Im Mai 2023 hat das französische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das Kamerasysteme mit Künstlicher Intelligenz erlaubt. Algorithmen sollen helfen, „verdächtiges Verhalten“ früh zu erkennen. Die Digitalexpertin Lena Rohrbach beschäftigt sich bei Amnesty International seit langem mit dieser Technologie: „Es handelt sich nicht um eine Gesichtserkennungstechnologie. Es handelt sich um eine Technologie, die erkennen soll, wenn bestimmte vorab festgelegte Ereignisse eintreten. Es kann zum Beispiel sein, dass ein Gegenstand zurückgelassen wurde. Es kann sein, dass eine bestimmte Personenanzahl für einen Platz überschritten wurde. Unsere Bedenken sind natürlich, dass es sich da um eine Form von Massenüberwachung handelt. Es gibt aber keine Hinweise, dass man terroristische Attentate auf diese Art und Weise effektiv verhindern kann.“
Die französische Regierung sieht das jedoch anders. Und auch einige Abgeordnete aus der Partei des Präsidenten Emmanuel Macron behaupten, dass diese Technologie den Terroranschlag von Nizza 2016 hätte verhindern können. Mit Hilfe Künstlicher Intelligenz, so ihr Argument, hätte der Lastwagen entdeckt werden können, bevor er in die Menge fahren konnte.
Frankreich als Vorreiter in der EU
Frankreich jedenfalls ist nun das erste Land in der Europäischen Union, das eine biometrische, also KI-gestützte Überwachung landesweit zulässt. Vorerst bis März 2025. Danach sollen die Erfahrungen bei den Olympischen Spielen ausgewertet werden.
Doch Olympia-kritische Aktivistinnen wie Natsuko Sasaki aus dem Bündnis „Saccage 2024“ glauben, dass nichts rückgängig gemacht werden wird: „Diese Technologie ist teuer. Wenn man sie erstmal einführt, ist es unwahrscheinlich, dass man sie wieder aufgibt. Das zeigen die Erfahrungen aus anderen Ländern. Leider erkennen die meisten Leute nicht die Gefahr darin. Das Wissen über diese Technologie ist gering.“
Kritik an der Technik
In Paris wurde das System bei mehreren Veranstaltungen getestet: zum Beispiel bei einem Fußballspiel zwischen Paris Saint-Germain und Olympique Lyon. Bei dieser Form der Verhaltensüberwachung sorgen Algorithmen dafür, dass „ungewöhnliche Handlungen“ automatisch an die Polizei gemeldet werden.
Natsuko Sasaki hält das für einen Eingriff in die Privatsphäre. Sie befürchtet, dass sich fortan mehr Menschen im öffentlichen Raum möglichst „unauffällig“ verhalten wollen: „Diese Technik ist diskriminierend. Zum Beispiel gegen obdachlose Menschen, die lange an einer Stelle bleiben und von der KI als ,verdächtig‘ wahrgenommen werden. Die Technik ist eine Gefahr für die Demonstrationsfreiheit. Denn Protestierende verhalten sich nicht wie ,normale‘ Menschen, in Anführungszeichen. Sie versammeln sich schnell und bilden große Gruppen. Wir haben es hier also mit antidemokratischen Maßnahmen zu tun.“
Olympia als Entwickler für Sicherheitspraktiken
Seit Jahrzehnten werden die Olympischen Spiele von der Entwicklung strenger Sicherheitspraktiken begleitet. Nicht nur in autokratisch regierten Staaten wie Russland und China, sondern auch in Demokratien. Vor den Sommerspielen 1996 in Atlanta zum Beispiel erließ der US-Bundesstaat Georgia Verordnungen, die vor allem wohnungslose Menschen trafen. Betteln, Kampieren und Urinieren in der Öffentlichkeit wurden mit Strafgeld belegt.
30.000 Menschen wurden aus dem Zentrum von Atlanta verdrängt, erinnert der US-amerikanische Autor Jules Boykoff: „Der Wendepunkt kam nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Seit den Winterspielen 2002 in Salt Lake City sind die Sicherheitskosten bei Olympia rasant gestiegen. Vieles ist gerechtfertigt. Aber in manchen Fällen nutzen die Staaten die Olympischen Spiele als Vorwand, um ihren Sicherheitsapparat aufzurüsten. Auch für neue Gesetze, die dann dauerhaft bleiben.“
70.000 Sicherheitskräfte bei Olympia im Einsatz
Vor den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro forcierte die Lokalpolitik die Bekämpfung der Kriminalität, vor allem in den Favelas. Die Zahl afrobrasilianischer Männer, die durch Polizeikugeln getötet wurden, stieg an, sagt Jules Boykoff: „Das sind Entwicklungen, die wir bei Olympia immer wieder beobachten. Die Sicherheitsorgane wittern die Chance auf teure Waffen und Technologien“
Und nun Frankreich. Bei den Olympischen Spielen sollen 70.000 Sicherheitskräfte zum Einsatz kommen, darunter 35.000 Polizisten und 15.000 Soldaten. Es gilt aktuell die höchste Terrorwarnstufe. Das französische Innenministerium hat andere Staaten um die Bereitstellung von Personal gebeten. Ein Aspekt, der etwas untergeht: die KI-gesteuerte Überwachung.
Furcht vor Langzeitfolgen und Fehleranfälligkeit der Technik
Doch es sei wichtig, über die Langzeitfolgen nachzudenken, sagt Patrick Breyer, Mitglied des Europäischen Parlaments für die Piratenpartei: „Meine Befürchtung ist, seit Jahrzehnten allerdings schon, an diesen überwachungsstaatlichen Tendenzen ist eben, dass sich dadurch eine Gesellschaft entwickelt, wo die Menschen im Grunde genommen nur noch an Konsum orientiert sind, wo der Mut zur Innovation verloren geht.“
Der Jurist und Bürgerrechtler Breyer weist auf die Fehleranfälligkeit von KI-gestützter Überwachung hin. So wurden mitunter Umarmungen für Würge-Angriffe gehalten. Breyer wandte sich 2023 mit 40 anderen EU-Abgeordneten in einem offenen Brief auch an das französische Parlament, als eine Art Protest gegen die biometrische Überwachung.
Er plädiert für ganzheitliche Ansätze: „Man hat herausgefunden in Studien, dass, wenn es darum geht, wirklich gegen Gewalt in bestimmten Vierteln vorzugehen, dann ist es erstmal am sinnvollsten, für eine gute Beleuchtung zu sorgen, für eine Belebung zu sorgen. Wenn da irgendwie ein heruntergekommenes Stadtviertel ist, dann das Stadtviertel insgesamt aufzuwerten, die Plätze übersichtlich zu gestalten. Aber die Überwachung als solche hat da keinen Effekt.“