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Pöttering: Lissabon-Vertrag sichert demokratisches Europa

Der Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, rechnet nicht damit, dass das Bundesverfassungsgericht den EU-Reformvertrag ablehnt. Für ihn stehe fest, dass das neue Regelwerk mit dem Grundgesetz übereinstimme. Er habe daher kein Verständnis für die Beschwerdeführer. Die EU-Reform werde die Demokratie nicht schwächen, sondern stärken, betonte der CDU-Politiker.

Hans-Gert Pöttering im Gespräch mit Christian Schütte | 11.02.2009
    ChristianSchütte: Wie skeptisch steht Deutschland zum Reformvertrag und was hält man davon in Brüssel? - Darüber spreche ich mit Hans-Gert Pöttering (CDU), Präsident des Europäischen Parlaments. Guten Morgen, Herr Pöttering!

    Hans-Gert Pöttering: Guten Morgen, Herr Schütte.

    Schütte: Ob die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Lissabon-Vertrag stichhaltig sind, Herr Pöttering, dieses Urteil müssen die Richter in Karlsruhe fällen. Aber können Sie nachvollziehen, dass es deutschen Parlamentariern Angst macht, wenn Brüssel zu mächtig wird?

    Pöttering: Zunächst einmal leben wir in einer Rechtsordnung, und in einer Rechtsordnung kann man sein Recht in Anspruch nehmen, so unsinnig das im Einzelfall auch sein mag. Ich habe kein Verständnis in der Sache für die Beschwerdeführer, die ja auch ein sehr merkwürdiges Bündnis darstellen: die Linkspartei und dann zwei Persönlichkeiten vom anderen politischen Spektrum. In der Sache halte ich die Beschwerde nicht für begründet. Wir brauchen ein starkes demokratisches, einiges Europa, und dieses sichert der Vertrag von Lissabon.

    Schütte: Bleiben wir bei der Sache. Die Rechte des Europäischen Parlaments etwa sollen gestärkt werden. Das bedeutet im Umkehrschluss, die Kompetenz anderer Gremien wird geschwächt. Geht dies am Ende nicht doch zu Lasten des Bundestages, wie die Beschwerdeführer sagen?

    Pöttering: Nein, dieses ist nicht der Fall. Bisher war es ja so, dass der Bundestag an der europäischen Gesetzgebung selber bei den Entscheidungen gar nicht mitgewirkt hat, sondern das hat die Bundesregierung getan und das machen die Regierungen der Länder. Das heißt, die nationalen Parlamente haben schon Entscheidungsrechte abgegeben. Und mit dem Vertrag von Lissabon wird das Europäische Parlament, das heute schon mächtig und einflussreich ist, weiter gestärkt. Schon heute, ohne den Lissabon-Vertrag, ist das Europäische Parlament gleichberechtigt in 75 Prozent europäischer Gesetzgebung mit den Regierungen und mit dem Vertrag von Lissabon wird dieses anwachsen auf nahezu 100 Prozent. Und wenn einer der Beschwerdeführer in einem Interview einer großen deutschen Zeitung sagt, die Rolle des Europäischen Parlaments sei auf die Rolle eines Schulbuben degradiert, dann ist das ein Wirklichkeitsverlust, wofür ich wirklich kein Verständnis habe.

    Schütte: Können Sie denn ausschließen, dass es nicht doch passiert, dass es eine schleichende Entmachtung gibt, dass politische Vorhaben über Brüssel gespielt werden und die Bundestagsabgeordneten außen vor bleiben?

    Pöttering: Zunächst einmal muss man feststellen, dass wir verschiedene Ebenen der Demokratie haben. Wir haben die kommunale Selbstverwaltung; die wird ausdrücklich jetzt erstmalig im europäischen Recht festgeschrieben, anerkannt durch den Lissabon-Vertrag. Dann haben wir die Bundesländer mit ihren Kompetenzen. Wir haben die Nationalstaaten und die Europäische Union, und die Europäische Union wird in ihren Zuständigkeiten, in ihren Aufgaben genau definiert durch eine Kompetenzbeschreibung. Im Übrigen geht es ja darum, Herr Schütte: Europa ist unser Weg, um die Interessen und die Werte unseres Kontinents in der Welt zu behaupten. Wenn wir nicht stark sind, wenn wir nicht einig sind, dann kann Europa keine Rolle in der Welt spielen. Dann entscheiden andere für uns. Im Übrigen ist es so - deswegen bin ich zuversichtlich, dass die Verfassungsrichter ja sagen zum Vertrag von Lissabon -, bereits die Präambel unseres Grundgesetzes spricht, dass wir uns einsetzen wollen für ein vereintes Europa und dem Frieden der Welt dienen wollen, und im Artikel 23 ist ausdrücklich noch mal die Verwirklichung eines vereinten Europa beschrieben und auch die Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat.

    Ich bin ganz sicher, dass die Demokratie gewahrt wird, ja sie wird stärker, weil das Europäische Parlament stärker wird und auch die nationalen Parlamente in Zukunft die Möglichkeit haben, schon bei dem Beginn einer europäischen Gesetzgebung zum Europäischen Gerichtshof zu gehen und gegebenenfalls die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips einzuklagen. Das heißt also, wenn der Bundestag meint, Europa sollte nicht zuständig sein, Europa geht zu weit, dann kann man zum Europäischen Gerichtshof nach Luxemburg gehen. Es ist ein Zuwachs an Demokratie auf allen politischen Ebenen.

    Schütte: Was nützt dieser Zuwachs an Demokratie, von dem Sie sprechen, wenn man den Bürgern nicht das Gefühl geben kann, dass Europa, dass die EU wichtig ist?

    Pöttering: Ja, das ist natürlich ein Problem und deswegen führen wir ja auch, Herr Schütte, dieses Gespräch, damit wir die Menschen, die Bürgerinnen und Bürger erreichen. Wir leben heute in einer komplizierten Welt. Wir haben die Herausforderungen des Klimawandels, wir haben die Herausforderungen der Bankenkrise, wir haben die Herausforderungen des Terrorismus, wir haben große außenpolitische Probleme, wenn Sie an den Nahen Osten denken. Dieses alles können wir nur gemeinsam bewältigen. Europa ist das Mittel, um zu Lösungen zu finden, und ich finde - das haben auch gestern sehr beeindruckend Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier vor dem Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht -, es geht darum, dass wir als Europäer nun gemeinsam unsere Werte und Interessen vertreten. Die Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts ist keine Lösung.

    Schütte: Nun nehmen sich die Richter in Karlsruhe zwei Tage lang, also relativ viel Zeit, um die Argumente der Skeptiker des Lissabon-Vertrags anzuhören. Wie groß ist in Brüssel die Befürchtung, dass die Verfassungsrichter in Karlsruhe das Vertragswerk stoppen oder einschränken?

    Pöttering: Richter sind ja besonders intelligente und zugleich kluge Persönlichkeiten, besonders im Bundesverfassungsgericht. Ich möchte meine juristische Ausbildung, die ich vor vielen Jahren mal bekommen habe, natürlich überhaupt nicht vergleichen mit der unserer Verfassungsrichter, aber meine rechtliche und politische Bewertung des Vertrages von Lissabon sagt mir, das ist nicht nur notwendig, es ist auch mit unserem Grundgesetz vereinbar. Ich könnte mir vorstellen, dass die Richter gewisse Voraussetzungen benennen, wie in Zukunft Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat bei den Entscheidungen in der Europäischen Union zusammenwirken müssen, aber ich bin ziemlich sicher aus meiner eigenen Beurteilung des Vertrages von Lissabon - ich habe ja über viele Jahre auch daran mitgewirkt, dass wir dieses Ergebnis bekamen -, dass dieses mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Und denken Sie einmal daran, welchen Sturm es gegeben hat bei der Einführung der europäischen Währung, des Euro. Es hat auch damals Klagen gegeben. Und wenn wir heute den Euro mit seiner stabilen Wirkung nicht hätten, die finanziellen Schwierigkeiten wären viel größer. Wir hätten Turbolenzen in der Europäischen Union, zwischen den Mitgliedsstaaten, weil einige Regierungen ihre nationalen Währungen auf andere abwerten würden. Es ist gut, dass wir den Euro haben. Wir müssen seine Stabilität verteidigen, und das ist ein Beispiel, wie richtig Europa für uns Deutsche auch ist.

    Schütte: Herr Pöttering, Sie sind zuversichtlich. Dennoch: die "Süddeutsche Zeitung" titelt heute Morgen, "Verfassungsgericht zweifelt an der EU-Reform". Prozessbeobachter berichten von einem deutlich spürbaren Unbehagen der Richter, weitere Hoheitsrechte an Brüssel zu übertragen. Bereitet Ihnen das keine Sorge?

    Pöttering: Richter haben die Aufgabe, Fragen zu stellen, und wenn es überzeugende Antworten gibt aus dem Text heraus, aus dem Lissabon-Vertrag, aber auch von denjenigen, die diesen Vertrag verteidigen, dann bin ich zuversichtlich, dass die Richter zu einem Ergebnis kommen, das Deutschland dient, das Europa dient. Europa muss stark sein, um sich in der Welt zu behaupten. Ich will ein Beispiel noch sagen: das ist die Energiesicherheit. Im Vertrag von Lissabon wird erstmalig die Energieversorgung als eine solidarische Aufgabe in der Europäischen Union beschrieben. Und wenn wir hier nicht einig sind, dann kann sich keiner alleine gegen Russland oder gegen diejenigen, die nicht liefern, obwohl es vereinbart ist, durchsetzen. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Politik und das dient den Bürgerinnen und Bürgern, damit es ganz konkret warm ist in ihren Wohnzimmern. Dazu brauchen wir das solidarische Handeln der Europäer.

    Schütte: Was gewünscht wird ist allerdings nicht das, was die Karlsruher Richter verhandeln, sondern dort geht es tatsächlich um die verfassungsmäßigen Bedenken und es ist offen, ob die Karlsruher Richter den Vertrag durchwinken. Ist man in Brüssel auf den Fall der Fälle vorbereitet?

    Pöttering: Ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird, dass die Richter den Vertrag von Lissabon ablehnen. Das kann ich mir in der Sache nicht vorstellen, weil ich zu dem Ergebnis komme, sowohl der rechtlichen wie der politischen Beurteilung des Lissabon-Vertrages, dass er mit unserem Grundgesetz übereinstimmt, dass er der Demokratie dient, der Handlungsfähigkeit Europas und damit auch dem Interesse der Bundesrepublik Deutschland.

    Schütte: Das heißt, es gibt keinen Plan B in Brüssel, falls das Verfassungsgericht doch Zweifel hat?

    Pöttering: Zweifel ist etwas anderes, als den Vertrag abzulehnen. Richter und Juristen müssen Fragen stellen. Das ist Bestandteil eines juristischen Prozesses. Aber meine Vorstellungskraft - das muss ich wirklich sagen - geht nicht so weit, dass durch die Bundesrepublik Deutschland, durch das Bundesverfassungsgericht die demokratische Weiterentwicklung Europas behindert werden könnte.

    Schütte: Wenn die Unterschrift des Bundespräsidenten zur Ratifizierung des Lissabon-Vertrages am Ende doch ausbleibt, Herr Pöttering, rein theoretisch, wäre dies doch nicht wirklich das Ende der Europäischen Union oder?

    Pöttering: Ich möchte mir eine solche Lösung nicht vorstellen. Wir wissen ja vom Bundespräsidenten, wie er inhaltlich politisch zu dem Vertrag steht, nämlich sehr positiv, und jetzt ist es unsere Rechtsordnung in der Bundesrepublik Deutschland, dass das Bundesverfassungsgericht sein Urteil spricht. Warten wir dieses Urteil ab und ich hoffe, dass es so ist, dass Europa weiter seine Werte und Interessen in der Welt vertreten kann.

    Schütte: Warten wir ab, sagen Sie. Ein Urteil wird möglicherweise erst im Sommer erwartet, kollidiert möglicherweise mit dem Termin für die Europawahlen. Kann man mit dieser abwartenden Haltung tatsächlich einen guten Wahlkampf für Europa führen?

    Pöttering: Wir werden gleichwohl engagiert in den Europawahlkampf gehen. Wir haben gute Argumente, dass die Menschen sich an den Wahlen beteiligen. Die Richter werden den richtigen Zeitpunkt entscheiden. Wann sie zu einem Ergebnis kommen, das ist Sache des Bundesverfassungsgerichts. Da darf sich niemand einmischen. Wir brauchen dann noch die Verwirklichung des Lissabon-Vertrages sowohl in Tschechien wie auch durch ein Referendum in Irland. Es steht noch die Unterschrift des polnischen Präsidenten aus. In Europa muss man etwas Geduld haben. Man braucht einen langen Atem, aber auch die Entschlossenheit, unseren Kontinent auf der Grundlage von Demokratie, Frieden und Freiheit zu einigen.

    Schütte: Hans-Gert Pöttering (CDU), Präsident des Europaparlaments. Ich danke Ihnen für das Gespräch.

    Pöttering: Ich danke Ihnen, Herr Schütte.