Mittwoch, 24. April 2024

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Patientenmörder Niels Högel vor Gericht
"Dieser Fall ist in seiner Dimension einzig"

Ein Fall wie der des mordenden Pflegers Niels Högel sei ihm mit Blick auf die Opferzahlen und das Versagen von Kontrollmechanismen bislang nicht begegnet, sagte der Psychiater Karl H. Beine im Dlf. Der Verbrauch des tödlichen Medikaments sei um den Faktor sieben gestiegen, dennoch sei nichts gemeldet worden.

Karl H. Beine im Gespräch mit Sarah Zerback | 31.10.2018
    30.10.2018, Oldenburg: Der wegen vielfachen Mordes angeklagte Niels Högel kommt in den Gerichtssaal.
    Ex-Krankenpfleger Niels Högel: Der Prozess gegen ihn läuft wegen der zahlreichen Teilnehmer in den Weser-Ems-Hallen in Oldenburg. (picture alliance/Julian Stratenschulte/dpa Pool/dpa)
    Sarah Zerback: Ein Prozess – so groß, dass kein Gerichtssaal dafür ausreicht. Der größte Mordprozess der bundesdeutschen Kriminalgeschichte, bei dem sich der ehemalige Krankenpfleger Niels Högel inzwischen für den Tod von mehr als 100 Patienten verantworten muss. Dabei ist er schon zu lebenslanger Haft verurteilt, wegen anderer Fälle, in denen er tödliche Medikamente gespritzt hat, statt Leben zu retten. Nur die Spitze des Eisbergs, wie sich inzwischen herausgestellt hat.
    Darüber kann ich jetzt sprechen mit dem Chefarzt und Psychologen Karl Beine. Er ist einer der beiden Autoren des Buchs "Tatort Krankenhaus". Guten Morgen, Herr Beine!
    Karl H. Beine: Guten Morgen.
    Zerback: Sie befassen sich ja schon seit rund 25 Jahren mit Patiententötungen. Ist Ihnen ein solcher Fall schon mal begegnet?
    Beine: Ein solcher Fall im Hinblick auf die Opferzahlen ist mir nicht begegnet auf dieser Erde bislang, und ein solcher Fall im Hinblick auf das umfassende Versagen von Kontrollmechanismen und Kontrollsystemen auch nicht. Mit einem Wort: Dieser Fall ist in seiner Dimension einzig.
    Zerback: Wer hat denn da versagt? Das haben ja wahnsinnig viele Menschen mitbekommen. An welcher Stelle müssen Sie jetzt sagen, da hat irgendjemand grobe Fehler gemacht?
    Beine: An vielen Stellen, zumindest an mehreren Stellen, soweit wir heute wissen. Die Prozesse gegen die Verantwortungsträger zu der damaligen Zeit werden ja im Anschluss an diesen Prozess geführt werden, so dass letzte Klarheit dann erst entsteht. Aber es ist für mich unverständlich, wie in Oldenburg Verdacht entsteht und eine Strichliste geführt wird, an deren Ende steht, dass niemand so häufig anwesend gewesen ist bei Todesfällen und bei Notfällen wie Niels H., und trotzdem die Ermittlungsbehörden nicht informiert werden. Das ist für mich unverständlich, wie dort einzelne Chefärzte sich wehren gegen die Weiterbeschäftigung in ihrer Abteilung von Niels H., und er am Ende dann nach, wie wir heute wissen, fast sicher wissen, 37 Tötungen mit einem guten Zeugnis weggelobt wird, und in Delmenhorst weit mehr als nachgewiesen 60 Menschen tötet. Das sind brennende Fragen, auf die es dringend Antworten geben muss, und von daher haben viele, viele Leute, viele Systeme dort versagt. Es ist nicht aufgefallen, dass der Medikamentenverbrauch um den Faktor sieben gestiegen ist, dieses todbringenden Medikamentes, oder die Sterberate sich verdoppelt hat in Delmenhorst. All das sind Auffälligkeiten, die Anlass hätten geben müssen zum Nachfragen.
    "Es heißt immer, er hatte Schlag bei den Frauen"
    Zerback: Herr Beine, nun ist ja die Psyche des Menschen Ihr Metier. Haben Sie denn eine Antwort auf die Frage gefunden, warum da niemand ihn gestoppt hat?
    Beine: Nein, ich habe keine abschließende Antwort gefunden auf die Frage, warum ihn niemand gestoppt hat. Er ist sicherlich jemand gewesen, der von Haus aus eher gewinnend war und die Leute auf seine Seite gebracht hat. Es heißt immer, er hatte Schlag bei den Frauen. Und er war selbstverständlich ein Reanimations- und Notfallexperte allererster Güte und er hat lange Zeit keinen Verdacht erregt. Später ist es natürlich so gewesen, dass es für uns, die wir in Krankenhäusern arbeiten, vollkommen undenkbar und unvorstellbar ist, dass ein Kollege, mit dem wir unter Umständen jahrelang zusammengearbeitet haben, dazu übergeht, Menschen zu schädigen. Das erwarten wir nicht! Patientinnen und Patienten erwarten das schon gar nicht, dass in einem Schutzraum Klinik Schaden gestiftet wird, und Helferberufe sind Berufe, von denen wir am allerwenigsten erwarten, dass Straftaten begangen werden. Insofern ist das eine sehr komplizierte und komplexe Angelegenheit, wenn solche Tötungsserien passieren wie jetzt in Delmenhorst oder Oldenburg.
    Zerback: Nun fordern Patientenschützer ja schon seit längerem unter anderem ein Frühwarnsystem. Sie haben es auch gerade angesprochen. Lässt sich denn, Ihrer Erfahrung nach, schon bei der Einstellung etwa einer neuen Pflegekraft besser durchsieben und filtern, wer zu einer solchen Tat fähig wäre?
    Beine: Sicherlich nicht, wer zu einer solchen Tat fähig wäre. Aber nach meiner Erfahrung ist es so, dass wir aufpassen müssen, dann, wenn Menschen besonders selbstunsicher wirken, besonders angewiesen wirken auf Lob von außen, auf Anerkennung, auf besondere Sensibilität im Hinblick auf die Verarbeitung von Kritiken, weil das, was wir wissen, ist, dass die Täter überdurchschnittlich selbstunsicher waren und sind und dass sie in eine Abwärtsspirale geraten sind, wo das eigene Missempfinden, das nicht thematisiert worden ist, sich vermischt mit dem Leiden der Patientinnen und Patienten und sie am Ende sich befreien aus dieser Situation, indem sie entweder selbst töten, wie das in den meisten Fällen der Fall gewesen ist, oder aber selbst inszenierte "Notfälle" beherrschen.
    "Sich an die Organisation Patientensicherheit wenden"
    Zerback: Davon spricht ja auch die Staatsanwaltschaft jetzt im Fall Högel, von Geltungssucht, wie sie es sagt, Patienten erst gefährden, um sie dann vor den Kollegen zu retten, wenn der Tod dann nicht schneller war. Ist das ein ganz typisches Motiv, Gott spielen?
    Beine: Das ist unterschiedlich von Täter zu Täter. Es ist so, dass wir aus den ersten Prozessen gegen Niels H. wissen, dass er in besonderer Weise Distanz hatte zu Patientinnen und Patienten, wenig nah an den Patienten war. Man muss dringend vermuten, dass das mit eigenen Ängsten zu tun hatte, mit Abwehr zu tun hatte. Und wenn jemand weitestgehend unfähig ist, menschliches Leiden, auch menschliches Sterben zu begleiten, in der sicheren Gewissheit, dass die Mittel der Medizin und der Pflege am Ende sind und nur noch lindern können, wenn eine solche Situation eingetreten ist und ich nicht fähig bin, die zu ertragen, die hinzunehmen und diese Ohnmachtserfahrung zu akzeptieren, sondern hingehe und diese Situation auflöse, indem ich Notfälle auslöse oder töte, dann ist das Ausdruck auf genau diese Unfähigkeit, und die kann man erkennen, weil Menschen in solchen Situationen sich über längere Zeit verändern, sich zurückziehen, sich isolieren, eine andere Sprache benutzen. Von daher muss dieses Frühwarnsystem an der Stelle dringend bekannt sein und es muss sensibilisiert werden in den Häusern dafür, dass es so etwas wirklich geben kann, selbst im eigenen Haus.
    Zerback: Die Verantwortung natürlich ganz klar und auch die Möglichkeit des Erkennens liegt im Krankenhaus. Aber gibt es da auch Möglichkeiten für Patienten oder Angehörige, sich zu schützen, oder sind die dem hilflos ausgeliefert?
    Beine: Man wird sicher sagen müssen, dass, wenn ich in ein Krankenhaus gehe, ich allen Grund habe zu vertrauen. Wir reden hier sicherlich nicht über ein häufiges Phänomen, sondern Angehörige haben ein Recht nach meinem Empfinden darauf, sich erklären zu lassen, warum ein bestimmter Krankheitsverlauf so gewesen ist, wie er gewesen ist. Das muss Ihnen einleuchten. Und wenn Ihnen das nicht einleuchtet, dann gibt es die Möglichkeit, eine zweite Meinung einzuholen, und dann müssen Sie sich ein eigenes Urteil bilden über das, was geschehen ist. Es gibt die Möglichkeit, sich an die Organisation Patientensicherheit zu wenden und den Fall dort zu besprechen. Am allerletzten Ende bleibt natürlich der Weg, die Polizei zu benachrichtigen.
    Ich glaube, wir sollten auf den offenen Dialog setzen und sensibel darauf achten, wie die Atmosphäre ist in den Krankenhäusern. Wird mir Auskunft gegeben? Wird mit mir geredet? Das sind wichtige Indikatoren dafür, dass die Verhältnisse so sind, wie sie sein sollten, wobei es natürlich so ist, dass das an Grenzen stößt – da, wo die Personalausstattungen so sind, wie sie im deutschen Gesundheitswesen sind.
    !Zerback: Wir kommen hier auch an unsere Grenzen, Herr Beine. Die Nachrichten folgen nämlich gleich. – Karl Beine war das, Chefarzt am St. Marienhospital in Hamm und Professor für Psychiatrie an der Uni Witten/Herdecke. Besten Dank.
    //Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht