"Über die heutige Arbeit des Zentralkommittees könnte man zusammenfassend sagen: Sie ist bestimmt von einer intensiven Erörterung."
Es war erst die zweite Pressekonferenz ihrer Art in Ost-Berlin im November 1989: Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands informierte nach ihren täglichen Sitzungen die Journalisten im Pressezentrum in der Berliner Mohrenstraße.
Peter Brinkmann, damals Korrespondent der "Bild"-Zeitung in der DDR, ahnte schon vor Beginn der Pressekonferenz, dass im vollbesetzten Saal etwas in der Luft lag an jenem 9. November: "Ich wusste, irgendwas passiert, irgendwas grummelte, das Gefühl hatten wir alle, und das war das Ungewöhnliche, weil man spürte: Sie wollen irgendwas tun. Aber was? Das wusste keiner."
Ein überforderter SED-Bezirkschef
Die Pressekonferenz ging ihren Gang, bis schließlich, nach etwa einer Dreiviertelstunde, das Gespräch auf das Thema "Neues Reisegesetz" kam. Der italienische Journalist Ricardo Ehrmann brachte das Thema als erster auf. Schabowski sagte, dass man den Zustand, dass DDR-Bürger über andere Länder wie Ungarn oder die CSSR ausreisen mussten, für unhaltbar hielt und daher an einem neuen Reisegesetz arbeite.
"Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute, eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen."
Die ganze Pressekonferenz sei von einer gewissen Fahrigkeit und Unruhe geprägt gewesen, erinnert sich Ewald König, der damals für die österreichische Zeitung "Die Presse" aus Ost-Berlin berichtete: "Also es war eigentlich ein Gestammel, er war selber sehr unsicher, er war relativ unkonzentriert, er hat den Sperrvermerk selber nicht gesehen, nicht erwähnt, es war ja vorgesehen, dass diese Nachricht erst um vier Uhr morgens, wenn das DDR-Radio zu senden beginnt, verkündet wird, und er hatte dann auch bemerkt, dass er da einiges losgetreten hat, das ihm das aus der Hand zu gleiten droht, die ganze Pressekonferenz, und das Thema Reisegesetz hat nur sieben Minuten gedauert."
Auf Schabowskis berühmtem Zettel war keinerlei Sperrvermerk zu lesen, obwohl der ja eigentlich geplant war. Schabowski war sichtlich überfordert.
"Also, Genossen, mir ist das hier so mitgeteilt worden, dass eine solche Regelung heute schon verbreitet worden ist, sie müsste eigentlich in ihrem Besitz sein, also: 'Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsvehältnissen beantragt werden, die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.'"
"Ab sofort, unverzüglich"
Der damalige "Bild"-Korrespondent Peter Brinkmann erinnert sich, dass er ganz vorne saß und seine Zwischenfragen regelrecht reinrufen musste, weil Schabowski auf ihn und die "Bild"-Zeitung nicht gut zu sprechen war und ihn nur einmal drannahm.
So auch bei der entscheidenden Frage nach dem Inkrafttreten des Gesetzes:
Frage: "Ab wann tritt das in Kraft?"
Schabowksi: "Das tritt nach meiner Kenntnis... ab sofort, unverzüglich."
Schabowksi: "Das tritt nach meiner Kenntnis... ab sofort, unverzüglich."
Brinkmann: "Das Besondere lag darin: in dem 'Ab sofort'. Weil die Leute sagten: Das kann doch nicht sein. Wenn er sagt, 'ab sofort', ist es ab sofort. Das ist die Verwirrung. Hätte er das normal vorgelesen…"
Viele unterschätzten die Wirkung des Gesagten zunächst
Wenige Minuten nach der Pressekonferenz war von der Tragweite aber noch nichts zu spüren. Die Journalisten erkannten aber: Das wird ein großes Thema, erinnert sich Ewald König. Die wenigen Telefone im Pressezentrum in Ost-Berlin waren belegt, Leitungen überlastet. Funktelefone, wie etwa "Bild"- Journalist Peter Brinkmann eines hatte, funktionierten in der DDR nicht. Kollege Ewald König fuhr in aller Eile schnell zu einem griechischen Restaurant in West-Berlin in der Nähe des Checkpoint Charlie, von dem er oft seine Berichte nach Wien absetzte.
"Ich glaube, die meisten Kollegen haben gespürt, da ist jetzt ein großes Ding, aber dass dann tatsächlich in der Nacht darauf die Mauer gestürmt wird, wenn das heute wer behauptet, dann übertreibt er schon ein bisschen und vor allem: Auch Günter Schabowski hat das ja unterschätzt. Er ist nach der Pressekonferenz nach Hause gefahren."
Ein weiteres Kuriosum jenes Abends: Medien aus aller Welt berichteten über das neue Reisegesetz, einzig ADN, die Nachrichtenagentur der DDR, ignorierte es weitgehend und gab erst weit nach Mitternacht eine winzige Meldung heraus.
Worte des ARD-Moderators als Auslöser der Massenbewegung
Es sollte ohnehin noch eine Weile dauern, bis die Bürger Ost-Berlins sich auf den Weg an die Mauer machten. Bis 22.45 Uhr, als im Westfernsehen die ARD-Tagesthemen begannen zu senden, war es noch ruhig. Erst die Worte des Moderators Hans-Joachim Friedrichs, "Die Tore in der Mauer stehen weit offen", gelten im Rückblick als Auslöser der Massenbewegung. Der Rest ist Geschichte.
Friedrichs: "Die DDR hat dem Druck nachgegeben: Der Reiseverkehr in Richtung Westen ist frei. Guten Abend, meine Damen und Herren! Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich schnell ab. Aber heute kann man einen riskieren: Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen für jedermann geöffnet sind, die Tore in der Mauer stehen weit offen."