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Polen und Ukraine
Vorsichtige Annährung im Wolhynien-Streit

Seit Herbst 2015 trifft sich eine Gruppe ukrainischer und polnischer Wissenschaftler, um die gemeinsame Geschichte rund um die blutigen Ereignisse von Wolhynien aus dem Jahr 1943 aufzuarbeiten. Denn trotz einer gemeinsamen Erklärung beider Regierungen aus dem Jahr 2003, ist die polnisch-ukrainische Sicht auf die Vergangenheit sehr verschieden.

Von Florian Kellermann | 29.03.2016
    Polen gedenkt der Toten der Wolhynien-Massaker vor 70 Jahren am 11.07.2013
    Polen gedenkt der Toten der Wolhynien-Massaker vor 70 Jahren am 11.07.2013 (picture-alliance / dpa / Rafal Guz)
    13 Jahre ist es inzwischen her, dass die Parlamente von Polen und der Ukraine eine gemeinsame Erklärung abgaben. Damals jährten sich die blutigen Ereignisse in Wolhynien zum 60. Mal. Von einer "Tragödie beider Nationen" ist die Rede, von gegenseitiger Schuld. Auf ukrainischer Seite hatte der heutige Präsident Petro Poroschenko verhandelt:
    "Wir waren damals so weise, und ich hoffe, das bleibt so, uns auf die universelle Formel zu einigen: Wir vergeben und bitten um Vergebung. Diese Erklärung sollte ein und für alle Mal die Frage klären, wie wir diesen tragischen Abschnitt unserer gemeinsamen Geschichte beurteilen."
    Unterschiedliche Sichtweisen
    Für die meisten Ukrainer war das ausreichend, sie sehen das Kapitel als abgeschlossen an. Anders viele Polen. Sie nennen die Ereignisse in Wolhynien im Jahr 1943 nicht "Tragödie", wie in der gemeinsamen Erklärung, sondern "Massaker". Außerdem sei die Schuld keineswegs gleich verteilt, sagt der Historiker Grzegorz Motyka vom polnischen "Institut für das nationale Gedächtnis":
    "Das Vorgehen der Ukrainischen Aufstandsarmee hatte gigantische Ausmaße. Sie wollte ein riesiges Gebiet ethnisch säubern. Polnische Historiker verneinen nicht, dass sich auch polnische Partisanen grausam verhielten. Auch sie haben ganze Dörfer ermordet. Aber das Verhältnis ist in etwa so: 100.000 getötete Polen zu ein paar tausend, vielleicht 10.000 getöteten Ukrainern."
    Wie viele polnische Historiker hält Motyka das Vorgehen der Ukrainischen Aufstandsarmee, kurz UPA, damals für einen Völkermord an Polen. Immer wieder diskutiert das polnische Parlament über diese Bezeichnung. Vor drei Jahren sprach es in einer neuen, diesmal eigenen Erklärung von einer "ethnischen Säuberung mit Merkmalen eines Völkermords".
    Aber auch die Ukrainer taten einiges, um das Thema nicht ruhen zu lassen. Das Parlament erließ ein Gesetz, das die UPA-Veteranen als Freiheits-Kämpfer ehrt.
    Die Irritationen auf beiden Seiten nehmen zu. Deshalb hat im vergangenen Herbst eine Gruppe von Historikern ihre Arbeit aufgenommen. Jeweils sechs Wissenschaftler aus Polen und der Ukraine hätten sich schon zweimal getroffen, sagt Grzegorz Motyka.
    "Ich hoffe, unsere Standpunkte nähern sich nach und nach an. Wenn ich die Bücher der ukrainischen Kollegen lese, dann finde ich da Aussagen, die nicht einfach inakzeptabel sind, sondern die mich emotional verletzen. Bei so einem Treffen können wir solche Dinge zumindest erörtern."
    Umstritten ist nicht nur, wie viele polnische Zivilisten die UPA tötete. Die ukrainischen Historiker wollten auch, dass der Kontext der zur Sprache kommt. Die deutsche Besatzung habe ebenso eine Rolle gespielt wie die von Osten anrückende Rote Armee, sagt Ivan Patryljak, Dekan der Historischen Fakultät an der Universität Kiew:
    "Als die deutschen Besatzer, die Gestapo, im März 1943 UPA-Partisanen bekämpfte und dabei Zivilisten tötete, dann beteiligten sich polnische Einheiten daran oder die polnische Zivilbevölkerung half zumindest als Übersetzer und Landeskundige. Die UPA hat ihre Verbrechen deshalb als Rachemaßnahmen verstanden."
    Kriegsverbrechen habe die UPA begangen, so Patryljak, aber keine geplante ethnische Säuberung.
    Keine rein wissenschaftliche Diskussion
    Die Diskussion der Wissenschaftler ist keineswegs rein akademisch. Zum einen will die polnische Regierung, die seit Herbst amtiert, das Thema auf die Tagesordnung setzen. Das Parlament wird über einen Gedenktag für die Opfer abstimmen. Im Gesetz wird wohl auch der Begriff "Völkermord" fallen. Zum anderen versuchten russische Auslandsmedien, in Polen Stimmung gegen die Ukraine zu machen, sagt Ivan Patryljak.
    "Russland versucht, diese heiklen Fragen zu nutzen, um die polnische Unterstützung für die Ukraine zu schwächen. Moskau freut sich sicher nicht, wenn sich die Historiker treffen, austauschen und, statt um den Apfel zu zanken, ihn gemeinsam aufessen."
    Spätestens im Oktober wird auch die polnische Gesellschaft wieder intensiv über die Morde der UPA diskutieren. Dann kommt ein lange angekündigter historischer Film mit dem Titel "Wolhynien" in die Kinos.