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Parlamentswahl in Israel
"Netanjahus Zeit ist jetzt vorbei"

Dass sich Benjamin Netanjahu kürzlich offen mit Barack Obama anlegte, habe ihm bestimmt geschadet, sagte der israelische Historiker Tom Segev im DLF. Und nicht nur deshalb werde er bei den anstehenden Wahlen Stimmen verlieren – aber wohl dennoch Ministerpräsident bleiben.

Tom Segev im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 16.03.2015
    Der israelische Journalist und Historiker Tom Segev
    Wirtschaftliche Probleme hätten die Israelis im zurückliegenden Wahlkampf am meisten interessiert, sagte der israelische Journalist und Historiker Tom Segev im Interview mit dem Deutschlandfunk. (picture alliance / dpa)
    Sollte die Ära Netanjahu wirklich zu Ende gehen, seien das "historische Wahlen", sagte der Historiker im Interview mit dem Deutschlandfunk. Die Frage nach dem Verbleib Netanjahus und die Frage der Wohnungspreise hätten die Israelis im Wahlkampf anscheinend mehr interessiert als die Bedrohung durch den Iran und die Beziehung mit den Palästinensern, so Tom Segev.
    "Unwichtige kleine lächerliche Skandale"
    Darüber hinaus hätten "unwichtige kleine lächerliche Skandale" den Wahlkampf dominiert. Netanjahu könnte deshalb weniger Stimmen bekommen als die Opposition, sagte Segev. Trotzdem gehe er davon aus, dass der Ministerpräsident wieder in der Lage sein wird, eine Regierung zu bilden. Die israelische Bevölkerung stehe im Ganzen weiter rechts und national, die allgemeine Laune sei nicht "nach links gerückt".

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Morgen, am Dienstag, wird in Israel ein neues Parlament gewählt. Die Wahlen zur Knesset, die gehören regelmäßig zu den meist beachteten Wahlen der Welt - auch deshalb, weil vom Votum der israelischen Bürger so viel abhängt für die weitere Entwicklung im Nahen Osten. Und tatsächlich deutet im Endspurt dieses Wahlkampfs jetzt alles auf ein Kopf an Kopf-Rennen hin zwischen Ministerpräsident Netanjahu und seinem Herausforderer Jitzchak Herzog. Es wird also spannend morgen. - Am Telefon ist jetzt der israelische Historiker Tom Segev. Schönen guten Morgen nach Jerusalem.
    Tom Segev: Ja, guten Morgen Ihnen auch.
    Armbrüster: Herr Segev, könnten das morgen historische Wahlen werden?
    Segev: Es scheint mir, dass die historische Wichtigkeit von der CEBIT-Ausstellung größer ist für die Menschheit als die Wahlen morgen in Israel. Aber es können historische Wahlen sein in dem Sinne, dass vielleicht die Ära Netanjahu zu Ende geht. Es ist im Moment nicht zu sagen. Wie Sie sagten: Kopf an Kopf. Die letzten Umfragen, die uns vorliegen, sind zwei Tage alt. Nach israelischem Gesetz ist es so, dass man Umfragen nicht mehr veröffentlichen darf zwei Tage vor den Wahlen, und die zeigen, dass die Arbeiterpartei, das sogenannte zionistische Lager, mehr Stimmen kriegt. Aber das bedeutet noch nicht, dass Herr Herzog auch eine Regierung bilden kann. Es ist vielleicht so, dass Netanjahu weniger Stimmen kriegt als die Opposition, aber doch in der Lage sein wird, eine Regierung zu bilden mit vielen kleinen Parteien, die eigentlich neu sind in der israelischen Politik..
    Armbrüster: Sie haben jetzt gerade gesagt, Herr Segev, dass die CEBIT eventuell wichtiger ist als diese Wahlen in Israel.
    Wohnungspreise wichtiger als Beziehung zu den Palästinensern
    Segev: Ja.
    Armbrüster: Heißt das, dass sich eigentlich auch mit einem Regierungswechsel nicht viel ändern wird?
    Segev: Wissen Sie, die Grundprobleme, die Sie in Deutschland interessieren, waren merkwürdigerweise nicht die Probleme, die im Zentrum des Wahlkampfes standen. Der Wahlkampf handelte von zwei Fragen. Erstens: Bleibt Netanjahu oder nicht? Und zweitens die Wohnungspreise. Das ist ein Thema, was die Israelis anscheinend mehr interessiert als die Drohung von Iran oder die Zukunft der Beziehungen zu den Palästinensern. Die Alternative, die die Opposition vorzuschlagen hat für die Beziehungen mit den Palästinensern zum Beispiel, ist nicht sehr klar. Im Grunde geht es da nicht über diese oder andere Lösungen. Der Konflikt mit den Palästinensern ist in absehbarer Zukunft unlösbar und die Frage ist nur, wie managt man ihn besser. Aber im Grunde sind es wirklich wirtschaftliche Probleme, die die meisten Israelis interessiert haben.
    Es war auch ein merkwürdiger Wahlkampf. Wochenlang handelte er von wirklich nebensächlichen Dingen, kleine Skandale. Die Haushaltsausgaben von der Frau Netanjahus standen im Zentrum, mehr als die Bedrohung von Iran. Netanjahu natürlich hat versucht, den ganzen Wahlkampf auf die großen Probleme zu leiten: Iran, Palästinenser, Terror. Die anderen Parteien haben, glaube ich, im Wahlkampf jedenfalls mehr Erfolg gehabt mit den wirklich unwichtigen lächerlichen Problemen.
    "Unwichtige, kleine, lächerliche Skandale haben sich durch den Wahlkampf gezogen"
    Yitzhak Herzog (l.) und Tzipi Livni (r.) auf einem Plakat in Tel Aviv
    Yitzhak Herzog (l.) und Tzipi Livni (r.) geht es vor allem darum, eine weitere Amtszeit von Benjamin Netanjahuin zu verhindern. (picture alliance / dpa)
    Armbrüster: Herr Segev, das ist ja ganz interessant, weil als Netanjahu im Dezember diese Neuwahlen forciert hat, da ist seine Seite - zumindest haben wir das hier so in Deutschland mitbekommen - von einem leicht zu erreichenden Wahlsieg ausgegangen, von einem Durchmarsch sozusagen jetzt bei diesen Wahlen im März. Was genau hat sich denn in den vergangenen Monaten geändert, dass Netanjahu da so verloren hat?
    Segev: Das Gefühl, dass er nichts mehr zu bieten hat, und eine große, große Reihe von kleinen Fehlern, die von Tag zu Tag wieder vergessen werden, wenn plötzlich sich herausstellt, dass seine Frau gebrauchte Flaschen in den Supermarkt schickt und das Geld dann einsteckt, statt es in den Haushalt, den offiziellen Haushalt zu geben. Ich fühle mich sogar dumm, das für die Zuhörer in Köln zu wiederholen, wissen Sie.
    Armbrüster: Deutschlandweit hört man uns zu, nicht nur in Köln.
    Segev: Ja, ja, deutschlandweit, ich weiß. Aber es sind wirklich unwichtige, kleine, lächerliche Skandale, die jeder einzelne vergessen werden kann, aber in den letzten Wochen hat sich eben der Eindruck ergeben, na ja, seine Zeit ist jetzt vorbei. Das ist auch ein Gefühl in seiner Partei. Es gibt eine ganze Reihe von Politikern in seiner Partei, die sich reif fühlen, an seine Stelle zu kommen. So gibt es auch kleine Parteien, die behaupten, sie sind der wahre Likud, wenn ihr wirklich die Netanjahu-Partei wollt oder den Netanjahu-Weg oder den nationalen Weg, dann wählt eine kleine Partei und nicht die. So hat sich das irgendwie ergeben, es kam alles zusammen.
    Armbrüster: Und, Herr Segev, wenn nun Yitzhak Herzog und die ehemalige Arbeitspartei tatsächlich jetzt eine Chance hat bei diesen Wahlen, heißt das dann auch, die israelische Bevölkerung ist in ihrem Wahlverhalten nach links gerückt?
    Segev: Nein, das glaube ich nicht. Die israelische Bevölkerung im ganzen steht rechts und national, und deshalb besteht die Möglichkeit, dass es dem Netanjahu gelingen wird, mit den rechten Parteien, die kleiner sind als seine eigene, eine Koalition zu bilden. Das ist im Moment nicht sicher, aber ich glaube, dass die allgemeine Laune in Israel nicht nach links gerückt ist.
    "Israel ist absolut abhängig von Amerika"
    Benjamin Netanjahu am Rednerpult des US-Repräsentantenhauses.
    Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat bei seiner Rede vor dem US-Kongress in Washington mehr Härte gegenüber dem Iran gefordert. (picture alliance / dpa / Michael Reynolds)
    Armbrüster: Nun hat sich Netanjahu in den vergangenen Wochen wieder sehr offen mit Barack Obama, dem US-Präsidenten angelegt. Hat ihm das geschadet?
    Segev: Ja, das hat ihm bestimmt geschadet. Das hat ihm bestimmt geschadet. Man sagt in Israel immer, wir haben kein anderes Land, und jetzt sagt man auch, wir haben kein anderes Amerika. Das hat die Leute schon, glaube ich, sehr besorgt. Israel ist absolut abhängig von Amerika, von jedem amerikanischen Präsidenten, und da Politik zu spielen im amerikanischen Kongress, das hat ihm, glaube ich, sehr geschadet. 24 Stunden lang sah es so aus, wie wenn der amerikanische Kongress ihn so empfangen hat, wie man einen amerikanischen Präsidenten in Amerika empfängt. Das ist schon unwahrscheinlich. Aber das ist eine Fernsehshow. Und 24 Stunden später kommen dann die ernsthaften Gedanken und man sagt sich, ja was spielt er da eigentlich Politik in Amerika mit den Republikanern und so. Er wird in Israel nirgends so empfangen etwa wie im amerikanischen Kongress.
    Armbrüster: Live hier bei uns im Deutschlandfunk in den „Informationen am Morgen“ war das der israelische Historiker Tom Segev zu den Knesset-Wahlen in Israel morgen, am Dienstag. Vielen Dank, Herr Segev, für Ihre Zeit heute Morgen.
    Segev: Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.