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Prekäre Lage für Berufseinsteiger

Unsicher heißt auf Italienisch "precari" und steht für Menschen, die keinen festen Job haben, miserabel bezahlt und ohne sozialen Schutz sind. Die Situation dieser meist jungen Menschen zu verbessern, war ein erklärtes Ziel der italienischen Arbeitsmarktreform, die seit dem 18. Juli in Kraft ist.

Von Nadja Fischer | 03.08.2012
    Der junge Cantautore Simone Cristicchi besingt die typische Laufbahn einer Precaria, einer Frau, die mit einem Hochschulabschluss und vielen Zukunftsplänen ins Berufsleben startet und schließlich als Telefonistin im Callcenter landet - für 400 Euro im Monat.

    Giulia Bucalossi teilt das Schicksal der besungenen Frau. Sie ist 34, hat ihr Studium der Politikwissenschaften mit Bravour abgeschlossen und arbeitet seither unter prekären Bedingungen - also zeitlich befristet, schlecht bezahlt und ohne Aussicht auf Rente. Giulia Bucalossi ist Arbeitsmarktexpertin und verdient zurzeit knapp 1000 Euro im Monat.
    In die Arbeitsmarktreform der Regierung Monti setzt Giulia Bucalossi wenig Hoffnung.

    "Es heißt, man wolle uns Prekären den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern und deswegen den Kündigungsschutz lockern. Die Regierung ist überzeugt, dass Unternehmer eher junge Leute fest anstellen, wenn sie sie bei Bedarf auch wieder leicht entlassen können. Das muss man mir erst beweisen. Ich befürchte, dass die Bosse in der momentanen Krise noch mehr Leute entlassen - und sicher nicht mehr Junge fest anstellen."

    Giulia Bucalossi hält der Reform zugute, dass sie gegen die weit verbreitete Scheinselbstständigkeit vorgehen will: Ein Fernsehproduktionsstudio zum Beispiel, das Sozialabgaben spart, indem es seine Kamera- und Tonmänner als Selbstständige für sich arbeiten lässt, soll in Zukunft gezwungen werden, diese Mitarbeiter fest anzustellen. Schön und gut, sagt Giulia Bucalossi: Doch wird die Guardia di Finanza, die Finanzpolizei die Millionen Missbrauchsfälle tatsächlich aufdecken? Kritisch beurteilt Giulia Bucalossi auch einen weiteren Reformpunkt:

    "Mit der Reform müssen Arbeitgeber für uns Precari prozentual fast gleich hohe Sozialabgaben zahlen wie für einen Festangestellten. Das soll befristete Verträge weniger attraktiv machen. Ich glaube nicht, dass das aufgeht. Ein Teil der Arbeitgeber wird auf Schwarzarbeit setzen, um diese Abgaben einzusparen. Andere werden trotz der Reform weiterhin befristete Arbeitsverträge ausstellen und die höheren Sozialabgaben auf uns Precari abwälzen: Wir werden einfach noch weniger verdienen als heute."

    Nicht nur den Precari geht die Arbeitsmarktreform nicht weit genug - auch die Unternehmer sind unzufrieden, wenn auch aus anderen Gründen. Sie hätten sich insbesondere eine radikalere Lockerung des Kündigungsschutzes gewünscht.

    Der Chef des italienischen Arbeitgeberverbands Confindustria hat die Reform kurzerhand als "Blödsinn" abgekanzelt.
    Milder im Urteil ist Pietro Ichino, einer der angesehensten Arbeitsrechtler Italiens und Mitglied des moderat-linken Partito Democratico, welcher die Regierung Monti unterstützt. Ichino fordert seit Jahren die Einführung eines Einheitsvertrages, der den Mitarbeiter nach einer Probezeit automatisch fest anstellt. Eine Idee, die auch Ministerpräsident Mario Monti gefällt, die jedoch von den Gewerkschaften torpediert wurde - weil sie angeblich die Rechte der Festangestellten beschneide. Immerhin, meint Ichino, die Reform mache wenigstens ein paar kleine Schritte in die richtige Richtung. Sie stärke zum Beispiel die Berufslehre als Hauptzugang ins Arbeitsleben.

    "Alle Schülerinnen und Schüler wollen studieren - und finden nach der Universität keine Arbeit. Denn nur für 15 Prozent der Arbeitsstellen in Italien wird ein Hochschulabschluss benötigt. Schreiner, Schneider oder Maschinenbauer indes will niemand mehr werden. In diesen Branchen bleiben viele Stellen unbesetzt. Die Reform will die handwerklichen Berufe mit einer Lehre nach deutschem oder schweizerischem Vorbild aufwerten."

    Das könnte helfen, wenigstens einen Teil der arbeitslosen Jugendlichen ins Arbeitsleben zu integrieren.

    Ein großes Problem aber bleibt: Da die Precari wenig verdienen, zahlen sie kaum etwas in die Rentenkasse ein. Ein sozialer Sprengsatz, denn damit sind künftig immer mehr Italienerinnen und Italiener im Alter von Armut bedroht.