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Polen und Ukraine
Dunkle Geschichte eines blutigen Sonntags

Vor 73 Jahren erreichte das Massaker von Wolhynien seinen Höhepunkt: Am "Blutsonntag" ermordeten ukrainische Nationalisten viele Tausende polnische Zivilisten. Viele Polen fordern, dass das polnische Parlament, die Sejm, dies als Völkermord bezeichnet. Doch die Regierung sträubt sich - und an die ukrainischen Opfer denkt auf polnischer Seite dabei fast niemand.

Von Florian Kellermann | 11.07.2016
    Polen gedenkt der Toten der Wolhynien-Massaker vor 70 Jahren am 11.07.2013
    Gedenkkreuz für das Wolhynien-Massaker am 11. Juli 1943. (picture-alliance / dpa / Rafal Guz)
    Eine Demonstration vor dem polnischen Parlament gegen die rechtskonservative Regierungspartei PiS. Viele der rund 300 Menschen, die hier aufgebracht rufen, haben die PiS gewählt. "Verrat, Verrat", skandieren sie. Sie sind wütend, weil das Parlament den 11. Juli bisher nicht zu einem gesetzlichen Feiertag erklärt hat, zu einem Gedenktag für das sogenannte Massaker von Wolhynien. Zu ihnen und für sie spricht der Pfarrer Tadeusz Isakowicz-Zaleski:
    "Der 11. Juli ist ein heiliges Datum. Das ist der Tag, an dem die Hundertschaften der UPA, der ukrainischen Aufstandsarmee, unterstützt von der ukrainischen Zivilbevölkerung, 100 polnische Dörfer angegriffen haben. Das war ein Sonntag, weil klar war, dass die Polen da in die Kirche gehen. Die Menschen wurden in den Kirchen getötet, während der Heiligen Messe. Viele Priester wurden mit Sensen zerstückelt, direkt am Altar."
    "Blutsonntag" nennen die Polen diesen Tag vor 73 Jahren, es war der schlimmste Tag des Massakers. Damals, im Zweiten Weltkrieg, hatte die deutsche Wehrmacht die heutige Westukraine besetzt. Die ukrainische Aufstandsarmee UPA vertrieb die polnische Zivilbevölkerung. Sie wollte das Gebiet, das bisher zu Polen gehört hatte, nach dem Krieg für die Ukraine beanspruchen. In Wolhynien und anderen Regionen mordeten Angehörige der UPA dabei zigtausende polnische Zivilisten. Daran, dass auch polnische Nationalisten Ukrainer töteten, wenngleich weit weniger, wird in Polen dagegen selten erinnert.
    Zur Demonstration vor dem Sejm kam auch Stanislaw Zolkiewicz, Er war damals ein Kind und lebte in Wolhynien. Sein Dorf Pnikut wurde verschont, eine Bürgerwehr schützte es. Aber die Kunde von den Verbrechen drangen auch nach Pnikut.
    "Fast jede Nacht haben die Kirchenglocken geläutet, weil die Ukrainer angegriffen haben. Und ich musste mich verstecken. Ich will nichts hören von einer Verbrüderung mit den Ukrainern, so lange, bis sie die damaligen Morde verurteilen. Doch danach sieht es nicht aus."
    Der Jahrestag des Blutsonntags schlägt diesmal besonders hohe Wellen in Polen. Grund ist die Machtübernahme der rechtskonservativen Partei PiS im vergangenen Herbst. Der 81-jährige Stanislaw Zolkiewicz:
    "Kaczynski, der Parteivorsitzende, hat die Ereignisse als Völkermord bezeichnet. Als sie in der Opposition war, hat die PiS ein entsprechendes Gesetz vorbereitet. Das sollte sie jetzt verabschieden. Völkermord ist ein Begriff des internationalen Rechts, deshalb verlangen wir das."
    Ukraine versucht, Wogen zu glätten
    Die Ukraine versucht indes, die Wogen zu glätten. Präsident Petro Poroschenko verließ am Freitag den NATO-Gipfel in Warschau, um an einem Denkmal für die Wolhynien-Opfer Blumen niederzulegen. Dabei ging er demonstrativ auf die Knie. Schon zuvor hatten ukrainische Ex-Präsidenten, Intellektuelle und Kirchenvertreter einen Brief verfasst, mit der Formel: "Wir bitten um Vergebung - und vergeben selbst". Den Begriff Völkermord vermeidet der Brief jedoch.
    Dass viele Polen auf solche Versöhnungsgesten genau deshalb nicht eingehen wollen, hält der ukrainische Historiker Oleksandr Sintschenko für falsch:
    "Nur wenige Polen sind bereit, auch der ukrainischen Opfer des damaligen Konflikts zu gedenken. Diese werden damit als Opfer zweiter Klasse abgehandelt. Das ist nicht hinnehmbar, aus christlicher und allgemein menschlicher Perspektive. Und es ist die entscheidende Frage."
    Bisher hatte die polnische Regierungspartei PiS vor, im Sejm nur einen Beschluss zu fassen, der an die Opfer der Vorgänge in Wolhynien erinnert. Ihr Kalkül: Sie will die Beziehungen zur Ukraine nicht belasten. Ende der vergangenen Woche aber haben die Abgeordneten im Oberhaus des Parlaments, dem Senat, den Druck erhöht. Mit den Stimmen der dortigen PiS-Abgeordneten appellierten sie an den Sejm, doch ein Gesetz zu verabschieden und die Vorgänge vor 73 Jahren als Völkermord zu verurteilen.
    Aber auch einige ukrainische Politiker gießen Öl ins Feuer - und konterkarieren damit die Versöhnungsgesten von Präsident Poroschenko. Der Stadtrat von Kiew beschloss vor kurzem, eine wichtige Straße in Bandera-Prospekt umzubenennen. Bandera war der Anführer der ukrainischen Aufstandsarmee UPA.