Ende Februar gibt es einen Großeinsatz der Bundespolizei am Hamburger Bahnhof Bergedorf. Ein voll besetzter Zug mit 850 HSV-Fans, der vom Auswärtsspiel aus Rostock kommt, wird kontrolliert. Die Beamten suchen Gewalttäter, die ein halbes Jahr vorher eine Auseinandersetzung mit Dortmundern hatten.
Die Fans werden insgesamt sechs Stunden lang im Zug festgehalten, rund 30 mutmaßliche Täter werden identifiziert. Für die Bundespolizei eine verhältnismäßige Maßnahme, für die Anhänger eine völlig haltlose Aktion.
„Darunter waren auch Frauen. Und die Polizei selbst gesteht ein, dass die Kontrolle auf Grundlage einer Auseinandersetzung basierte, in welcher sie ermittelt, wo ausschließlich männliche Tatverdächtige gesucht wurden“, kritisiert Stefan V. vom Fan-Solidaritätsprojekt Braun-Weiße Hilfe.
Fanhilfe wirft Polizei wiederholte Großkontrollen vor
Fanhilfen engagieren sich ehrenamtlich bei Konflikten zwischen Fans mit der Polizei, deshalb möchte Stefan V. anonym bleiben. Sein richtiger Name ist dem Deutschlandfunk bekannt. Sein Vorwurf an die Polizei ist, dass mit solchen Aktionen in der Bundesliga Einsatztaktiken für die anstehende Fußball-Europameisterschaft 2024 trainiert würden:
„Wir machen das fest an der Häufung, die wir erkennen können. Ich will es hier auch noch einmal ein Stück weit verbildlichen. Wir hatten ein Übungsszenario in Hamburg am Bahnhof Bergedorf im Oktober 2023 von Bundespolizei und Landespolizeien. Und dort wurden entsprechende Kontrollen und auch das Begleiten von Fans durch die Polizei geübt. Wenige Monate später haben wir genau dort an diesem Bahnhof eine Großkontrolle wieder der Bundespolizei mit Unterstützung der Landespolizeien!“
Es geht um die erwähnte Kontrolle der 850 HSV-Fans über mehrere Stunden. Eine Deutschlandfunk-Anfrage zu diesem Einsatz und dem Vorwurf lässt die Bundespolizei unbeantwortet. Die Landespolizei Hamburg verweist auf Anfrage an die zuständige Bundespolizei.
Beinbruch bei Polizeiübung
Andere Beispiele deuten darauf hin, dass sich die Polizei größtenteils auf Fans als Störer bei der EURO 2024 vorbereitet. Ein Artikel in der Fachzeitschrift „Die Streife“, herausgeben vom Innenministerium Nordrhein-Westfalens, beschreibt eine Praxisübung der Polizei im Umfeld eines Fußballstadions. Die dazu gehörige Überschrift kündigt markant an, dass diese Übung mit „Störern aus den eigenen Reihen“ umgesetzt worden ist.
Zudem ist von einem Szenario die Rede, bei dem es im Oktober 2022 richtig zur Sache gegangen sei. Auf Deutschlandfunk-Nachfrage betont das NRW-Innenministerium, dass die Einsatzerfahrungen, die im Ligaspielbetrieb gemacht werden, in den Übungen aufgegriffen und trainiert würden.
Für die Braun-Weiße Hilfe erinnern diese Praxisübungen allerdings stark an die Einsätze der Polizei in der Bundesliga. Wie zuletzt bei einer Großübung in Köln: „Dort wurde einem Polizisten, welcher im Rahmen der Großübung selbst einen Fan spielte, das Bein gebrochen durch die Kolleginnen und Kollegen, weil diese anscheinend genauso glaubten vorgehen zu müssen, wie sie es in der Praxis tun. Und das ist das, was wir gerade erleben – übermäßigen polizeilichen Gewalteinsatz, der entsprechend problematisiert wird durch die Fanszene.“
Experten kritisieren Stigmatisierung: Fans als Störer
Das nordrhein-westfälische Innenministerium schreibt dazu, dass diese Übungen so weit wie möglich realistisch nachgestellt würden, um einen echten Trainingseffekt zu erzielen. Die Kritik daran, auch von externen Beobachtern: Genau solche Übungen, zumal mit eindeutiger Stigmatisierung der Fans, würden die Debatte um eine Blaupause von Polizeieinsätzen für die EURO hierzulande befeuern.
„Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um Vermutungen, die seitens der Fanorganisation der aktiven Fanszene immer wieder ins Feld geführt werden“, so Harald Lange von der Universität Würzburg, der zu Fußballanhängern forscht.
„Wir beobachten das seit ungefähr einem halben Jahr, seitdem steht dieser Vorwurf im Raum. Und erstaunlicherweise gibt es seitens der Polizeiführung hierzu kein glasklares Dementi, was aus meiner Sicht enorm wichtig wäre, um einen möglichen Zweifel in diesem Bereich, der definitiv vorhanden ist, von vornherein zu zerstreuen.“
Fanforscher: Vermutung der Fans muss aufgeklärt werden
Denn die Debatte habe längst Fahrt aufgenommen, so Lange. Bereits Mitte Januar ist diese Frage im Sportgespräch des Deutschlandfunks diskutiert worden, in dem unter anderem Jochen Kopelke zu Gast war. Er ist der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei und war sich des Vorwurfs der Anhänger schon bewusst:
„Ja, auch ich habe jetzt mehrfach diese Frage gestellt bekommen. Wir erleben, dass bei Europameisterschaft und Weltmeisterschaft ganz andere Zuschauer in den Stadien sitzen als im Alltagsgeschäft der ersten und zweiten Bundesliga. Das heißt, wir haben andere Voraussetzungen, insofern kann das gar kein Trainingsfeld sein!“
Damit weist er den Vorwurf zurück. Für Fanforscher Harald Lange ist das dennoch kein klares Dementi. Für ihn muss diese Vermutung der Fans schnellstmöglich aufgeklärt werden, damit der Konflikt zwischen den Parteien nicht noch weiter eskaliere:
„Wenn wir diese Information nicht hieb- und stichfest haben, das führt nur dazu, dass sich die Fronten zwischen Fans und Polizei weiter verhärten. Denn wir wissen aus den letzten Jahren der Präventionsforschung zum Gewaltthema, dass gerade das Binnenverhältnis zwischen Fans und Polizei ein ganz, ganz wichtiger Eckpfeiler ist, um Sicherheit im Stadion aufzubauen.“