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Plädoyer für ein besseres Europa

Sein Herz schlägt mit Leidenschaft für Europa. Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, wirbt für mehr Anstrengung zur Überwindung der Krise. Ein besseres Europa muss in seinen Augen vor allem demokratischer sein.

Von Doris Simon | 18.03.2013
    Was passiert, wenn die Europäische Union scheitert, und was muss sich ändern, damit Europa und die EU eine Zukunft haben? Das sind die Fragen, die Martin Schulz in seinem Buch stellt - und die er sehr ausführlich beantwortet. Natürlich hat der Präsident des Europäischen Parlamentes dabei seine ganz eigene Sicht auf die europäischen Dinge, eine Sicht, mit der Europaskeptiker oder EU-Gegner wohl nur wenig anfangen können. Trotzdem ist "Der gefesselte Riese, Europas letzte Chance" alles andere als ein langweiliges Buch über die EU geworden. Das liegt zum einen daran, dass Schulz gut erzählen und erklären kann. Er redet nicht um den heißen Brei herum, auch nicht in seinem Plädoyer für ein starkes Europa:

    "Ein Plädoyer für den Angeklagten EU, der zum Teil zu Recht auf der Anklagebank sitzt und zum Teil zu Unrecht. Er ist ein Angeklagter, den man vielleicht in eine Besserungsanstalt schicken muss, der es aber nicht verdient hat, dass man ihn zum Tode verurteilt."

    Martin Schulz pflegt eine klare Sprache, auch in unübersichtlichem Gelände. Doch beim einfachen Bürger, den Schulz ansprechen will, dürfte ein zweihundertsiebenundsechzig Seiten starkes Bekenntnis zur europäischen Idee einen gewissen Ablehnungsreflex auslösen. Daran wird auch der alarmistische Untertitel "Europas letzte Chance" nichts ändern. Solche Warnungen haben wir in den letzten Jahren einfach zu oft gehört. Vieles von dem, was Martin Schulz zu Papier gebracht hat, ist dann auch wenig überraschend, es ist in etwa das, was man vom Präsidenten des Europäischen Parlamentes zu Europa erwartet. Wenn er uns zum Beispiel erklärt, warum die Europäische Union so wichtig ist, worin die Bedeutung des europäischen Gesellschaftsmodells liegt, der Zusammenhalt in der EU.

    "Wenn das nicht gelingt, wenn das auseinanderbricht, dann wären wir irrelevant. Wir werden zum Spielball der ökonomischen und politischen Interessen von anderen Weltregionen, von China, von Indien, von Lateinamerika, der USA. Deshalb brauchen wir eine offene Debatte darüber, dass die Europäische Union, so schwerfällig sie ist, so kompliziert sie ist, so schwer durchschaubar sie ist, sie ist allemal ein größeres Pfund als die renationalisierte Volkswirtschaft und die renationalisierte Politik."

    Martin Schulz hat sich erkennbar vorgenommen, die Situation in der Europäischen Union nicht schönzuschreiben. Er benennt die Schwächen und die Missstände, aber er möchte sie im Kontext sehen: Der aktuellen Wut gegen das europäische Gesellschaftsmodell stellt Schulz die Erfolge der EU in Sachen Verständigung und Frieden entgegen. Er erzählt von seiner Jugend im Deutschland der 60er-Jahre und von der Entdeckung der europäischen Welt jenseits der deutschen Grenzen. Martin Schulz ist bei Aachen aufgewachsen, mit Grenzen kennt er sich aus, auch mit ihrer Überwindung. Deshalb kommt ihm vieles von dem, was die Eurokritiker zusammentragen, auch so kleinkariert vor. Die unsterbliche Legende vom Krümmungsgrad der Gurke zum Beispiel. Da erklärt er dann erst geduldig, was an diesen Klischees alles falsch ist, was stimmt und was verdreht ist. Um dann umso stärker gegen jene zu wettern, die mit diesen Klischees Stimmung machen:

    "Wenn Europa scheitert, dann deshalb, weil es selbst Fehler gemacht hat. Europa kann aber auch scheitern, weil diejenigen, die es besser wissen müssten, schlecht und unwahr über die EU sprechen."

    Da kann man die Wut richtiggehend lesen, wenn Martin Schulz auf die Populisten zielt, die mit alten Zerrbildern von Brüssel und seinen Eurokraten auf Stimmenfang gehen. Noch weniger Verständnis hat er für Minister und Regierungschefs, die den Bürgern suggerieren, der Nationalstaat könne die Dinge besser lösen, obwohl sie bei Verhandlungen in Brüssel genau das Gegenteil beschließen - weil sie wissen, dass in vielen globalen Fragen jeder Staat in Europa allein längst an seine Grenzen gekommen ist.

    "Solange wir es so haben, dass alles, was nicht funktioniert, der EU in die Schuhe geschoben wird, und zwar generell, und das, was funktioniert, von den Regierungschefs als ihr Erfolg reklamiert wird, kommen wir aus diesem Dilemma nicht raus. Und das genau ist zerstörerisch für die EU-Idee."

    Sollte der Euro scheitern, sollten in Europa wieder Grenzzäune hochgezogen werden, dann, so prophezeit Martin Schulz, werde sich wieder dumpfer Nationalismus breitmachen, Europa werde in der Welt keine Bedeutung mehr haben und niemanden, der die Interessen der Europäer auf globaler Ebene durchsetzen könne. Doch Schulz glaubt nicht, dass es so weit kommen werde. Er hofft vielmehr, dass die Europäer - das finstere Szenario vor Augen - endlich aufwachen und sich auf die Zukunft konzentrieren werden.

    "Anstatt das vergangene ‚alternativlose Europa‘ zu beschwören und in überholten Pro- und Kontra-Ritualen zu erstarren, sollten wir eine Debatte beginnen, deren Überschrift lautet: ‚Welches Europa wollen wir?‘"

    Ein besseres Europa muss für Martin Schulz vor allem demokratischer sein. Für den Präsidenten des Europaparlaments ist das gleichbedeutend mit: mehr Macht für das Europaparlament. Den EU-Ratspräsidenten, Brüsseler Statthalter der Regierungschefs, würde Schulz lieber heute als morgen in die Wüste schicken. Dafür träumt der Europapolitiker von der Europäischen Kommission als Regierung in Europa, mit einem vollberechtigten Europaparlament als Legislative und den 27 Regierungen in einer Zweiten Kammer à la Bundesrat. Das wäre zumindest eine Alternative zum gegenwärtigen Durcheinander von Exekutive und Legislative auf EU-Ebene, allerdings mit einem entscheidenden Schönheitsfehler: Es ist ein sehr deutsches Modell, das nicht in allen europäischen Hauptstädten zu Begeisterungsstürmen führen dürfte. Andere Länder haben andere demokratische Traditionen. Aus der Sicht des Autors aber löst sein EU-Modell ein Hauptproblem der Europäischen Union:

    "In Europa geschieht alles hinter verschlossenen Türen. Der Rat tagt da hinter verschlossenen Türen. Ich bezeichne ihn immer gerne als einen permanenten Wiener Kongress, wo die Mächtigen Europas zusammenkommen, hinter verschlossenen Türen beraten und ihren erstaunten Untertanen anschließend mitteilen, worüber sie sich mal wieder nicht geeinigt haben."

    Die Krise der EU und die Reform der Institutionen, das ist keine leichte Kost, aber Martin Schulz hält sich über weite Strecken an sein Versprechen, klar und allgemein verständlich zu schreiben. Er richtet sich ausdrücklich nicht an die Europaexperten. Der Preis dafür ist, dass man sich beim Lesen von "Der gefesselte Riese - Europas letzte Chance" manchmal fühlt wie damals im Grundkurs Politik oder Wirtschaft. Aber Martin Schulz weiß, wie man Zuhörer und Leser auch bei schwerem Stoff wachhält. Er polarisiert, er malt oft schwarz-weiß und pflegt ausgiebig seine Feindbilder. Kurz: Er pumpt immer wieder reichlich Emotion in die trockene Materie. Nicht jeder Leser wird am Ende Martin Schulz´ Vorstellungen von Europa teilen. Aber vielleicht öfter mal drüber nachdenken und diskutieren.

    Martin Schulz: Der gefesselte Riese.
    Europas letzte Chance.
    Rowohlt, 272 Seiten, 19,95 Euro
    ISBN: 978-3-87134-493-0