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Polen und der Brexit
Eine andere EU soll her

Bei einem möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU steht auch für Polen viel auf dem Spiel. Immerhin leben in Großbritannien etwa 850.000 Polen, die seit der Abstimmung um ihre Zukunft bangen. Aus Warschau kam so etwas wie Schützenhilfe: Als erster Politiker brachte Jaroslaw Kaczynski auch noch einen Exit vom Brexit ins Spiel.

Von Henryk Jarczyk | 28.06.2016
    Jaroslaw Kaczynski sitzt auf einer Abgeordnetenbank, Zbigniew Ziobro redet auf ihn ein.
    Gibt die Richtung in Polen vor: PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski. (picture alliance / dpa / Rafal Guz)
    Die Nervosität ist deutlich spürbar. Und zwar auf allen Ebenen. Wobei auch diesmal nur einer die Fäden zieht: Jaroslaw Kaczynski – Vorsitzender der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit". Und für den Nationalpopulisten steht eines fest: Dem Diktat aus Brüssel muss spätestens jetzt ein für alle Mal Einhalt geboten werden: "Man muss die EU-Vorschriften radikal präzisieren, damit die EU wirklich nach geltendem Recht und nicht nach dem Prinzip der Willkür handelt. Polen wurde gerade zum Opfer einer entsprechenden Vorgehensweise. Hier muss es eine neue Qualität geben."
    Hätte die EU-Kommission kein Prüfverfahren gegen Polen wegen vermuteter Verletzung der Rechtsstaatlichkeitsprinzipien eingeleitet, wäre die Einlassung von Jaroslaw Kaczynski eher theoretischer Natur. In Wirklichkeit hat sie aber einen realen Bezug. Was die Bedenken des Parteivorsitzenden und die damit suggerierten Rückschlüsse in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt. "Man muss das fatale Prinzip ablehnen, dass wenn etwas Schlimmes geschieht, dann muss es noch mehr Europa geben. Also mehr Integration und noch mehr Macht für Brüssel. Was de facto nur bedeutet: hauptsächlich mehr Macht für Berlin. Wenn wir diesen falschen Weg nicht verlassen, dann können wir es mit einem wahren Erdbeben zu tun bekommen."
    Jaroslaw Kaczynski ist zwar kein Mitglied der Regierung. Gleichwohl bestimmt er in Polen, wo es lang geht. Somit ist alles, was der Präsident oder Regierungsmitglieder sagen, eigentlich nur ein Echo dessen, was der Parteivorsitzende verlauten lässt. So zum Beispiel die Überlegungen des polnischen Außenministers Witold Waszczykowski. Nach dem Motto, was die sechs EU-Gründerstaaten können, ist auch in Warschau möglich, ließ der polnische Chefdiplomat am Montag Regierungsvertreter aus zehn europäischen Mitgliedsländern wie Rumänien, Bulgarien, Ungarn aber auch Österreich und Spanien an die Weichsel einfliegen – gewissermaßen als Kontrapunkt zu der deutsch-französischen Initiative vom Wochenende.
    Am Ende eine neue EU ohne Polen
    "Wir denken an einen europäischen Vertrag, in dem neue Vereinbarungen zwischen den Mitgliedsstaaten und der EU-Kommission festgeschrieben werden. Sollten wir darüber hinaus bei der EU-Führung Fehler im Zusammenhang mit dem Brexit erkennen, dann müssten die betroffenen EU-Politiker entsprechende Schlussfolgerungen daraus ziehen. Damit neue Politiker und Experten die Verhandlungen führen, die mit den Fehlern und der Bürde der Brexit-Niederlage nicht belastet sind. In diese Richtung werden unsere Vorschläge gehen."
    Großbritannien sollte nicht zu einem schnellen Austritt aus der EU gezwungen werden, betont Witold Waszczykowski. Eine Bemerkung, die aus polnischer Perspektive durchaus Sinn macht. Zumal rund eine halbe Million polnischer Migranten damit rechnet, die britischen Inseln nunmehr verlassen zu müssen. Je länger sich die Austrittsverhandlungen also hinziehen, so die Vermutung, umso größer die Chancen der Betroffenen, am Ende doch noch eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen.
    Wobei langfristig betrachtet, gibt Oppositionspolitiker Ryszard Petru zu bedenken, könnte sich die Situation ganz anders entwickeln: "Kaczynskis Vorschlag neue EU-Verträge zu schließen, schwächt nicht nur die Europäische Union und Polen, sondern ist auch gegen die polnische Staatsräson. Die Vorschläge neuer Traktate werden durch die Gründerstaaten abgelehnt. Man muss also ein starkes 'Nein' zu den Vorschlägen von Jaroslaw Kaczynski formulieren, denn sein endgültiges Ziel ist in Wirklichkeit, Polen aus der EU zu führen."
    Behauptungen die Jaroslaw Kaczynski weit von sich weist. Wer ihn aber kennt, weiß, wie viel wert entsprechende Zusicherungen sind. Wobei am Ende, sagen Regierungskritiker in Polen, werde nicht Kaczynski das Land aus der EU führen, sondern vielmehr eine neue EU ohne Polen entstehen. Auch deshalb versucht die Warschauer Regierung krampfhaft, ein Gegengewicht zu Deutschland und Frankreich zu schaffen. Ohne dabei offenbar zu bedenken, dass im Falle eines Kenterns die Fliehkräfte Polen aus dem EU-Boot am allerschnellsten hinauskatapultieren könnten.