Freitag, 26. April 2024

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Phänomen des Wartens
Die Kunst der Lücke

Wer oft Bahn fährt oder mit dem Auto zur Arbeit, der weiß, was es heißt zu warten. Warten kann man auf unterschiedliche Weise: angespannt oder resigniert, geduldig oder zuversichtlich. Allerdings: "Wer Macht hat, der wartet nicht, sondern lässt andere warten", sagte Kuratorin Brigitte Kölle im Dlf.

Brigitte Kölle im Corsogespräch mit Sigrid Fischer | 15.04.2019
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Und wann bin ich dran? (imago / IKON IMAGES)
Wie lange hat es früher mit dem Modem gedauert, online zu gehen? Heute rasten wir aus, wenn sich eine Webseite nicht in Hundertstelsekunden-schnelle vor uns aufbaut. Das Warten haben wir offenbar verlernt. Dabei haben wir so schöne digitale Spielzeuge, um uns die Wartezeit zu vertreiben: auf dem Bahnsteig, beim Arzt, im täglichen Stau, in der Wohnungsbesichtigungsschlange. Und das sind noch die eher privilegierten Formen des Wartens - bei asylsuchenden Flüchtlingen oder bei Häftlingen sind sie viel existenzieller. Das Buch "Die Kunst des Wartens" dokumentiert, dass sich Künstler gerne mit dieser Kulturtechnik bechäftigen.
Warten oder warten lassen
Unser Verhältnis zum Warten sei ambivalent: Theoretisch würden wir die Fähigkeit, geduldig auszuharren, bewundern, aber in der praktischen Umsetzung würden wir das Warten doch sehr scheuen, sagte die Kuratorin Brigitte Kölle im Dlf. Unsere Welt sei sehr schnelllebig, alles sofort verfügbar, und mit dem reflexhaften Kontrollblick auf das Smartphone würden wir ständig versuchen, uns abzulenken, anstatt die Umgebung bewusst wahrzunehmen.
Das Warten könne aber auch sehr positiv sein. Wenn man mit Vorfreude auf etwas wartet, das Realität werden möge - das Kind auf Weihnachten zum Beispiel. Wenn man aber das Warten dauernd durch eine permanente Ablenkung ersetze, nehme man sich auch etwas, so Kölle.
Das Warten erzähle auch viel über gesellschaftliche Verhältnisse. Wer Macht habe, warte nicht, sondern lasse andere warten. Dann habe warten auch mit "dienen" zu tun. Das komme zum Beispiel in dem englischen Wort für "Kellner" - Waiter beziehungsweise Waitress - zum Ausdruck.
Warten als Nicht-Ereignis in der Kunst
Für die Kunst sei das Warten ein spannende Thema, weil Künstler damit selbst jeden Tag zu tun hätten, so Kölle. Das Warten auf die kreative Idee, die Leerstellen, die Zwischenzeiten, in denen nicht viel zu passieren scheine, seien eben auch Zeiten der Möglichkeiten. Die große Kunst bestehe darin, aus dem Nicht-Ereignis "Warten" etwas zu machen.
Mit ihrem Buch wolle sie auch aufzeigen, wie vielschichtig das Phänomen ist und dazu anregen, dass man in der nächsten Wartezeit nicht ungeduldig wird, sondern versucht, ihr etwas Positives abzugewinnen und die Wartezeit nicht als leere Zeit, sondern als Zeitvertreib zu verstehen. In anderen Kulturen gelinge das besser. So habe eine Studie festgestellt, dass Kinder in Kamerun viel besser warten könnten als Kinder in Deutschland.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Brigitte Kölle, Claudia Peppel (Hrsg.): "Die Kunst des Wartens"
Wagenbach Berlin, 2019. 168 Seiten, 28 Euro.