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Privatschiff zur Flüchtlingshilfe
Seenot-Rettung SeaWatch expandiert

Die Passage von Libyen über das Mittelmeer ist eine der wichtigsten Fluchtrouten nach Europa – und eine der gefährlichsten. Die private Seenot-Rettung Sea Watch will dem Sterben im Mittelmeer nicht länger zusehen und hat ein neues Boot gekauft.

Von Swantje Unterberg | 18.03.2016
    Die SeaWatch II liegt in der HafenCity in Hamburg.
    Die SeaWatch II wurde heute in der HafenCity in Hamburg getauft. (Deutschlandradio/ Swantje Unterberg)
    "Drehen wir – Von mir aus ja – Okay, hart Backbord – Ruder liegt hart Backbord."
    Kapitän Ingo Werth steuert auf eine Katastrophe zu. Nicht hier in Hamburg, sondern gut 2000 Kilometer weiter südlich:
    "Das Suchgebiet ist nordöstlich von Tripolis, also vor der libyschen Küste. Und in diesem Gebiet finden wir diese Schlauchboote, die wir suchen. 98 Prozent der Menschen haben keine Weste, 95 Prozent der Menschen können nicht schwimmen, von daher, wenn so ein Boot untergeht, ist die Tragödie da."
    Sea Watch kommt, um solche Katastrophen zu verhindern. Über 50 ehrenamtliche Helfer – Ärzte, Anwältinnen, Nautiker, Journalistinnen, Ingenieure, Handwerkerinnen, Pädagogen – sind Teil des festen Teams. Einen Sommer lang haben wechselnde Crews von einem 100 Jahre alten Fischkutter aus Flüchtlinge gerettet – über 2000, von manövrierunfähigen, überfüllten Booten.
    Die Kapitäne Ingo Werth (hinten) und André Montaldo-Ventsam auf der Brücke der SeaWatch II.
    Die Kapitäne Ingo Werth (hinten) und André Montaldo-Ventsam auf der Brücke der SeaWatch II. (Deutschlandradio / Swantje Unterberg)
    Die freiwilligen Helfer rufen die Seenot-Rettung in Rom, versorgen die Flüchtenden mit Schwimmwesten und Wasser und bringen sie auf Rettungsinseln in Sicherheit. Dann heißt es warten. Manchmal zehn, zwölf Stunden, sagt Kapitän Werth, bis ein großes Handelsschiff oder ein Militärboot sie aufnimmt und in Italien an Land bringt.
    "Es ist ein zutiefst humanitäres Projekt. Menschen vor dem Ertrinken zu retten, ist eine Grundregel, eine Grundpflicht aller Seeleute. Und wenn andere das nicht tun, müssen wir das tun."
    Doch die Crew der alten Sea Watch musste viel Zeit auf Reparaturen verschwenden. Deshalb musste ein neues Boot her, sagt Pressesprecher Ruben Neugebauer.
    "Die Sea Watch II ist im Prinzip die logische Konsequenz aus der Sea Wacht I und unsere Antwort auf das Versagen der Politik im Mittelmeer. Es ist so, dass wir eigentlich gehofft hatten, dass wir mit der Sea Watch I dort im Prinzip Beobachtungen machen, Sea Watch, wie der Name schon sagt. Wir hatten gehofft dass wir da gute Arbeit seitens der europäischen Behörden dokumentieren können und dass dort niemand ertrinkt. Das Jahr hat dann gezeigt, dass unsere Arbeit in ganz anderer Art und Weise nötig war. Und dafür ist die Sea Watch einfach zu klein geworden."
    Rettungseinsätze statt Beobachtermission
    Tägliche Rettungseinsätze statt Beobachtermission. Die neue Sea Watch ist ein altes britisches Forschungsboot, 33 Meter lang, Baujahr 63.
    "Mit diesem Schiff haben wir deutlich mehr Möglichkeiten, wir können länger draußen bleiben, wir müssen nicht viel reparieren, wir haben mehr Wasser, mehr Treibstoff, wir haben mehr Rettungsinseln an Bord, zwei Schnellboote an Bord, also das ist schon deutlich mehr Platz. Das Schiff ist ungefähr Zweieinhalbmal so groß wie die alte Sea Watch."
    Eine Krankenstation für die Erstversorgung von Schwerverletzten, Rettungsinseln für bis zu tausend Menschen, neue Technik zur Ortung. Mitsamt dem Boot und der neuen Technik koste der Einsatz für ein halbes Jahr etwa eine halbe Million Euro. Zur Taufe war das Geld fast zusammen: Spendenstatus: 96 Prozent, zeigt der Balken auf der Crowdfundingseite. Eine Crew von elf Freiwilligen soll ab April auf dem neuen Schiff im Einsatz sein. Zwei Wochen kreuzen sie vor der Küste, dann wird die Besatzung ausgewechselt. Zwar sei es zutiefst befriedigend, Menschen so direkt helfen zu können, sagt Werth. Die Crew müsse sich aber auch auf das Schlimmste gefasst machen:
    "Ich sage ihnen auch, dass wir in Situationen kommen können, von denen wir uns wünschen, es würde sie gar nicht geben. Dass wir uns damit auseinandersetzen müssen, dass es passieren kann, dass wir um uns rum ertrinkende und schreiende Menschen haben, wo wir ne klare Entscheidung treffen müssen, Menschen zu retten, aber ganz sicher nicht alle retten können."
    Zusammenarbeit mit Kriseninterventionsteam
    Die Crew der Sea Watch arbeitet mit einem Kriseninterventionsteam zusammen und bekommt bei Bedarf psychologische Betreuung. Ein Grund zu Feiern ist das neue Schiff weder für Fotojournalist Neugebauer noch für Kapitän Werth. Auf die Notwendigkeit, das Engagement von Sea Watch auszuweiten, würden sie gerne verzichten.
    "Ich weiß nicht, ob es ein Erfolgserlebnis ist, wenn die Notwendigkeit zur Seenotrettung größer wird. Das ist eigentlich kein Erfolgserlebnis, sondern das ist ne ganz traurige Wahrheit. Wir würden uns am liebsten so schnell wie möglich überflüssig machen. Wir müssen das nicht haben, um uns selbst zu beweisen oder zu bestätigen. Sondern wir machen das, weil Menschen dort ertrinken. Und wenn wir zu Hause bleiben könnten, würden wir gerne zu Hause bleibe. Das würde nämlich heißen, dass es entweder legale Wege gibt nach Europa oder die professionelle Seenotrettung so aufgestellt ist, dass wir überflüssig sind. Ein tolles Ziel, ich finde, das ist nicht absehbar."