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Peter Sloterdijk
Die großen Fragen des Glaubens

Der Heiland als verführungsmächtiger Früh-Hippie: Peter Sloterdijk rechnet in seinem Buch "Nach Gott" gewohnt provokant mit den Offenbarungs-Religionen ab. Der Gegenwarts-Philosoph widerspricht allen, die das Diesseits verachten und das Nicht-Sein verherrlichen, würdigt aber das kulturelle Erbe der Religionen.

Von Günter Kaindlstorfer | 26.06.2017
    Peter Sloterdijk redet auf einer Pressekonferenz
    Peter Sloterdijk feiert am 26.06.2017 seinen 70. Geburtstag. (dpa / Andreas Gebert)
    Der Titel ist ganz schön bombastisch: "Nach Gott". Das klingt nach postreligiöser Epochendiagnose, nach wagemutigem, die Existenzialien des modernen Lebens beherzt in den Blick nehmendem Denken in der Tradition Nietzsches und vielleicht Michel Onfrays.
    Der Inhalt des Bands ist dann letztlich gar nicht so bombastisch. Es handelt sich um eine Sammlung von Aufsätzen und zum Teil bereits in anderen Sloterdijk-Büchern abgedruckten Texten, die man im weitesten Sinn unter dem Rubrum "Religionskritik" zusammenfassen könnte.
    Wortgewaltig und wenig respektvoll
    Was nicht heißt, dass man in diesem Band nicht bemerkenswerte Einsichten und - selbstredend - auch einige Gemmen Sloterdijkscher Formulierungskunst finden könnte. Wie bereits in früheren, zielstrebig auf Pointe hin geschriebenen Werken lässt der Philosoph auch diesmal kaum ein gutes Haar an den Offenbarungs-Religionen und speziell an der Welt-, Lust- und Körperverachtung, die er etwa im Christentum seit 2.000 Jahren am Werk sieht.
    Jesus von Nazareth zeichnet Sloterdijk wenig respektvoll als exzentrischen Sektierer, der einen neurotischen Vaterkomplex mit händelsüchtigem Auserwähltheitsgehabe verband. Charakteristisch für die jesuanische Agenda - so Sloterdijk - sei ihre dezidiert familienfeindliche Stoßrichtung gewesen.
    Der Philosoph Peter Sloterdijk
    "Wir leben ... bereits so, als sei das Neue Testament durch ein Neueres Testament abgelöst" - findet Peter Sloterdijk. (Bild: Imago / Rudolf Gigler, Cover: Suhrkamp)
    "Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert ...", verkündet Jesus in Matthäus 10. Und in Lukas 14 donnert der Nazarener: "So jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu noch sein Leben, der kann nicht mein Jünger sein."
    Jesus Christus, so Sloterdijk, habe eine radikal anti-autoritäre Ideologie mit einem erschreckenden Personenkult um sich selbst verbunden. Man müsse sich den Heiland als verführungsmächtigen Früh-Hippie vorstellen, so Sloterdijk. Von Petrus, Johannes, Jakobus und den anderen Jüngern scheint der in Karlsruhe lehrende Philosoph nicht allzu viel zu halten:
    "Was Jesus in der kurzen Zeitspanne seines öffentlichen Auftretens um sich scharte, um sie in sein 'Reich' mitzunehmen, waren in der Mehrzahl hastig aufgesammelte Gestalten, die bereit waren, mit ihrem Meister die apokalyptische Grundstimmung in der vitalistischen Wander-Sekte zu teilen, bewegt durch eine drogenanaloge Mischung aus Verzweiflung am alten Leben und Faszination durch nie geschaute Perspektiven. Auf dieses labile Gefolge konnte das Fieber endzeitlicher Aufgeregtheit überspringen. Gleich ihrem Führer hatte die animierte Gruppe den überflüssig gewordenen Realitätssinn ausgehängt, um sich dem völlig anderen hinzugeben."
    Denker der Lebenslust und Lebensfreude
    In der christlichen Tradition wird Jesus als Inbegriff der Friedfertigkeit verherrlicht. Von wegen. Der Zimmermannssohn aus Nazareth müsse ein Mensch von verstörender Aggressivität gewesen sein, mutmaßt Sloterdijk.
    Peter Sloterdijk ist ein vitaler Philosoph, ein Denker der Lebenslust, der Lebensfreude und der Lebensbejahung. Entsprechend kritisch geht der 70-Jährige auch mit nirwanaseligen Erlösungslehren aus dem Fernen Osten und mit abendländischen Diesseitsverächtern wie Martin Luther ins Gericht. Für Sloterdijk ist der rebellische Augustiner aus Wittenberg nichts weniger als ein "christlicher Salafist":
    "In Martin Luthers frühen Seelenkämpfen klingt das zweieinhalbtausendjährige Reich der Welt und Lebensverneinung nach, das von der bizarren, stets nachwachsenden Schar der Asketen, der Eremiten, der Büßer, der Selbstauflöser, der Doloristen, der Geißler und anderer Charaktermasken des heiligen Extremismus verteidigt wurde. Zu dieser Schar gehören von weitem Gestalten wie Gautama Buddha, dessen Grundwort - 'alles ist leidvoll' - durch mehr als zwei Jahrtausende tönt. Ihr rechnet auch der griechische Silen mit seiner tragischen Weisheit zu, nach welcher es das Beste für den Menschen gewesen wäre, nie geboren zu werden, das zweitbeste aber, bald zu sterben."
    Ausflug in die Religionsphilosophie
    Wer das Diesseits verachtet und das Nicht-Sein verherrlicht, wer die Freuden der Entsagung preist und die ekstaseträchtigen Schönheiten des Lebens entwertet, muss mit Peter Sloterdijks Widerspruch rechnen. Allerdings ist es keineswegs so, dass Sloterdijk die Errungenschaften etwa der protestantischen Kultur nicht auch wertschätzen würde, ganz im Gegenteil:
    "Luther gehört zu den seltenen Figuren der kulturellen Evolution, von denen man sagen darf, sie hatten ideengeschichtlich Glück. Vom Glück begünstigt ist man auf diesem Feld, wenn man bessere Nachfolger findet, als man verdient hat. Zu den unverdienten Nachfolgern rechnen im Fall Martin Luthers, um sich mit der kürzesten Liste zu begnügen: Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Sebastian Bach, Gotthold Ephraim Lessing, Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Nietzsche, Albert Schweitzer, Gotthard Günther und Martin Luther King - hier erklingt das Luther-Universum wie eine Weltgeschichte in Vornamen."
    Das dunkle luthersche Erbe, so Sloterdijk, sei durch immer neue Schichten von Aufklärung, Aufheiterung und Zivilisierung überformt worden. Und so habe die "Wittenbergische Nachtigall" dann doch noch auf vitale Weise zu zwitschern begonnen.
    In Sloterdijks religionskritischen Schriften werden - erfrischend unsystematisch - die denkbar verschiedensten Themen angerissen: Um den untergangsverliebten "Anarcho-Vandalismus" in Richard Wagners "Götterdämmerung" geht es da ebenso wie um die "Ekstatischen Konfessionen" Martin Bubers. Das liest sich mal mehr, mal weniger inspiriert. Zu den Highlights des Bandes zählt ein animierter Text über die antike Gnosis, die bei Sloterdijk erstaunlich gut wegkommt - als eines der Urbilder metaphysischer Dissidenz.
    Zugleich lässt der Nietzscheaner Sloterdijk keinen Zweifel daran, dass hinter der welthistorisch eindrucksvollen Gala-Show des Christentums seiner Ansicht nach unwiderruflich der Vorhang gefallen sei. Das christliche Abendland sei im Begriff, ins Stadium eines neuen, offenen Agnostizismus überzugehen.
    "Wir leben in großer Mehrheit bereits so, als sei das Neue Testament durch ein Neueres Testament abgelöst. Es gehört zum Wesen dieses Testaments, dass es sich religiös bedeckt hält und allenfalls von Menschenrechten, von Wissenschaften, von Künsten spricht, ohne eine Kirche bilden zu wollen, es sei denn die Gemeinschaft der Lernbereiten."
    Allzeit lernbereit: Peter Sloterdijks Ausflug in die Religionsphilosophie endet doch wieder faustisch. Wer ständig strebend sich bemüht, dem winkt am Ende - vielleicht - Erlösung.
    Peter Sloterdijk: "Nach Gott"
    Suhrkamp Verlag, 364 Seiten, 28 Euro.