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Philipp Stadelmaier: "Queen July"
Liebe im Zeitalter der "Anywheres"

Philipp Stadelmaier erzählt in seinem Roman "Queen July" von zwei jungen, dunkelhäutigen Frauen, mit afrikanischen Wurzeln, die international Karriere machen. Jetzt treffen sie sich in ihrer Heimatstadt Paris und erzählen einander: von der Arbeit, Liebe und dem Leben.

Von Christian Metz | 28.01.2020
Philipp Stadelmaier erfindet in seinem Roman eine außergewöhnliche Sprache: " unverstellt, voller Aussparungen, überflüssiger Einsprengsel, rhythmischer Wechsel, dafür aber eindringlich und plastisch."
Philipp Stadelmaier erfindet in seinem Roman eine außergewöhnliche Sprache: " unverstellt, voller Aussparungen, überflüssiger Einsprengsel, rhythmischer Wechsel, dafür aber eindringlich und plastisch." (Anna Siehs)
Seit Wochen schmort Paris in anhaltender Backofenhitze. Was perfekte Bedingungen für einen Coq au vin sein mögen, lässt die sonst so lässigen Hauptstädter langsam aber sicher durchdrehen: Beziehungen werden schnöde beendet, halsbrecherische Affären eingefädelt, um sofort wieder beendet zu werden. An jeder Häuserecke bricht Streit vom Zaun. Nur July nimmt die Lage total entspannt. Sie liegt in ihrer Badewanne und kühlt sich ab. July ist gerade von einem beruflichen Aufenthalt aus Portugal zurückgekommen und verplätschert die Hitzetage und -nächte im erfrischenden Nass.
Für innere Kühlung sorgt ihr unerschöpflich erscheinender Vorrat an Burgunder. Für geistige Erfrischung garantiert ihre Lektüre von William Blakes "Die Hochzeit von Himmel und Hölle". "Queen July" residiert über ein Reich aus Versen, Wellen und Wogen, in dem abends spät sogar noch eine willkommene Abwechslung winkt. Schließlich muss selbst Aziza irgendwann einmal nach Hause kommen. Aziza ist eigentlich nur die Freundin einer Freundin, aber dennoch lässt July sie nun schon seit einer Woche bei sich wohnen.
Die Besucherin verbringt ihre Tage damit, durch die Straßen von Paris zu streunen. Sie ist die Hitze gewohnt. Denn Aziza ist zwar in Paris aufgewachsen, lebt aber seit sechs Jahren in Dschibuti, am äußersten Ostzipfel Afrikas, direkt am Golf von Aden. In der Geburtsstadt ihrer Mutter arbeitet sie als Anästhesistin in einem Krankenhaus. Wenn Aziza am Abend mit wundgelaufenen Füßen zurück in Julys Wohnung kommt, lässt sie sich die kühlen Fließen des Badezimmers hinabgleiten, von ihrer Majestät Queen July persönlich einen Wein einschenken, und dann beginnen die beiden zu erzählen.
In der Welt zuhause, nirgendwo daheim
Von was sie erzählen? Von ihren internationalen Karrieren und von ihrem Lebensgefühl, überall in der Welt arbeiten, feiern, lieben und damit auch zuhause sein zu können. "Anywheres" nannte David Goodhart diese international vernetzte Elite, deren Arbeits- und Kommunikationsmöglichkeiten die ganze Welt umspannen, und die sich deshalb um Funktionen des Nationalstaates oder lokale Belange nicht mehr scheren. Die Kommunikation der Anywheres verläuft digital, die Arbeit hängt vom Angebot globaler Konzerne ab.
Den Feierabend verbringt man am besten in der Bar irgendeiner einer internationalen Luxushotelkette. Das bietet den Vorteil, dass man unter sich bleibt, und sich zudem ab einem gewissen Grad an Amüsement einfach in die noblen Hotelzimmer zurückziehen kann. Wie heißt es so treffend in Überkreuzung von Sünden- und Paradiesrhetorik über Azizas Leben in Dischbati:
"Dieser Kachelofen am Golf von Aden wurde ihr vielsprachiges Paradies, ihr Babel, das sich zunehmend zu einem beschützenden Himmel der Heiterkeit aufrichtete – (...). In ihren ersten drei Jahren gab es in ihrem Leben unter anderem einen italienischen Hafenarbeiter, einen peruanischen Diplomaten (und seine Gattin), einen japanischen Sergeanten und einen russischen Fremdenlegionär. Ein Playboy aus Mozambique, mit dem sie zwei Tage auf seiner Yacht auf dem Golf herumschipperte, machte ihr sogar einen Heiratsantrag. Aziza traf Geschäftsleute und Ingeneur*innen jedweden Geschlechts und von überall her, das volle Programm."
Trabantensiedlungen, Ex-Pat-Refugien, Hotelbars
Hübsch unverbindlich, immer gut gelaunt, ziemlich gut bezahlt, jedem potentiellen Geschlechterverhältnis gegenüber aufgeschlossen – dieser Cocktail bunter Eigenschaften führt zu entspannter Heiterkeit und angenehmer Weltläufigkeit. Und doch gibt es ein Problem: Das Leben in Trabantensiedlungen, Ex-Pat-Refugien, Hotelbars, Flughäfen und digitalen Foren kommt so fugenlos glatt daher, als wäre es eine einzige Chimäre. Ein sanfter Traum, in dem die Grenzen zwischen Realität und Einbildung längst verschwommen sind.
Zu dieser Konstellation passt auch, dass Aziza längst nicht mehr die intensivsten Gefühle gegenüber den sie tatsächlich umgebenden Personen spürt. Vielmehr hängt sie seit Jahren einem Phantom nach: das den Namen "Anselm Strehler" trägt. Das klingt nach einem berühmten Komponisten und Theatermacher, ist in diesem Fall aber nur ein spätberufener Krebsforscher aus Montpellier. Ein paar kurze glückliche Wochen hat Aziza mit Anselm verbracht, und zwar – das ist die Krux – als sie beide knapp 17 Jahre alt waren.
Mehr als dreizehn Jahre liegt das zurück. Doch seither spukt Anselm und mit ihm die Möglichkeit in Aziza herum, dass vielleicht doch noch irgendwie, irgendwann, irgendwo ein Traumpaar aus den beiden werden könnte. Es ist nicht einmal so, dass die erste Liebe so tiefe Wunden hinterlassen hätte. Vielmehr erscheint es für eine Person, für die weltweit doch alles möglich zu sein scheint, einfach besonders reizvoll, mit der weitentferntesten Möglichkeit zu spielen. Wenn schon Phantasiespiele, dann doch bitte die abwegigen. Aziza liebt nicht Anselm, sie liebt das Denken an die Unmöglichkeit dieser Liebe.
Bullenhitze in der Stadt
Doch noch etwas gewährt die digitale Kultur den "Anywheres": die Vorstellung, dass man mit nur einem Klick auf einmal doch wieder Realität werden könnte, was lange nur Imagination war. Eines Tages also hat Anselm Strehler dem Klick zum längst vergangenen Glück nicht widerstehen können und Aziza eine Email geschrieben. Und sie hat selbstverständlich geantwortet. Schon ist – so sicher, wie einst das Amen in der Kirche – Anselm zurück in Azizas Leben.
Deshalb ist sie jetzt auch nach Paris gereist, um ihn zu treffen und mindestens den Rest des gemeinsamen Lebens miteinander zu verbringen. Bis zum geplanten Wiedersehen indes läuft Aziza durch die Bullenhitze in der Stadt. Wenn die internationalisierte Liebe in die feinaustarierte Balance des Lebens einbricht, und sie dieses Gleichgewicht mit einem Schlag zerreißt, dann entfaltet sie eine Kraft wie wir sie heute eigentlich nur noch dem internationalen Terror zugestehen. Terroranschläge erzeugen den Anschein, als würde aus dem Nichts, die Gewalt in eine friedliche Situation einbrechen.
Bei dieser Einschätzung übersehen wir zwar, dass Terror eigentlich der Einbruch der Gewalt in eine Konstellation von Gewalten ist, die zuvor institutionalisiert wurden. Aber Philipp Stadelmaier, der zuvor einen Essay über den Terror in Paris veröffentlicht hat, nimmt exakt diesen Aspekt des Terrordiskurses auf, um Liebesgleichgewicht und staatliche Gewaltenkonstellation engzuführen. Tatsächlich kommt es eines Tages in Dschibuti zu einem terroristischen Anschlag auf die Stadt, bei dem vor allem Azizas Lieblingshotel in den Fokus der sich überschlagenden Ereignisse rückt. Liebe und Terror inszeniert Stadelmaier als die beiden einzigen Kräfte, welche die Seifenblasenwelt der Anywheres noch zum Platzen bringen können.
Gesprächsroman nach dem Vorbild französischer Filme
In der deutschsprachigen Literatur gibt es bislang keinen Roman, der ein solches Personal, mit einer derartigen geographischen Anlage – von Paris über Dakar bis Dschibuti – und mit einer so scharfsinnigen Analyse verbunden hat. Vielleicht könnte man Jonas Lüschers "Frühling der Barbaren" als Vorbild anführen. Aber bei Lüscher waren es noch zwei weiße, ältere Männer, die in geradezu Bernhardscher Manier beim gemeinsamen Spaziergang vom Einbruch des Terrors in ein Hochzeitsfest erzählten.
Hier aber sitzen zwei junge, (und falls es jemand noch nicht mitbekommen haben sollte) schwarzhäutige Frauen in einem Badezimmer in Paris; die eine nackt in der Wanne, die andere vor ihr auf den Fliesen; Während der Roman, angelehnt an die französische Filmtradition, aus nichts anderem als einem angeregten, sich über zwei Nächte erstreckenden Gespräch besteht.
In Jimmy Jarmuschs Gesprächsfilm setzten die titelgebenden Pausendrogen "Kaffee und Zigaretten" eine neue Lebensform von der traditionellen "Kaffee und Kuchen"-Lebensweise ab. Jetzt sind es Burgunder und Wannenbad – die zum Signum einer neuen Lebensart avancieren. Das ist sehr klug beobachtet, aufregend neu erzählt und waghalsig kommt einem dieses Debüt zugleich auch noch vor: Schließlich handelt es sich hier um die Männerphantasie eines knapp dreißigjährigen Autors.
Man wird schon darüber diskutieren müssen, ob hier nicht einfach nur die herkömmlichen "Imaginationen von Weiblichkeit", durch frischere, aber ebenso übergriffige Klischees ersetzt werden? Ein Autor, der sich ausdenkt, wie sich die weltgewandte Frau von heute bitte zu verhalten habe? Und ein männlicher Rezensent, der das erfrischend gewagt findet? Das wird gewiss nicht das letzte Wort über diesen Roman sein. Man kann nur hoffen, dass die Diskussion auch das Niveau des Erzählten erreicht.
Erzählen im Ton vollendeter Schnoddrigkeit
Das gilt besonders, weil Stadelmaier nicht Frauen- und Liebesleben, sondern darüber hinaus auch eine außergewöhnliche Sprache erfindet: unverstellt, voller Aussparungen, überflüssiger Einsprengsel, rhythmischer Wechsel, dafür aber eindringlich und so plastisch, dass die Figuren ihr Handeln mitunter wie im Comic zu onomatopoetischen Einwürfen verkürzen. Sprachpuristen angeschnallt. Aus Julys Mund klingt ihre nicht gerade zurückhaltende Annäherung an eine andere Frau auf einer Tanzfläche, in irgendeinem Club in Gambia so:
"Das geht etwa drei Minuten lang gut, als es plötzlich einen dumpfen Schlag tut und ich mich am Boden wiederfinde. Bähm. Ich lieg blind auf dem Rücken und kapier rein gar nichts mehr. Als mein Augenlicht zurückkehrt, steht über mir ein bulliger Typ mit einem Schlagring und schaut mich bitterböse an. Anscheinend der aktuelle Stecher meiner Bekanntschaft. Die Lady kreischt und prügelt frenetisch auf seinen Body ein, während er mich immer noch unverwandt mit seinen Höllenglubschern fixiert."
Kommt July zu Wort, fabriziert sie ein wahres Horrorkabinett sprachlicher Entgleisung. Bei Grammatikkontrolleuren dürfte diese Prosa Schwindelgefühle auslösen. Für alle anderen aber ist sie wie Stadelmaiers Debüt insgesamt ein Pool lebenspulsierender flackernder Intensität. Doch zurück nach Paris: Als dort Azizas Liebesträume nach einer wahrhaft überraschenden Wendung wie Nichts zerplatzen, lautet Julys lakonischer Kommentar nur: "Epic win". Wer so viel phantasieren durfte, hat in jedem Fall schon gewonnen. Ja, das ist ein starker, eigenwilliger Debütroman, und für jeden Leser ein "epic win", ein epischer Sieg.
Philipp Stadelmaier: "Queen July".
Verbrecher Verlag, Berlin, 160 Seiten, 19 Euro.