Stache)
    Und das heißt, also hier wird tagtäglich das Immunsystem außer Kraft gesetzt, weil unser Körper für eine Organtransplantation überhaupt nicht gemacht ist. Wenn Sie zum Beispiel einen Schiefer in den Finger bekommen, dann fängt Ihr Körper an, diesen Schiefer auszustoßen mit Eiter. Dasselbe passiert ja bei einer Organtransplantation. Und dieser Mechanismus muss wiederum überwunden werden. Das heißt, die Transplantationsmedizin stellt eine Technologie dar, die versucht, unsere leibliche Wirklichkeit zu überwinden und letztendlich – und deswegen ist sie wahrscheinlich auch in ihrem Image so erfolgreich – den Tod überwindbar zu machen. Und da steckt auch meines Erachtens ein Unsterblichkeitsphantasma inne.
    Schulz: Würde es für Betroffene dann besser sein, das Sterben auch in seinen sozialen, persönlichen Konsequenzen zu akzeptieren?
    Bergmann: Was ich für ganz wesentlich halte ist, dass wir eine Forschung in Gang setzen, die versucht, den Menschen in seiner Ganzheit als Ausgangspunkt zu nehmen und nicht den Körper wie eine Maschine versuchen, einfach durch Organaustausch zu verbessern, weil das unserer leiblichen Verfasstheit nicht entspricht. Wir haben ein ganz bestimmtes Körpermodell, das dieser Heilmethode zugrunde gelegt ist. Und wir wissen, es gibt jetzt sehr viele naturheilkundliche Methoden, die immer mehr auch in die moderne Medizin dringen, die sich gerade von diesem organzentrierten mechanistischen Körpermodell verabschieden.
    "Flucht aus der leiblichen Wirklichkeit"
    Schulz: Bislang findet Organtransplantation auf einem relativ niedrigen Level statt. Wie wird sich das Sterben Ihrer Meinung nach - also die Umwandlung des Sterbenden in einen Toten – wie wird sich das entwickeln in unserer Gesellschaft, wenn Organtransplantation trotz alledem normaler, alltäglicher und gewöhnlicher wird?
    Bergmann: Ich denke, das ist ein Phantasma, dem hier hinterhergelaufen wird. Sie gehen jetzt davon aus, dass es immer mehr zur Routine wird und die Transplantationsmedizin sich immer mehr zu einer gängigen Heilmethode entwickelt. Davon gehe ich nicht aus. Weil, wie gesagt, ich möchte nochmal betonen, es ist eine Flucht aus unserer leiblichen Wirklichkeit, weil es den Versuch darstellt, unsere lebenswichtige, natürliche Immunabwehr zu unterdrücken. Und das ist auch das Problem der Transplantationsmedizin, also warum sie nach wie vor – ich würde sagen – in einer experimentellen Phase steckt, weil hier ganz viele Probleme noch nicht gelöst sind und die Nebenwirkung dann, wenn ein Mensch länger lebt durch eine Transplantation, er gefährdet ist, an Krebs zu erkranken. Das ist eine ganz klassische Nebenwirkung der Transplantationsmedizin. Und sie muss mit gentechnologischen Mitteln arbeiten, also die Gentechnologie spielt hier auch eine große Rolle, zum Beispiel in der Entwicklung der Immunsuppressiva. Und ich gehe nicht davon aus, dass die Transplantationsmedizin jemals diese Dimension bekommt, die sie verspricht.
    Schulz: Sagt Anna Bergmann. Sie ist Medizin- und Kulturhistorikerin an der Europauniversität Vie Viadrina in Frankfurt an der Oder und sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Organtransplantation aus kulturhistorischer Perspektive. Frau Bergmann, vielen herzlichen Dank.
    Bergmann: Ja, ganz herzlichen Dank auch meinerseits.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.