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Paul Ingendaay: "Königspark"
Vorhersehbares Sittengemälde

Das Rotlichtmileu als Spiegel der Gesellschaft: "Königspark" von Paul Ingendaay ist ein Fingerzeig auf die Verheißungen und Enttäuschungen Europas, eine Geschichte des Kapitalismus als Heilsversprechen und wie schutzsuchende Menschen hieran zerschellen. Allerdings zu vorhersehbar.

Von Tilman Winterling | 24.07.2019
Buchcoverr: Paul Ingendaay: „Königspark“
FAZ-Feuilletonist Paul Ingendaay erzählt in "Königspark" vom Straßenstrich in Madrid (Foto: imago images/Horst Galuschka, Buchcover: Piper Verlag)
Die Casa de Campo in Madrid, einst das Jagdrevier des spanischen Königshauses, ist mit einer Fläche von 1.722 Hektar einer der größten Stadtparks Europas. Ein Zoo und eine Seilbahn, ein See und ein Vergnügungspark machen ihn zu einem beliebten Ausflugsziel für Familien. Jogger laufen durch die Grünanlagen, im Sommer ist ein Schwimmbad geöffnet. Die großen Grünflächen im Westen Madrids werden von allen Alters- und Gesellschaftsschichten bevölkert. Man picknickt, trifft sich oder entspannt.
Der Park ist verrufen als größter Straßenstrich Europas
Um die Jahrtausendwende macht die Casa de Campo aber fortlaufend negative Schlagzeilen. Der Park hat sich langsam zu einem riesigen Straßenstrich entwickelt. Die Freier fahren rund um die Uhr mit ihren Autos durch den Park. Wird man sich mit den Dienstleisterinnen handelseinig, parkt man einfach abseits der Wege oder im Wald.
"Tagsüber, erzählte Diego, war die Casa de Campo ein Erholungsgebiet für Fahrradfahrer, Jogger und Spaziergänger. Aber die Touristen, die mit den Gondeln der Schwebebahn in den Park getragen wurden, die Stadtautobahn M 30 überflogen und über die verbrannten Braun- und Gelbtöne der Landschaft zockelten, sahen von hoch oben auch das andere: Mädchen mit nackten Beinen und in knapper Wäsche, auf dem Rücken den Minirucksack. Die meisten hatten kleine Kinder oder ganze Familie zu versorgen. Mehrmals im Monat schickten sie bei Western Union Geld auf einen anderen Kontinent."
Dies ist die Welt, in der "Königspark" der neue Roman von Paul Ingendaay spielt und es ist seine Heldin Nuria, die nachts dort ihre Runden dreht. Ganz in Schwarz gekleidet rast die junge Frau auf ihrem Fahrrad durch die Casa de Campo. Sie ist trainiert und fokussiert. Sie hat die Fähigkeit, mit gezielten Schlägen und Tritten ihre Gegner in Augenblicken auszuschalten. Fast jede Nacht fährt Nuria Patrouille und hält Wache.
Eine schwarzgewandete Rächerin der Entrechteten
Die Prostituierten, die alle mehr oder weniger Teil einer Organisation sind, werden von Hütern bewacht. So werden die Männer genannt, die die Frauen beobachten, beschützen und zur Arbeit anhalten. Nuria aber ist keine Prostituierte und sie ist auch keine Hüterin. Nuria hilft zwar ebenfalls gegen brutale Freier, unterstützt die Sexarbeiterinnen aber auch moralisch und organisatorisch. Sie hört zu und steht bei.

Nuria entstammt der spanischen Mittelschicht. Die Ehe ihrer Eltern ist früh zerbrochen, der Vater versucht sie nach seinen streng katholischen Ansichten zu erziehen und ihre große Schwester hat den Kontakt zur Familie abgebrochen. Dem Elternhaus entflohen hat sie sich der Zuhälterbande von Rico Vargas angeschlossen. Vargas ist ein berechnender Widerling, der sich über die Jahre ein Rotlicht Imperium aufgebaut hat, vom Straßenstrich bis zum Edel-Escort.
Gegenspieler Rico leitet ein Rotlicht-Imperium
In diesem Imperium, so erfährt man schnell, arbeitet inzwischen auch Nurias Schwester Isa. Sie ist so etwas wie die Spitzenklasse unter den Damen Vargas' und sein persönliches Aushängeschild. Während auf dem Straßenstrich um wenige Euro gefeilscht wird, sind Isas Dienste nicht unter mehreren Tausend Euro pro Abend zu bekommen. Aus freien Stücken hat sich Nuria Vargas angeschlossen, warum sie das aber getan hat, bleibt erstmal offen. Nur um ihre Schwester aufzuspüren, die sich weiterhin weigert, mit ihr in Kontakt zu treten, oder ist da noch mehr?
"Im Lauf der Wochen hat sie viele Mädchen von anderen Gruppen kennengelernt und mit einigen gesprochen. Jedes einzelne dieser Mädchen hat eine Geschichte. Manchmal hat Nuria das Gefühl, sie sammle Geschichten und werde von ihnen schwerer und schwerer. So viele zurückgelassene Länder, ahnungslose Eltern, verlorene Geschwister. So viel Einsamkeit, so viel Ekel. So viele gesichtslose Freier, abgegriffene Geldscheine, weggeworfene Kondome. Nuria kann endlos sammeln, die Geschichten hören einfach nicht auf, sie könnte sammeln, bis sie unter Last der Geschichten zusammenbricht."
Verschiedene Perspektiven auf eine düstere Parallelwelt
Die Pole, zwischen denen sich die Handlung von "Königspark" bewegt, sind das ganz Oben und das ganz Unten der Parallelgesellschaft Rotlichtmilieu und dieses Milieu nutzt Ingendaay als Spiegel der übrigen Gesellschaft.
Nuria ist eine der Wenigen, die zwischen den eigentlich undurchlässigen Schichten pendeln kann; zwischen den Leuten, die aus freien Stücken ihren Körper anbieten und denen, die in das Geschäft hineingezwungen werden. Das Unten erkundet sie dabei nicht nur im Sexarbeiterinnenmilieu, sondern lernt wegen eines drogensüchtigen Freundes auch die Barackensiedlung "Las Barranquillas" südöstlich von Madrid kennen. Ein Slum, das täglich bis zu 5.000 Drogensüchtige besuchen, um dort Stoff zu kaufen oder zu konsumieren.

Während Rico Vargas einzig aus Geltungsdrang und finanziellen Interessen handelt, ist Nurias Motor nicht Geld, sondern Menschenliebe und die Suche nach ihrer Schwester. Isa wiederum sieht zwar die Schlechtigkeit des Systems, dessen Teil sie ist, verschließt aber davor die Augen; die eigene Prostitution versteht und empfindet sie sogar als Befreiung.
Und dann taucht noch ein idealistischer Reporter auf
Doch nicht nur diese drei Figuren spielen eine Rolle. Da ist der idealistische Reporter, der auf das Elend der Prostituierten auf dem Straßenstrich aufmerksam machen will. Als verlogenes Gegenüber fungiert sein Chef. Er besucht heimlich den Teil der Casa de Campo, an dem sich die Transvestiten tummeln. Das Gegenstück zu Isa ist die versklavte Hadeel. Sie wird in Vargas' Finca zusammen mit anderen Frauen zum Abarbeiten fiktiver Forderungen von Schlepperbanden gehalten.

Sich aus den Rollen herauszuarbeiten, schafft leider keine der Figuren. Eine wirkliche Entwicklung bleibt allen bis zuletzt verwehrt. "Königspark" will ein Panoptikum der verlorenen Seelen sein. Der Roman ist aber auch ein Fingerzeig auf die Verheißungen und Enttäuschungen Europas, eine Geschichte des Kapitalismus als Heilsversprechen und wie schutzsuchende Menschen hieran zerschellen. Doch leider lösen sich die Enden dieser bedeutungsträchtigen Handlung allzu gefällig auf und der Roman wird leicht vorhersehbar. In seiner Figurenkonstellation ist er dabei allzu ausbalanciert. Davon lenken auch nicht die zu offensichtlich eingebauten Ecken der Figuren ab, wie die Absurdität des unsicheren Oberzuhälters, der wie ein Kind in Schulhefte schreibt oder englische Phrasen paukt, um Krawatten kaufen zu gehen.

Ingendaays literarisches Können bleibt trotzdem nicht verborgen. Der Tod des übersensiblen Onkels Víctor schwebt über den Leben von Nuria und ihrer Familie, der Unangepasste, der Schrat, der sich das Leben nimmt: "Wegen der Verfasstheit der Welt." Dieser Figuren hätte es aber einiger mehr bedurft.

So steht am Ende ein vorhersehbares Sittengemälde, das seinem Autor unterm Strich etwas zu schlüssig gerät.
Paul Ingendaay: "Königspark"
Piper Verlag, München. 400 Seiten, 22 Euro