"Es gibt dieses arabische Sprichwort: Ein Jahr in Jerusalem ist wie zwei Jahre woanders. Ich glaube, das ist genau: das fängt das ein. Jerusalem ist einfach intensiv, komplett unfähig zum Smalltalk und wirklich eine Stadt ja, die wirklich vibriert."
Nikodemus Schnabel, groß gewachsen, stämmig, dunkler Vollbart, steht auf dem Kirchenturm der Dormitio-Abtei und schaut über die Stadt, die ihn nun schon so viele Jahre nicht mehr los lässt. Eine Stadt, die so vielen so viel bedeutet und um die in ihrer langen Geschichte immer wieder gerungen wurde.
Der Benediktiner-Mönch zeigt hinüber zum Zions-Tor, wo noch immer Einschusslöcher an die Kämpfe im Sechstage-Krieg 1967 erinnern. Jerusalem, sagt Nikodemus Schnabel, ist eine Stadt, die den Menschen, die in ihr leben, viel abverlangt.
"Das ist mehr als Zuneigung. Das ist Liebe. Also, ich bin in diese Stadt unsterblich verliebt, aber vielleicht bin ich mittlerweile - wie auch bei einer guten Liebe - schon längst über diese Verliebtheit hinweg, die alles (durch eine) rosarote Brille sieht, sondern ich sag mal, ich bin schon an der echten Beziehungsarbeit. Jerusalem ist so eine Stadt, die mich täglich küsst und beißt. Also, eine Stadt, die ich wirklich liebe, aber die auch manchmal unglaublich viel kostet, das muss man ehrlich sagen. Also, Jerusalem ist jetzt nichts für naive Romantiker, die sich dann irgendwie die Welt schön reden. Jerusalem ist einfach wirklich ungefilterte Realität."
Jerusalmer erster und zweiter Klasse
Eine Realität, die man vom Kirchenturm mit seinem 360 Grad-Blick über den jüdischen West- und den arabischen Ostteil der Stadt, gut erkennen kann. 50 Jahre nachdem israelische Truppen den Ostteil im Sechs-Tage-Krieg eroberten, ist Jerusalem eine Stadt mit unterschiedlichen Verhältnissen. Nikodemus Schnabel zeigt in Richtung der großen arabischen Wohnviertel östlich der Altstadtmauern.
"Und wenn man einfach fragt, ok wie bietet sich Jerusalem dar, muss man halt sagen, Jerusalem ist nicht gleich Jerusalem, sondern man kann natürlich ganz klar sehen: es gibt unterschiedliche Wohnverhältnisse, es gibt unterschiedliche Infrastrukturen; natürlich. Das ist auch eine Realität und natürlich ist es schon eine Frage, ob nicht eine Quelle von Konflikten und Spannungen auch die ist, dass halt Bewohner von Ostjerusalem sagen, naja es gibt halt Jerusalemer erster und zweiter Klasse."
Dann spricht der Benediktiner-Mönch Nikodemus Schnabel über die hohe Arbeitslosigkeit und die grassierende Armut unter der arabischen Bevölkerung und darüber, dass in unmittelbarer Nähe der Mauern der Dormitio-Abtei ein sozialer Brennpunkt liegt - der arabische Teil der Jerusalemer Altstadt.
Nicht weit vom Kloster beteten im Sommer Zehntausende Muslime auf der Straße. Sie weigerten sich, zum Gebet auf den Tempelberg mit der Al-Aksa-Moschee und dem Felsendom zu gehen. Israel hatte als Reaktion auf einen Terroranschlag im Juli, bei dem zwei Polizisten ermordet wurden, an den Zugängen zu dem Hügelplateau Metalldetektoren und Absperrgitter aufgestellt. Die Proteste gegen die Maßnahmen dauerten zwei Wochen und verliefen teils gewalttätig. Es gab Tote und Verletzte. Schließlich lenkte die israelische Regierung ein und nahm die Sicherheitsmaßnahmen zurück.
Sicherheit gegen Freiheit
Nikodemus Schnabel ist froh über die Beruhigung der Lage. Eine Prognose will er aber nicht wagen. Jerusalem ist unberechenbar, sagt der Mönch.
"Es gibt ein sehr ausgeprägtes Selbstmitleid. Eine sehr schwach ausgeprägte Selbstkritik. Und ich glaube, was es wirklich braucht ist also Verständnis für die Sehnsüchte der anderen. Das war bei der Tempelbergkrise eigentlich wirklich auch mal symptomatisch. Das fehlende Verständnis für das Sicherheitsbedürfnis der Israelis, aus dem das ja alles gespeist war von palästinensischer Seite. Und eben das fehlende Freiheitsbedürfnis der Palästinenser im Verständnis auf der israelischen Seite. Das war ja genau der Punkt, da kann man es genau wieder ablesen. Die einen wollen Sicherheit und denen ist dann gerademal die Freiheit vollkommen egal. Und die einen wollen Freiheit und denen ist die Sicherheit vollkommen egal. Und da sind wir genau beim Grundthema. Und das wird halt in verschiedenen Phasen durchdekliniert in dieser Stadt."
Von der Dormitio-Abtei sind es nur ein paar Fußminuten in die Altstadt. Mounir Nusseibeh macht Pause in einem Café unterhalb des Tempelberges, den die Muslime der Stadt Al Haram al Scharif nennen. Nusseibeh kommt gerne hierher. Sein Büro ist nicht weit entfernt.
Der Mittdreißiger hat im Ausland studiert - dauerhaft leben will er nur in Jerusalem. Wie schon der Mönch Nikodemus Schnabel, sagt auch Mounir Nusseibeh von sich, er sei in Jerusalem verliebt. Die enge Verbundenheit zu dieser Stadt liegt bei ihm sozusagen in der Familie.
Palästinenser: keine Bürger, sondern Residenten
"Die Nusseibeh-Familie ist eine der ältesten Jerusalems. Wir haben hier eine dauerhafte Präsenz seit dem 7. Jahrhundert, nur unterbrochen durch die Zeit der Kreuzfahrer. Eine wichtige Aufgabe, die wir seit Jahrhundert haben, ist das Öffnen und Schließen der Grabeskirche."
Seine Familie habe der Stadt Jahrhunderte gedient, erzählt Mounir Nusseibeh. Er habe das Gefühl, das auch tun zu müssen. Nusseibeh kennt den Alltag der Bewohner des arabischen Ostteils der Stadt sehr genau - aus juristischer Sicht. Er ist Anwalt und arbeitet in einem Büro, das die Al-Quds-Universität in der Altstadt betreibt.
Dort werden Rechtsberatungen angeboten und es gibt reichlich Bedarf. Dafür sorgt schon der rechtliche Status der Palästinenser, die in den Teilen der Stadt leben, die 1967 erobert wurden. Israel hat diese Viertel annektiert und das ungeteilte Jerusalem zu seiner Hauptstadt gemacht. Die Palästinenser im Ostteil aber sind sogenannte Residenten und keine Bürger, erklärt Mounir Nusseibeh.
"Der wichtigste Unterschied ist, dass einem der Status als Bürger nicht einfach entzogen werden kann und dass man politische Rechte hat. Ein Bürger kann sich an den Parlamentswahlen beteiligen. Ein Resident darf das nicht. Der größte Unterschied ist aber eben, dass der Residenzstatus widerrufen werden kann. Von 1967 bis heute hat Israel das Residenzrecht von mehr 14.500 Palästinensern in Jerusalem widerrufen."
Die Einwohner mit Residenz-Status dürfen zwar den Jerusalemer Stadtrat mitwählen. Von israelischen Parlamentswahlen sind sie aber ausgeschlossen. Wenn die Behörden daran zweifeln, dass die Betreffenden noch dauerhaft in Jerusalem leben, kann der Residenzstatus aufgehoben werden, was in der Praxis auch tatsächlich passiert. In diesen und anderen Fällen versucht Anwalt Mounir Nusseibeh zu helfen.
"Es kommen auch viele Eltern, denen es nicht gelungen ist, ihre Kinder als Residenten eintragen zu lassen. Vor allem Paare mit einem Partner aus dem Westjordanland oder aus Gaza haben dieses Problem. Wenn ein Resident von Jerusalem jemanden ohne Residenz-Status heiratet, bekommen die Kinder diesen Status nicht automatisch. Es ist ein langer Behördenweg erforderlich, um das Kind als Resident eintragen zu können."
Zu Nusseibeh und seinen Kollegen kommen auch Menschen, deren Häuser die israelischen Behörden abreißen wollen, weil sie ohne Baugenehmigung errichtet wurden. Nach israelischem Recht sind diese Bauten damit illegal. Allein im vergangenen Jahr wurden 200 Häuser arabischer Familien in Ostjerusalem abgerissen. Aus Sicht der Betroffenen hatten sie gar keine andere Wahl, als ohne Erlaubnis zu bauen, denn Baugenehmigungen für arabische Antragssteller sind in Ostjerusalem äußerst selten. Gleichzeitig werden die jüdischen Siedlungen im Ostteil der Stadt immer weiter ausgebaut.
Tempelberg-Proteste – ein Sieg der Straße
Mounir Nusseibeh war auch dabei, als viele Muslime in der Stadt gegen die Sicherheitsmaßnahmen an den Zugängen zur Al-Aksa-Moschee protestierten. Die Moschee ist für ihn das wichtigste Symbol palästinensischer Identität, sagt er. Wie viele Palästinenser glaubt auch er, dass die Metalldetektoren nur ein Vorwand waren und Israel schleichend die Kontrolle über das Hügelplateau übernehmen wollte, das von einer jordanischen muslimischen Stiftung verwaltet wird. Als Mounir Nusseibeh von den Protesten erzählt, davon wie Zehntausende auf den Straßen beteten und schließlich den Abbau der Detektoren durchsetzten, leuchten seine Augen.
"Es war ein Sieg der Straße. Da waren Leute, die in ihrem ganzen Leben noch nicht gebetet hatten und nun in den Straßen vor der Moschee beteten. Einige meiner Freunde zum Beispiel. Die Leute hatten verschiedene Gründe. Manche gehörten zu den Parteien und den politischen Führern. Die meisten aber nicht. Sie taten es, weil sie Jerusalem lieben. Und um zu schützen, was in Jerusalem wichtig ist."
Eine Bewegung der Straße. So beschreiben viele die Proteste der Muslime während der sogenannten Tempelbergkrise. Israel gab schließlich nach. Das hat den Menschen im Ostteil Jerusalems viel Selbstbewusstsein gegeben - Mounir Nusseibeh ist da nur ein Beispiel.
"Das gibt den Palästinensern ein Gefühl von Stärke. Sie haben gemerkt, dass sie keine Unterstützung brauchen. Dass sie auch selbst etwas erreichen können und keine lokalen Politiker dafür brauchen. Ja, ich glaube, das hat etwas in den Menschen verändert. Es muss sich noch zeigen, wie sich das auf künftige Auseinandersetzungen mit der Besatzungsmacht auswirkt. Aber ich denke, es ist bedeutend."
"Alles was wir wollen, ist unsere Würde"
Der Schneider Issa Qawasmeh sitzt in seiner Werkstatt in Sheikh Jarrah, einem arabischen Viertel außerhalb der Altstadt. Ruhig führt Issa die Nähte eines Kleides unter der Maschine hindurch. Der 55-Jährige ist ein Multitalent. Neben seinem Beruf als Schneider hat Issa mehrere kleine Novellen über das Leben in Jerusalem geschrieben.
Im Sommer war Issa zwei Wochen lang aber vor allem Fotograf. Während der Proteste gegen die Sicherheitsmaßnahmen an der Al-Aksa-Moschee war er jeden Tag unterwegs. Er machte Bilder von Demonstranten und israelischen Polizisten. Dazu schrieb er kurze Texte und postete alles auf Facebook - Zehntausende lasen seine Berichte. Facebook und andere soziale Medien hatten während der Proteste sehr viel mehr Einfluss auf die Menschen, als die etablierte palästinensische Politik und auch als Palästinenserpräsident Abbas, sagt Issa.
"Er hatte überhaupt keinen Einfluss auf die Entwicklungen. Die gesamte Autonomiebehörde hat die ganzen zwei Wochen lang keine Rolle gespielt. Deshalb hat Abbas damals auch finanzielle Hilfen für die Demonstranten angeboten. Wir brauchen kein Geld. Wir haben auch nicht darum gebeten. Die Bevölkerung hier hat sich gegenseitig unterstützt. Alles, was wir wollten, ist unsere Würde. Die Leute haben bewiesen, dass das Ganze nicht politisch gesteuert ist. Und sie haben einen Sieg errungen - nur weil sie daran geglaubt haben."
Von der Solidarität, die er damals erlebte, schwärmt er nun. Das neue Selbstbewusstsein, von dem der Rechtsanwalt Mounir Nusseibeh sprach - dem Schneider Issa Qawasmeh ist ins Gesicht geschrieben. Auch er glaubt, dass die Proteste nachwirken werden.
"Es ist noch nicht vorbei. Ich glaube, es wird den Leuten jetzt um ihren Status als Bewohner Jerusalems gehen und nicht mehr nur um Al-Aksa. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die Proteste wiederholen. Die Leute müssen hier die ganze Zeit Druck aushalten und dann war da diese friedliche und mächtige Demonstration. Israel kann gegen diese Art der Mobilisierung nichts machen. Es geht um unsere normalen Rechte und gegen die Besatzung."
Silwan: Zentrum der Hausübernahmen durch Siedler
Unterwegs in Silwan, einem arabischen Viertel, das direkt an die Altstadtmauern grenzt. Betty Hershman hat sich Zeit genommen. Die jüdische Israelin, die aus den USA stammt, gehört zu Ir Amim, einer Nichtregierungsorganisation, die auf den Siedlungsbau in Ostjerusalem aufmerksam machen will. Ir Amim führte auch schon Bundesaußenminister Gabriel durch die Stadt.
In Silwan wurden in den vergangenen Jahren viele Häuser arabischer Familien von jüdischen Siedlerorganisationen übernommen. Manche Häuser wurden ihren Eigentümern abgekauft. In anderen Fällen war es so, dass die Siedler erfolgreich Rechtsansprüche ehemaliger jüdischer Eigentürmer geltend machten, die ihrer Darstellung nach vor der israelischen Unabhängigkeit 1948 in den Gebäuden lebten oder denen die Grundstücke gehörten. Silwan mit seinen historischen Ausgrabungsstätten und seiner Nähe zur Altstadt, steht im Mittelpunkt dieser Hausübernahmen durch Siedler, erzählt Betty Hershman.
"Hier finden Sie die absolut überzeugten Siedler, wie man sie auch in Außenposten im Westjordanland antrifft. Man kann sich vorstellen, welches ideologische Bekenntnis nötig ist, um hier mitten in einer feindlich gesinnten, palästinensischen Umgebung, die einen nicht willkommen heißt, quasi mit dem Fallschirm abzuspringen, Häuser zu übernehmen und seine Kinder in kugelsicheren Jeeps zur Schule zu bringen. Dazu muss man wirklich unbedingt hier leben wollen."
Betty Hershman geht eine Straße hinauf, am oberen Ende sieht man die Mauern der Altstadt. Wenn man sich umdreht und den Blick hinunter über die Dächer von Silwan schweifen lässt, sieht man die israelischen Fahnen auf einzelnen Häusern, die Fenster sind vergittert, an den Mauern ist zum Teil Stacheldraht montiert. Betty Hershman holt eine Karte heraus.
"Diese Leute schaffen Fakten. Alle diese blauen Punkte auf der Karte stehen für Siedlungsaktivität innerhalb der Altstadt und um sie herum. In Sheik Jarrah lagen Pläne viele Jahre auf Eis und werden nun wieder aufgenommen - inklusive des Baus einer sechsstöckigen jüdischen Religionsschule am Eingang des Viertels. Nichts könnte brandgefährlicher sein als das."
80 Prozent der Ostjerusalemer sind arm
Wenn sie mit Palästinensern in Ostjerusalem spreche, treffe sie oft auf Furcht, erzählt Betty Hershman. Die Leute hätten zum Beispiel Angst, ihren Residenzstatus oder ihr Haus zu verlieren.
"Man muss sehen, welcher Druck da insgesamt aufgebaut wird. 80 Prozent der Bevölkerung von Ostjerusalem gilt als arm. Es fehlt an städtischen Leistungen und Infrastruktur. Kulturelle und politische Einrichtungen wurden geschlossen. Es gibt eine Zunahme von Hauszerstörungen. Allein im letzten Jahr waren es mehr als 200. Es werden Häuser übernommen und jeden Tag neue Fakten geschaffen. All das führt zu einer Verdrängung aus dem Herzen von Jerusalem in die Gebiete hinter der Sperrmauer."
Ben Avrahami ist in der Jerusalemer Stadtverwaltung Berater des Bürgermeisters und zuständig für den Ostteil der Stadt. Avrahami ein junger Mann Mitte 30, spricht arabisch und er kennt die Fakten, versucht nicht die Probleme in den arabischen Vierteln klein zu reden.
Rund 320.000 Einwohner leben in den arabischen Vierteln Ostjerusalems mit dem sogenannten Residenzstatus. Dass die Lebensbedingungen dieser Menschen nicht denen der jüdischen Einwohner der Stadt entsprechen, räumt Ben Avrahami unumwunden ein.
"Diese Unterschiede finden sich in ganz vielen Bereichen: in der Infrastruktur, der Stadtreinigung und in den Schulen und Anzahl der Klassenzimmer, die wirkliche große Abweichungen aufweisen. Das sind in etwa die zentralen Bereiche. Obwohl auch im Bereich des Rechtsvollzugs - die Frage, wie wir dort für Recht und Ordnung sorgen, ist noch nicht geklärt. Es gibt also noch viel zu tun, nicht nur mit Bezug auf die Dienstleistungen für den Bürger, sondern auch bezüglich der Regierbarkeit."
In den Schulen Ostjerusalems fehlen mehr als 1.000 Klassenzimmer. Diese und andere Zahlen verschweigt der Vertreter der Stadtverwaltung nicht. Er sieht die Ursache dafür in einer falschen politischen Annahme in der Vergangenheit.
"Es stimmt, dass das Augenmerk der Entscheidungsträger des Staates Israel - von Bürgermeistern bis hin zu Ministerpräsidenten - während der letzten 50 Jahre nicht auf diese Bezirke Ostjerusalems gerichtete wurde. Ich denke, dass der Hauptgrund dafür zu sehen ist, dass hinter diesen Bezirken immer ein großes Fragezeichen stand. Zu wem gehören diese Bezirke? Wohin führt der Weg? Dieser ganze politische Limbo der Ungewissheit führte dazu, dass die Politiker Israels sich nicht auf diese Bezirke konzentrierten."
Frustrierende Ungleichheit
Das habe sich nun geändert, sagt Avrahami. Seit ungefähr fünf Jahren investiere die Stadt mehr, baue unter anderem neue Straßen und Klassenräume und habe die Müllabfuhr personell verstärkt. Wenn es nur nach der Stadtverwaltung ginge, sagt der Berater des Bürgermeisters, gäbe es auch mehr Baugenehmigungen für Palästinenser in Ostjerusalem. Man stoße aber auf Probleme auf Regierungsebene.
Können die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in der Stadt auch ein Grund dafür sein, dass die Muslime zu Zehntausenden auf die Straße gingen und gegen die Metalldetektoren an den Zugängen zur Al-Aksa-Moschee protestierten? Brach sich damals - im vergangenen Juli - der generelle Frust über die Ungleichheit Bahn? Ben Avrahami sieht es nicht so und in seiner Antwort geht er auch nicht auf den friedlichen Teil der Proteste ein, sondern spricht nur über die Gewalt und den Terror, die es auch gab.
"Ich würde nicht sagen, dass die Menschen aufgrund der Unterschiede in der Stadt losziehen, um Terror und Gewalt zu verbreiten. Diese Verbindung lehne ich ab. Ich denke, es gibt dafür tiefere Faktoren, die sich in der eigenen Identität und in äußeren Einflüssen wiederfinden. Die äußeren Einflüsse können auch Menschen beeinflussen, deren Lebensumstände gut sind."
Ben Avrahami gibt sich insgesamt zuversichtlich. Man glaubt ihm, wenn er sagt, dass ihm die Verbesserung der Lebensumstände der arabischen Bevölkerung wichtig sei. Er ist davon überzeugt, dass etwas zusammen wächst in Jerusalem.
Wenn man mit den Palästinensern in der Stadt spricht, hat man diesen Eindruck aber eher nicht und man fühlt sich an etwas erinnert, das Mönch Nikodemus Schnabel oben auf dem Kirchturm der Dormitio-Abtei sagte, als er auf die Stadt blickte, die er so liebt.
"Das falscheste Bild von Jerusalem ist, dass Jerusalem ein Schmelztiegel ist, weil hier schmilzt gar nichts. Sondern Jerusalem ist die perfektionierte Kunst aneinander vorbei zu leben und eben eine Stadt, wo man sich immer mehr aus dem Weg geht. Immer mehr auch kritisch beäugt. Immer mehr auch Parallelwelten existieren - das eben diese Stadt eine Stadt ist voller Skepsis, voller Misstrauen, voller - ja - Abgrenzung."