
Zwei Siegerstimmen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Emmanuel Macron und Donald Trump. Der eine will sein Land öffnen nach Europa, der andere sein Land eher abschotten gegen den Rest der Welt. Zwei Seiten eines überschwänglichen Prädikats. Die Rede ist von charismatischen Führern in der Politik.
Beide - Macron und Trump - scheinen das Charisma-Spektrum abzudecken, im Guten wie im Bösen, vom Heilsbringer bis zum Unruhestifter. Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken beschreibt das Charisma des Himmelsstürmers im Elysée: "Ich bin eigentlich ein großer Fan von Charisma. Das wirklich charismatische Moment an Macron, was ihn von den anderen Beispielen unterscheidet, nämlich, dass Macron, der ist in seiner Rhetorik eben nicht angeberisch, er ist nicht machistisch, er ist nicht selbstbeweihräuchernd, selbstbestätigend. Dem ist es wirklich gelungen, bescheiden zu sein und sich in diese republikanische Rhetorik als 'Sohn des Landes' einzuschreiben. Der versucht nicht, Väter zu morden, der versucht nicht Autorität zu usurpieren, der versucht nicht, die Leute wegzudrängen".
Für den 45. Präsidenten der USA gilt das alles nicht. Im Gegenteil. Keine Mission, nur Reflexe, keine Versöhnungsofferten, nur Kampfansagen, sogar die Drohung mit "Zorn und Feuer": "Fire and fury, like the world has never seen".
Wolfgang Herles, erfahrener TV-Politikbetrachter, beschreibt Trumps Charisma: "Ich sehe, dass wir eine völlig neue Charisma-Diskussion haben - Dank Donald Trump. Der hat gewonnen, die Wahl, nicht weil er politisch besonders aufregende Ideen hatte, er hatte eigentlich gar keine politische Idee außer, dass er es anders machen möchte als bisher. Aber er hatte eine Ausstrahlung, ein Charisma, das das Signal ausstrahlte: Ich schere mich nicht um die politische Kultur, wie sie dieses Land bisher besetzt hält, sondern ich schaffe meine eigene politische Kultur."
Politiker gelten in der Regel als "legitime Dilettanten". Sie sind unsere Stellvertreter, die in der Regel nicht viel Ahnung haben, aber unsere Meinungen und Wertvorstellungen repräsentieren. Gerade in der Zunahme solcher Stellvertreter sieht der Frankfurter Alltagssoziologe Tilman Allert eine der großen Auszeichnungen der modernen Demokratie. Alles andere würde auf eine seelenlose Experto- oder Technokratie hinauslaufen. Doch die bloße Stellvertretung allein genügt dem Volk häufig nicht. Tilman Allert: "Darüber entsteht in der Politik eigentlich ein notorischer Wunsch, es möge doch irgendwie ein Charisma-Träger kommen, der mit dieser kompromissorientierten Dauerrederei aufräumt und jetzt sagt, wo es lang gehen soll. Es möge doch jemanden geben, der alles mit großer Lässigkeit, Verve zugleich und großem Entscheidungswillen durchboxt oder durchbringt".
Das griechische Wort Charisma meint Gnadengabe. In der jüdisch-christlichen Tradition Gottesgeschenk, Weisheit, Wundertätigkeit oder Überzeugungskraft. Zu charismatischen Prototypen zählen missionarische Propheten, siegreiche Feldherren und sprachgewaltige Demagogen. Diese hat der Soziologe Max Weber in seiner klassischen Herrschaftstypologie um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert als "außeralltäglich" beschrieben. Wegen ihrer zwingenden Kraft, die auf Unwiderstehlichkeit, Überlegenheit und Gelassenheit gründet. Dazu Gangolf Hübinger, Max-Weber-Experte an der Viadrina in Frankfurt-Oder:
"Charisma selbst ist eine Erscheinungsform, die sehr labil ist, die sehr auf emotionaler Vergemeinschaftung beruht, als das Zuschreiben, jemand ist ein charismatischer Führer, und er schart Jünger, er schart Anhänger, er schart eine Gefolgschaft um sich. Und diese Beziehung zwischen Führer und Gefolgschaft muss in irgendeiner Weise stabilisiert werden".
In seiner inflationären Verwendung wird heutzutage leicht übersehen, dass Charisma streng genommen keine Eigenschaft darstellt. "Kein Mensch hat Charisma. Es geht immer darum, dass andere Menschen einem Menschen diese Fähigkeiten zuschreiben, also ein Art Heilserwartungen auf diese Person projizieren", meint Dirk Kaesler, Max-Weber-Biograph aus Marburg, der darauf hinweist, dass Charismatiker auch und gerade gewalttätige Führer oder Despoten sein können, weshalb Kritiker Webers Theorie auch gern als eine intellektuelle Steilvorlage für den späteren Hitler werten. Dem 1920 verstorbenen Heidelberger Soziologen schwebten andere Fallbeispiele vor.
Charisma in Demokratien unterliegt im Alltag einem immer rascheren Verschleißprozess. Deshalb hinterlassen auch demokratische Charismatiker - wie zum Beispiel John F. Kennedy, Willy Brandt oder Barack Obama - wegen der überschießenden Erwartungsflut ihrer euphorisierten Anhängerschaft mitunter Ernüchterung und Enttäuschung.
In Deutschland ist vieles anders. Für Politiker mit Visionen gilt als Running Gag noch immer Helmut Schmidts Ratschlag, besser zum Arzt zu gehen. Sein Parteifreund und Rivale Willy Brandt war ein solcher Visionär, dem als einzigem Bundeskanzler - nach Webers klassischer Definition - das Attribut charismatisch attestiert wurde. 1988 fasste er seine Lebensleistung mit den Worten zusammen: "Mein eigentlicher Erfolg war, denke ich, mit dazu beigetragen zu haben, dass in der Welt, in der wir leben, der Name unseres Landes, Deutschland also, und der Begriff des Friedens wieder in einem Atemzug genannt werden können. Das war nicht selbstverständlich".
Doch als Willy Brandt sich im Zenit befand, spotteten sie über "Willy Wolke". Die Dichtersentenz "Gut die Zeiten, die keine Helden nötig hat!", wurde zum gefälligen Motto der Bonner Republik. Und das hat historische Gründe, wie Barbara Vinken bemerkt: "Ich will sagen, dass Deutschland ein gebranntes Kind ist, was Charisma angeht. Der Faschismus als Ästhetisierung der Politik ist ja als charismatische Bewegung angetreten, genauso Italien, das zum einen, und zum anderen kann man vielleicht das Charisma in gewisser Weise mit der Mode vergleichen. Wir sind ja auch kein Volk, das besonders modeaffin, und das sehr modemisstrauisch ist, also sind wir auch extrem Charisma-misstrauisch. Wir denken dann: Mein Gott, das soll jetzt manipuliert werden und wir fühlen uns verführt. Da sind wir ganz heikel, ganz spröde und möchten das eigentlich überhaupt und in gar keinem Falle."
In der Tat: Die dezidiertesten Nicht- oder Anti-Charismatiker haben in der Bundesrepublik die längsten Amtszeiten erreicht. Konrad Adenauer, eher der patriarchalische Typ, 14 Jahre, Helmut Kohl, der von seinen Gegnern häufig als Anti-Charismatiker schlechthin verspottet wurde, sogar 16 Jahre; und Angela Merkels Regentschaft geht nun auch schon ins 13. Jahr. Über 40 Jahre also - zwei Kanzler und eine Kanzlerin. Stabilität statt Charisma?

"Sie hat es nicht. Das ist so einfach wie nur irgendwas. Und sie wäre die erste, glaube ich, die sehr misstrauisch wäre und geradezu Vorbehalte hätte, wenn man ihr das zuschreiben würde. Angela Merkel ist die geradezu Verkörperung dessen, was der Max Weber mit rational-legaler Herrschaft meinte. Sie beherrscht dieses Handwerk mittlerweile exzellent. Es geht nicht um Heilsverkündigungen, es geht nicht um einen neuen Messias, sondern es geht um jemand, der dieses politische Geschäft mit all seinen politischen Schwierigkeiten professionell gut und ruhig und sachlich beherrscht".
Doch im September 2015 schien die Geschichte auch für Angela Merkel ein unverhofftes Türchen zu öffnen. Man stilisierte sie zur "Mutter Teresa der Fluchtbewegung", als sie von einem "moralischen Imperativ" sprach und deshalb für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde: "Das Motiv, in dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben soviel geschafft. Wir schaffen das. Wir schaffen das. Und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden".
Damit habe uns eine politische Führungsfigur mit unserer eigenen Geschichte versöhnt, gerieten Willkommenseuphoriker ins Schwärmen. Gangolf Hübinger: "Man hat Angela Merkel aus französischer Perspektive einen kurzen Moment in den Septembertagen als Charismatikerin und mit dieser Mission gefeiert. Was dann aber nicht gelungen ist, ist in irgendeiner Weise eine Veralltäglichung dieses "Wir schaffen das!" zu erreichen. Die Verwaltungsstäbe waren überfordert. Und es hat nicht die Art von sozialer Bewegung stimuliert, die es gebraucht hätte, um das 'Wir schaffen das!' umzusetzen."
Derweil werden die Kritiker der Kanzlerin nicht müde, ihr Nicht-Charisma als Ausdruck des beklagten Stillstands im Lande zu beschreiben. Denn vielen gilt sie als Zauderin, zwar hyperpragmatisch, aber selten offensiv, ihre als alternativlos dargestellte Politik gleichsam zum Schicksal erklärend.
Doch wie ist es überhaupt um Charismatikerinnen in der Politik bestellt? Was hatten zum Beispiel Evita Peron, Indira Gandhi oder Petra Kelly, was Angela Merkel nicht hat? Schon weil sie die einzige Frau in diesem Amt in Deutschland sei, strahle sie als "Einzelstück" Authentizität und Charisma aus, schwärmte eine grüne Parlamentarierin. Frausein als Charisma in männerdominierten Domänen?

Und die meist selbst ernannten männlichen Charisma-Anwärter, von denen es inzwischen einige gibt? Im Wahljahr schickte sich zunächst einer von draußen an, jene Lücke füllen zu wollen, wie sie Merkel zu offenbaren scheint: "Wenn ein Hauptquartier einer Partei oder einer Regierungszentrale das Absinken der Wahlbeteiligung mit System betreiben, mit Vorsatz als wahltaktische Maßnahme, dann nennt man das in Berliner Kreisen vielleicht 'asymmetrische Demobilisierung'. Ich nenne das einen Anschlag auf die Demokratie".
Doch Martin Schulz, der Shooting Star der Sozialdemokraten im Frühjahr 2017, schaffte es nicht zum Charismatiker, sondern nur zum guten Onkel, auch wenn die Stimmung im Lande damals günstig schien. Die SPIEGEL-Essayistin Christiane Hoffmann testet männliche Charisma-Anwärter: "An dem anfänglichen Erfolg von Schulz hat man genau diese Sehnsucht nach einem neuen Typ Politiker gemerkt. Ich glaube, das war ja sehr viel Projektion, das war ja unklar, wer ist dieser Mann, der da aus Europa kommt. Man hat ihm einen großen Vorschuss gegeben, wie man in den Umfragen gesehen hat. Und Schulz hat es nicht einlösen können. Ich glaube, dass der gute Onkel nicht der Typ ist, der im Moment gefragt wird. Der gute Onkel hat kein Charisma. Der gute Onkel ist eine männliche Variante von Angela Merkel".

Aber alle Differenzierungen des Charismas dieser Art machen am Ende keinen Sinn. Einer Person wird diese Qualität zugeschrieben. Punkt. Und was sie damit macht, ist jenseits solcher Zuschreibungen. Kommen wir nochmals zurück zu Emmanuel Macron und Donald Trump. Letzterer beweist für den Weber-Experten Dirk Kaesler gerade die Gefährlichkeit der Kategorie Charisma: "Trump werden charismatische Fähigkeiten zugeschrieben. Das ist eindeutig so. Die haben ihn ins Amt gebracht. Und wie dilettantisch und halsbrecherisch es dann wird, wenn so jemand dann Politik betreibt, das können wir im Moment tagtäglich erleben".
Und bei Macron ist zu beobachten, wie er seiner Entzauberung im Regierungsalltag durch große Reden und feierliche Gesten zu entgehen versucht. Dirk Kaesler: "Wir schauen das mit Interesse und Faszination an, was da jetzt in unserem Nachbarland Frankreich passiert ist. Aber auch da erleben wir tagtäglich schon die Veralltäglichung des Charismas. Charismatische Herrschaft dauert nur eine sehr kurze Zeit. Heute in einer medienbestimmten Gesellschaft vielleicht kürzer als früher, weil man die Erfolge und Misserfolge viel schneller wahrnimmt. Dann kann es zu einer völlig normalen Herrschaft werden mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Dann blättert der Nimbus des charismatischen Herrschers sehr schnell".