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Pflege
Profit oder Gemeinwohl?

Die Pflege war über Jahrhunderte eine Sache von Familie, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden. Seit den 1990er-Jahren sind auch privatwirtschaftliche Unternehmen auf dem Pflegemarkt aktiv, um Renditen zu erwirtschaften. Die Menschen bleiben dabei auf der Strecke, sagen Vertreter der Wohlfahrtspflege.

Von Sandra Stalinski | 25.09.2018
    Ein Rollator steht in einem Raum in einer Pflegeeinrichtung, aufgenommen in Berlin
    Auch Pflege muss sich lohnen - aber was ist hierfür das beste Modell? (imago stock&people)
    Ganz so hatten sich das die Väter und Mütter der Pflegeversicherung wohl nicht gedacht, als sie 1995 die Pflegeversicherung einführten. Sie wollten die wachsende Zahl von Pflegebedürftigen finanziell absichern und den Ausbau von dringend benötigten Pflegeeinrichtungen ankurbeln. "Markt" und "Wettbewerb" waren die vielversprechenden Schlagworte der Zeit. Damals war das notwendig und sinnvoll. Doch heute zeige diese Marktorientierung immer stärker ihre negativen Seiten, meint Hanno Heil, Vorstandsvorsitzender des Verbands der Katholischen Altenhilfe.
    "Bis 1995 hat jeder, der gepflegt hat, selber investiert. Die Familien haben investiert, die Wohlfahrtspflege, die Kirchen haben investiert, sie haben Geld mitgebracht, um zu pflegen, das ging über Jahrhunderte so. Der einzige Lohn war ein Lächeln auf dem Gesicht von Oma oder Opa, oder die Himmelstür stand offen. Seit 1995 kann ich Geld aus der Pflege herausholen, ohne zu pflegen. Ich kaufe Aktien, ich kaufe Unternehmen und ziehe Geld aus der Pflege, ohne selbst je in einem Altenheim gewesen zu sein. Das ist ein Paradigmenwechsel par excellence, das ganze System hat sich komplett gewendet seitdem."
    Pflege und bestclass profitibility?
    Der Theologe und Pflege-Experte kritisiert nicht die Familienunternehmen, die vielen engagierten Pflegenden, die sich damals selbstständig gemacht haben und mit Herzblut Pflegeheime bauten, kauften und betrieben. Die würden auch heute noch sehr gute Arbeit leisten - mit einem hohen ethischen Anspruch. Ein Dorn im Auge sind ihm die Unternehmen, die man auch als "Heuschrecken" bezeichnen kann.
    "Es gibt einen Trend - und der zeigt sich in den letzten zwei Jahren deutlich -, dass große internationale Investmentgesellschaften Einrichtungen aufkaufen und die werden dann, wie das in Investorensprache heißt, auf bestclass profitibility getrimmt. Das heißt, die müssen in ihrem Bereich den besten Profit erwirtschaften."
    Solche Unternehmen wollten und müssten Millionen-Gewinne mit der Pflege erwirtschaften. Und das müsse zwangsläufig auf Kosten der Qualität gehen, meint Heil.
    Qualitätsstandards
    Vertreter der privaten Pflegeunternehmen widersprechen dem vehement. Beispielsweise Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste. Er sagt, es gebe keine Belege dafür, dass die Pflege in privaten Einrichtungen schlechter sei als bei gemeinnützigen. Gesetzliche Auflagen würden jedem Heimbetreiber bestimmte Standards vorschreiben:
    "Es gibt hier ganz klare Regelungen durch die Kostenträger, wie er im Detail zu pflegen hat. Was die Leistungen sind, wie viel Personal er beschäftigen muss, welche Ausbildung diese Mitarbeiter haben. Das heißt, wenn ich als Pflegebedürftiger weiß, dass diese Leistungen, die mir zustehen, mir gegenüber auch erbracht werden, dann kann ich doch eigentlich zufrieden sein. Und wer die dann erbringt, spielt keine Rolle. Ich persönlich, mit Leib und Seele, glaube ich an die soziale Marktwirtschaft. Dass es halt den ein oder anderen gibt, übrigens auch bei Wohlfahrtsverbänden, der die Regelungen vielleicht versucht zu umgehen, das weiß ich. Aber ich kann deswegen nicht ein ganzes System ändern wollen, was viele Vorteile hat."
    Bernd Meurer (Präsident des bpa - Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste) in der ARD-Talkshow hart aber fair am 12.06.2017 
    Er sieht viele Vorteile im privaten Investitionsmodell - Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste (imago stock&people)
    In der Tat gibt es Pflegestandards, die eingehalten werden müssen. Beispielsweise ein bestimmter Personalschlüssel und eine Fachkraftquote von mindestens 50 Prozent in Pflegeheimen. Und tatsächlich lässt sich aktuell nicht sagen, ob die Qualität in privaten Einrichtungen schlechter ist als bei freigemeinnützigen. Eine Studie, die Meurers Verband dazu in Auftrag gegeben hat, kommt zu dem Ergebnis, dass es keine maßgeblichen Unterschiede gibt.
    Pflegenoten nicht aussagekräftig
    Allerdings – auch das sagt die Studie – fehlen momentan noch verlässliche Instrumente, um die Qualität von Pflegeheimen überhaupt zu messen. Es werden zwar Pflegenoten vergeben. Aber diese Pflegenoten – auf die sich auch die Studie stützt – helfen nach weit verbreiteter Meinung in Wissenschaft, Verbänden und Politik nicht wirklich weiter. Es gab Fälle, in denen Pflegeheime aufgrund von Qualitätsmängeln geschlossen werden mussten, obwohl sie zuvor Bestnoten erhalten hatten.
    "Wenn Sie schauen, was Pflegekritiker immer wieder berichten über das, was in Pflegheimen passiert und was möglich ist, muss man sagen: Die Kontrollen sind nicht perfekt. Ich würde durchaus unterstützen, dass die absolute Mehrzahl der Heime gute Pflege leistet, aber nicht alle und nicht zu jedem Zeitpunkt. Also, dass ich über Qualitätskontrolle es vollkommen im Griff habe, dass die Bewohner nicht leiden, das, glaube ich, kann man nicht sagen",
    so Heinz Rothgang, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Bremen, der die besagte Studie erstellt hat.
    Prof. Dr. Heinz Rothgang vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen
    Pflegenoten sind nicht aussagekräftig, das ergab auch die von Prof. Dr. Heinz Rothgang erstellte Studie (imago stock&people)
    Unterschiede in Personalkosten
    Bleibt die Frage nach den Beschäftigten: Bei Personalausstattung und Fachkraftquote schneiden die privaten Träger sogar minimal besser ab als die freigemeinnützigen. Die Bezahlung dürfte allerdings bei privaten im Schnitt schlechter ausfallen als bei gemeinnützigen und vor allem kirchlichen Trägern. Gerade die Caritas, die einen eigens ausgehandelten Tarif hat, bezahlt ihre Pflegekräfte im Vergleich zu privaten Trägern sehr gut. Das wiederum bedeutet aber auch höhere Kosten für die Bewohner der Pflegeheime beziehungsweise für deren Angehörige.
    Ob private Anbieter in der Pflege schlechtere Arbeit leisten als gemeinnützige, ist nach derzeitiger Faktenlage schwer zu sagen. Hanno Heil vom Verband katholischer Altenhilfe appelliert an den gesunden Menschenverstand:
    "Wenn ich den Gewinn ausschütte an Dritte, die reine Kapitalgesellschaften sind, also an Leute, die mit Pflege gar nichts zu tun haben, dann ist der Gewinn für die Altenhilfe weg. Und das ist der Unterschied zwischen einem gemeinnützigen Unternehmen, das hier klare Vorschriften hat vom Gemeinnützigkeitsrecht und einem privatwirtschaftlichen, renditeorientierten Unternehmen, das Gewinne ausschütten darf."
    Zukunftsvision: lokal organisierte Pflege
    Dass in der Pflege Geld verdient werden darf und muss und dass jedes Unternehmen – auch im sozialen Bereich – Gewinne erwirtschaften muss, bestreitet er nicht. Die Frage sei allerdings, wie hoch diese Gewinne seien. Hier wünscht er sich vom Gesetzgeber mehr Regulierung: eine Deckelung der Renditen und auch der Spitzengehälter des Führungspersonals.
    Bernd Meurer hält dagegen:
    "Wir brauchen in den nächsten Jahren an die 100 Milliarden Investitionen nur in die Infrastruktur. Und wenn wir dann sagen, wir brauchen auch private Gelder, dann muss ich diesen Unternehmen oder auch Privatmenschen natürlich auch zugestehen, dass sie eine Verzinsung dafür haben wollen, das sind die Realitäten. Wir sollten froh sein, dass es diese Unternehmen überhaupt gibt, denn die Frage sei erlaubt, wer würde denn an deren Stelle investieren?"
    Hanno Heil hat da eine Idee: Seine Zukunftsvision ist eine Pflege, die wieder stärker lokal organisiert ist und durch Stiftungen oder Genossenschaften finanziert wird. Privatleute könnten Genossenschaftsanteile von Pflegeeinrichtungen in ihrer Nähe kaufen - also an dem Ort, wo sie vielleicht selbst einmal gepflegt werden. So würden sie sehen, was mit ihrem Geld passiert, bekämen eine geringe Rendite und die Sicherheit auf einen künftigen Pflegeplatz. Pilotprojekte dafür gibt es bereits.