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Porträt des Fotografen Gary Suson
Das Puzzle von 9/11

Vor 15 Jahren stürzten in New York die beiden Türme des World Trade Centers ein, nachdem Terroristen zwei Flugzeuge in die Fassaden gesteuert hatten. Gary Suson hat bis heute mit den Folgen zu kämpfen: Er war 2001 offizieller Fotograf der New Yorker Feuerwehr und dokumentierte von der ersten Stunde an die Folgen der Anschläge.

Von Thilo Kößler |
    Beide Türme des brennenden World Trade Center in New York stürzen nach dem Terror-Anschlag am 11.9.2001 in sich zusammen.
    Beide Türme des brennenden World Trade Center in New York stürzen nach dem Terror-Anschlag am 11.9.2001 in sich zusammen. (picture-alliance / dpa)
    New York City, 420 West 14. Straße: Hier hatte Gary Suson einmal sein Fotostudio. Hier klopfte am Vormittag des 11. Septembers der Nachbar an die Tür im zweiten Stock. Hier stürmte Gary Suson mit seiner Kamera auf die Dachterrasse und fotografierte den Einsturz der Zwillingstürme des World Trade Centers vor dem Hintergrund eines wolkenlosen, stahlblauen New Yorker Herbsthimmels. Gary Suson war der Fotograf der New Yorker Feuerwehr. Und er ahnte nicht, wie dieser Tag sein Leben verändern würde.
    "Mein Nachbar war ein Geschäftsmann. Und er klopfte total laut an meine Tür und sagte: Gary, schnapp Dir die Kamera, geh aufs Dach, das World Trade Center wird angegriffen. Ich dachte erst, der macht einen schlechten Scherz, aber dann polterte er gegen die Tür und ich ging aufs Dach und sah diesen entsetzlichen Anblick."
    Heute steht vor dem Eingang des schlanken Apartmenthauses in der 14. Straße ein kleines Hinweisschild: 9/11 Museum steht drauf. Gary Suson hat dieses Museum in seinem ehemaligen Fotostudio eingerichtet. Das Museum ist so groß wie ein Wohnzimmer. Die Fenster sind abgedunkelt. An den Wänden Fotografien, die Gary Suson am Ground Zero machte: das Kalenderblatt mit dem Datum des 11. Septembers, einem Dienstag. Die Uhr, die um 10:02 Uhr stehenblieb. Erschöpfte Feuerwehrmänner; ein Pfarrer, der einen Gottesdienst unter einem Kreuz hält, das der glühende Stahl geformt hatte.
    Fundstücke von Ground Zero
    In den Vitrinen sind Fundstücke zu sehen, die Gary Suson aus dem Schutt barg. In sieben Monaten der Arbeit auf Ground Zero zusammengetragen wie ein zufälliges Puzzle des Schreckens: Staubige Handschuhe. Mobiltelefone, verbrannt und geschmolzen. Ein Teddybär, den offenbar jemand auf seinem Schreibtisch stehen hatte. Und die angesengte Seite einer aufgeschlagenen Bibel. Sie zeigt Vers 11 der Genesis: den Turmbau zu Babel. Das entdeckte Gary aber erst, nachdem er das Foto gemacht hatte. Und das war der Grund, weshalb er seinen Job nicht einfach aufgab und weglief aus diesem Sodom und Gomorrha.
    "The bible page is very special to me, because it marks when I was gonna quit ground zero, stop working there and when I found the bible page I decided to stay."
    Gary sitzt im Dachgarten über dem 24. oder 25. Stock eines Apartmenthauses in unmittelbarer Nähe zu Ground Zero. Gary ist 36, er trägt Jeans und ein schwarzes T-Shirt, eine dunkle Hornbrille, die Haare kurz geschnitten. Gary beugt sich vor und zeigt auf den Bildband, der vor ihm liegt: Requiem, heißt er, mit seinen Fotos vom Ground Zero. Auf der Titelseite ist ein New Yorker Feuerwehrmann zu sehen, der im Schutt kniet und betet.
    Ein Feuerwehrmann nach dem Einsturz des World Trade Centers zwischen Rauch und Trümmern zu sehen
    Ein Feuerwehrmann nach dem Einsturz des World Trade Centers zwischen Rauch und Trümmern zu sehen (AP / U.S. Navy, Photographer's Mate 2nd Class Jim Watson, File)
    "Es war etwa sieben Uhr morgens. Ich hatte die ganze Nacht Fotos gemacht und gerade meine Ausrüstung zusammengepackt. Und dann habe ich doch noch ganz schnell dieses Foto machen können, dass den betenden Feuerwehrmann zeigt, bevor er wieder daran geht, nach weiteren Opfern zu graben."
    Gary sagt, er sei gar nicht der coole Fotograf, der alles um sich herum vergisst, wenn er nur ein attraktives Objekt vor die Linse bekommt. Manchmal konnte er einfach nicht mehr – manchmal konnte er einfach nicht mehr Ground Zero betreten.
    "People don´t know this, but I inofficially quit many times. I just stopped showing up. I´ve had enough."
    Begleitung der Feuerwehrleute bei der Arbeit
    Gary begleitete die Feuerwehrleute bei ihrer Arbeit, dokumentierte die Rettungsversuche und die Bergung von Toten. Oder von Gliedmaßen. Oder von verbrannten Hautresten, um die DNA zu sichern und den Angehörigen das Gefühl zu geben, irgendetwas bestatten zu können. "Ich war komplett überfordert", sagt Gary. Denn er war viel mehr als Fotograf. Wenn er nicht Bilder machte, grub er an der Seite der Feuerwehrleute mit nach Opfern. Und sie zeigten ihm, worauf er zu achten habe.
    "Ich roch nach verbranntem menschlichen Fleisch. Der Geruch brannte sich förmlich in meine Haut ein. Meine Hände waren dunkelbraun, ich habe sie gewaschen und gewaschen, aber das ging nicht weg. Ich dachte wirklich, ich würde den Verstand verlieren – um ehrlich zu sein: Ich habe den Verstand verloren."
    Gary stand – wie viele am Ground Zero – die Apokalypse nicht unbeschadet durch. Drei Jahre dauerte seine Therapie wegen des posttraumatischen Belastungssyndroms. Heute kommt er damit einigermaßen klar, aber der 11. September habe ihn völlig verändert, sagt Gary.
    "Manchmal nehme ich mich selbst einfach nicht wahr. Ich gehe mit ein paar Leuten aus und denke mir: Du gehörst doch gar nicht dazu. Irgendetwas in mir drin löst so einen Effekt aus: Wie soll ich sagen. Ich werde mich wahrscheinlich nie mehr richtig normal fühlen."
    Erstes Interview seit fünf Jahren
    Das Interview setzt Gary zu. Er habe seit fünf Jahren keines mehr gegeben, sagt er. Und doch sei es wichtig, zu erzählen. "Weißt du, was ich in den ersten Tagen nach dem 11. September gemacht habe", fragt er. "Ich habe versucht, das ganze Chaos zu sortieren. Ich habe es wie ein Puzzle zusammengesetzt."
    "Ich habe auf einem Blatt Papier meine Fotos in Kapitel unterteilt: Feuerwehrleute. Frauen auf Ground Zero. Tunnel der Untergrundbahn. Kreuze. Artefakte. Ich habe das ganze Chaos auf eine einzige Grafik herunter gebrochen."
    Das sei ein Versuch gewesen, sich langsam ein Bild zu machen von dem unbeschreiblichen Geschehen. Ein Versuch, das ganze Ausmaß dieser Katastrophe zu verstehen. So kam Gary auch auf die Idee mit dem Museum. Er wollte Details zeigen. Vermeintliche Kleinigkeiten. Heute fügen sich dort die Einzelteile aller Fundstücke zu einem Ganzen: Es ist das Puzzle eines Traumas, sagt Gary. Diese Wunde kann nur heilen, wenn man die Geschichte hinter jedem Artefakt erzählt.
    "You better communicate the story behind every single artefact."