
"Hier leben sie Tag für Tag, das ist wirklich auch ihr Zuhause. Und es ist auch eigentlich ihr Modell einer alternativen Gesellschaft und Organisationsformen. Also, da geht es nicht nur um das Ökosystem, sondern es geht natürlich auch um die eigene Gemeinschaft, die verloren geht in dem Moment, wo der Wohnort praktisch weg ist."
Kurz nach der Veröffentlichung des Twitter-Videos wird auch Carola Rackete von der Polizei aus einem Baumhaus geholt und bekommt einen fünftägigen Platzverweis. In den darauffolgenden November-Wochen stürzen zwei junge Frauen bei Räumungsaktionen aus Bäumen herab und verletzten sich schwer. Polizisten hatten Seile durchtrennt, mit denen sich die Frauen gesichert hatten. Polizisten werden gewaltsam attackiert - etwa mit Pyrotechnik. Die Staatsanwaltschaft ermittelt auf beiden Seiten. Am Tag, an dem Carola Rackete abgeführt wird, ist Daniela Wagner parlamentarische Beobachterin der Räumung.

Daniela Wagner meint etwa Luisa Neubauer und vor allem Greta Thunberg. Letztere war zwar noch nicht persönlich im Dannenröder Forst. Aber zuvor im Hambacher Forst im Braunkohlerevier von Nordrhein-Westfalen. Durch das Kohleausstiegsgesetz ist inzwischen gesichert, dass das noch nicht abgeholzte Waldgebiet im Rheinland nicht mehr dem Tagebau zum Opfer fallen soll. Die Klimabewegung wertet das als großen Erfolg. Einige Aktivistinnen und Aktivisten sind vom "Hambi", wie sie den Hambacher Forst nennen, in den "Danni", den Dannenröder Forst, weitergezogen.
Das Problem für die Grünen ist jedoch: Es sprechen auch andere mit der Kanzlerin. Nämlich starke Befürworter des Autobahn-Baus. Etwa Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier, der als Parteivize in der Bundes-CDU sehr einflussreich ist: "Zunächst einmal: Diese A49 ist ein nationales Verkehrsprojekt, das für ganz Deutschland, das für Teile von Europas wichtig ist, aber eben auch für uns in Hessen und allemal und ganz besonders für die Menschen, die entlang dieser A49 leben", so Bouffier bereits 2015 im hessischen Landtag. Schon damals verteidigte er den Weiterbau der A 49 von Kassel in Richtung Gießen – der Stadt, in der Bouffier zuhause ist: "Die Union hat seit Jahrzehnten die Auffassung vertreten, dass diese Autobahn gebaut werden muss. Und deshalb hat die Union auch in dieser Koalition an dieser Absicht keinen Millimeter zurückgenommen."
Gemeint ist die Koalition zwischen CDU und Grünen in Hessen – die erste einem deutschen Flächenland. Die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden liegt rund 120 Kilometer südwestlich des Dannenröder Forsts. Der Blick aus dem Besprechungszimmer des Wirtschafts- und Verkehrsministeriums fällt auf eine weiß gestrichene Stadtvilla. Dort ist die Landesgeschäftsstelle der Grünen untergebracht.

"Worauf es mir schon ankommt, dass ein paar Spielregeln gelten. Die erste Spielregel ist keine Gewalt, niemals. Da sind manche von denen leider über der Grenze. Das zweite ist, dass wir eine vernünftige Diskussion führen müssen über die Frage: Wann akzeptieren wir demokratische Entscheidungen?"
Dennoch forderten bei einem Online-Parteitag der hessischen Grünen Ende Oktober Mitglieder der Parteibasis von Tarek Al Wazir, nicht mehr am Weiterbau der Autobahn mitzuwirken. Einer der Wortführer der innerparteilichen Opposition war Gerhard Keller: "Die Partei wird geschwächt durch Minister, die ihren Handlungsspielraum nicht vollständig ausschöpfen. Wenn wir unseren Werten treu bleiben und glaubwürdig sind, dann werden wir nicht geschwächt sondern gestärkt."
Gerhard Keller verwies auf das Beispiel des ehemaligen hessischen Umweltministers und späteren deutschen Außenministers Joschka Fischer. Der hatte sich einst als zuständiger Landesminister geweigert, eine atomrechtliche Maßnahme umzusetzen, die die Bundesregierung von ihm verlangt hatte. Annalena Baerbock, die Co-Bundesvorsitzende der Grünen, stellte sich jedoch in einer Videobotschaft für den Parteitag auf die Seite des heutigen hessischen Verkehrsministers Al Wazir: "Zur Wahrheit gehört eben auch, dass wir lange, lange gekämpft haben, dass es aber eine Bundesautobahn ist. Und dass der Verkehrsminister in Hessen, dass Tarek, rechtlich verpflichtet ist, dieses Projekt umzusetzen, weil es nicht sein Projekt ist, sondern der Bauherr ist der Bund."

Baurecht sei doch keine Baupflicht – so argumentierten die Kritikerinnen und Kritiker immer wieder. Die hessischen Grünen halten dagegen: Nur Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer könnte den Bau der A49 noch stoppen. Scheuer will jedoch zügig vorankommen – und sagt zugleich, auch die Union nehme die Sorgen der Klimaaktivistinnen und -aktivisten ernst. "Bei diesem Projekt - der A49 - sind nämlich Eingriffe für die Natur ganz selbstverständlich, für einen Neubau.

"Wir haben immer gesagt, man kann durch diese Straße diese Entlastung erreichen. Und deswegen ist es für uns in der Abwägung wichtig, die Menschen und ihre Gesundheit zu schützen. Und das ist die Maßnahme dafür. Dass wir zukünftig vielmehr in den öffentlichen Personennahverkehr investieren müssen, dass wir brachliegenden Schienenverkehr wieder ertüchtigen müssen in Hessen, das wir Alternativen dazu schaffen müssen, dass so viele Pendler Tag für Tag in die Regionen kommen, das ist völlig klar."
Doch zunächst will die hessische SPD-Chefin Nancy Faeser das Problem gelöst wissen, dass ein Teilstück der A49 von Kassel Richtung Gießen seit langem fertiggestellt ist und bisher mitten in der Landschaft endet. Dort verteilt sich der Verkehr auf die umliegenden Durchgangsstraßen. Deshalb hatte sich auch der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier persönlich während der Koalitionsverhandlungen für die jetzige schwarz-rote Bundesregierung dafür eingesetzt, dass die Finanzierung des Weiterbaus der A49 vom Bund gesichert wird – über ein Public-Private-Partnership-Modell, kurz PPP.
"Und als wir das vereinbart haben und das ist kein Geheimnis, deshalb kann ich es hier vortragen: Wir haben mit der Bundeskanzlerin und ihrem heutigen Stellvertreter über die Frage gesprochen, wann zum Beispiel mir dieses neue Instrument einsetzen werden. Und seit diesem Zeitpunkt gibt es einen Dauer-Austausch, wie wir die A49 in diese PPP hineinbekommen."
Bei Public Private Partnership – auch ÖPP genannt für öffentlich private Partnerschaft – handelt es sich um langfristig angelegte Projekte zwischen Kommunen, Ländern oder dem Bund mit privatwirtschaftlichen Unternehmen. Meist dienen diese Partnerschaften dem Neubau von Infrastruktur – vom Schwimmbad in einer Kommune bis zu Autobahnteilstücken wie im Fall der umstrittenen Bundesautobahn A49 in Mittelhessen. Befürworter benennen als Vorteil, dass solche Projekte unter Federführung privater Unternehmen schneller durchgeführt würden. Kritiker halten dagegen, dass Misch-Finanzierungsmodelle mit öffentlichem und privatem Kapital die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler langfristig meist mehr belasteten als eine rein öffentliche Finanzierung. Zu den Kritikerinnen von PPP beziehungsweise ÖPP gehört auch Daniela Wagner, die Grünen-Verkehrspolitikerin im Bundestag:
"Billiger sind sie nie. Ist ja klar, es will ja noch ein zusätzlicher Akteur daran verdienen. Der klassische Kommunalkredit oder die Direktkredite, die die Staaten aufnehmen, sind in der Regel immer noch die günstigste Finanzierung. Und ÖPP ist im Grunde genommen etwas, was Projekte verteuert."

"Wir möchten also wissen, was wird eigentlich den steuerzahlenden Bürgern an Mehrkosten aufgebürdet, damit dieser Durch-Bau der A49 auf die A5 tatsächlich vollendet werden kann und schnell, in hohem Tempo, vollendet werden kann. Das ist etwas, was wir bis jetzt noch nicht wissen."
Der Streit um den Weiterbau der A49 hat überdies den sogenannten "Bundesverkehrswegeplan" wieder ins Zentrum der Debatte gerückt. Der aktuell gültige Plan reicht bis in das Jahr 2030. Dabei geht es um die Bestandsnetze, aber auch Aus- und Neubauprojekte bei Straßen, Schienen und Wasserstraßen. Viele Straßenbauprojekte des Bundesverkehrswegeplans sind bereits vor drei oder vier Jahrzehnten beschlossen worden. Das stößt heute vor allem bei der Klimaschutzbewegung auf Kritik. Auch die Grünen betrachten viele Projekte des Bundesverkehrswegeplans als Vorhaben aus dem "Betonzeitalter", wie es etwa in einer aktuellen Partei-Resolution zur A49 heißt.
Die Ökonomin Eva Goldbach ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im hessischen Landtag. Ihr Wahlkreis gehört zum mittelhessischen Vogelsbergkreis, in dem auch der Dannenröder Forst liegt. Goldbach nennt neben der A49 ein weiteres Beispiel aus dem Bundesverkehrswegeplan, das ihre Region betrifft. Hier gehen heute noch gültige Straßenplanungen bis in die Hochzeit des Kalten Krieges zurück:
"Ja, wir kämpfen gerade in meinem Wahlkreis gegen eine Umgehungsstraße. Diese Planung ist auch schon weit über 40 Jahre alt. Das sind zwölf Kilometer, diese Umgehung würde zwei Ortschaften umfahren. Auf diesen zwölf Kilometern sollen 20 Brückenbauwerke errichtet werden. Das führt durch Naturschutzgebiete, FFH-Gebiete. Ein wahnsinniger Eingriff in die Natur dort. Und das Verrückte ist, das ist genau der Bereich, der gehört zu dem Plan 'Fulda-Gap'. Und 'Fulda-Gap' ist eine Planung aus dem Kalten Krieg. Das ist nämlich eine geologische Brücke quasi zwischen dem Osten und dem Westen gewesen. Durch die wäre der Angriff der Sowjetunion tatsächlich erfolgt. Das kann man heute auch einsehen."
Statt im Bundesverkehrswegeplan Straßen aus der Zeit des Kalten Krieges zu belassen, fordert Eva Goldbach ein grundsätzliches Umdenken in Sachen Verkehrssysteme auf dem Land. Sie will in spätestens zwei Jahrzehnten keinen Schwerlastverkehr mit Verbrennungsmotoren mehr auf den Straßen haben. Außerdem plädiert sie für Car-Sharing mit Elektro-Autos im ländlichen Raum sowie die konsequente Reaktivierung von Schienenstrecken.

Mit der "jungen Generation" meint Nancy Faeser vor allem die Klimaschützerinnen und -schützer im Dannenröder Forst. Die haben den Kampf gegen die Autobahn 49 noch nicht aufgegeben. Doch aktuell sieht es so aus, als seien die Rodungen spätestens bis Weihnachten abgeschlossen. Die Kirchen haben an alle Beteiligten appelliert, keine Menschenleben zu riskieren.