Dienstag, 19. März 2024

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Proteste im Libanon
Machtaufteilung, Korruption und der Einfluss der Hisbollah

Die Proteste im Libanon gleichen nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Maximilian Felsch einem Volksaufstand. Der designierte Ministerpräsident Hassan Diab werde als Teil der korrupten Elite gesehen, sagte er im Dlf. Das System der Machtaufteilung nach religiösem Proporz sei aber alternativlos.

Maximilian Felsch im Gespräch mit Stephanie Rohde | 21.12.2019
Libanesische Anti-Regierungs-Demonstration in der Stadt Sidon.
Die Proteste im Libanon umfassten sämtliche soziale Schichten, Generationen und Religionsgemeinschaften, so Politikwissenschaftler Felsch (AFP / Mahmoud Zayyat)
Stephanie Rohde: Der Arabische Frühling ist lange vorbei, in den vergangenen Wochen blühten aber zarte Protestpflänzchen auf, diesmal im Libanon und im Irak. Dort demonstrieren Menschen nämlich seit einigen Wochen, mitunter kommt es zu gewalttätigen Szenen.
In beiden Ländern haben die Demonstrierenden bis jetzt erreicht, dass die Ministerpräsidenten zurückgetreten sind. Im Libanon wurde der frühere Minister Hassan Diab als neuer Ministerpräsident auserkoren, und der hat gestern eine Expertenregierung in Aussicht gestellt. Trotzdem sind die Menschen in der vergangenen Nacht wieder auf die Straßen gegangen und sind dabei auch mit Sicherheitskräften aneinandergeraten. Im Libanon wie im Irak kritisieren die Demonstrierenden die Führungselite und dass die Macht nach religiösem Proporz aufgeteilt wird. Das wurde ursprünglich so eingeführt, um die Systeme zu demokratisieren.
Ist das gescheitert im Libanon und im Irak? Darüber habe ich mit Maximilian Felsch gesprochen, er ist Politikwissenschaftler an der Haigazian-Universität in Beirut, und ich habe ihn eingangs gefragt: Die Libanesen demonstrieren gegen den designierten Ministerpräsidenten. Ist der jetzt Teil der Lösung oder Teil des Problems?
"Für die Demonstranten ist Diab Teil der korrupten Elite"
Maximilian Felsch: Hassan Diab hat die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten hinter sich versammeln können und ist nun beauftragt, eine technokratische Regierung zu bilden und die Finanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen. Er ist selbst von der Hisbollah und anderen pro-syrischen und pro-iranischen Kräften vorgeschlagen worden, was an sich schon heikel ist, denn das Amt des Ministerpräsidenten ist im libanesischen Konkordanzsystem einem Sunniten vorbehalten. Diab ist zwar Sunnit, jedoch fehlt ihm die Unterstützung des sunnitischen Establishments und der sunnitischen Basis, also der Gemeinschaft der Sunniten im Libanon. Deshalb gab es die größeren Ausschreitungen in sunnitischen Stadtvierteln, sowohl in Beirut als auch in anderen Städten, eben weil die Sunniten nur einen von ihrer Gemeinschaft getragenen und anerkannten Ministerpräsidenten als legitim sehen.
Beirut, 13. November 2019 Xinhua -Menschen nehmen an einem Protest in Baabda südöstlich von Beirut im Libanon teil. Tausende libanesische Demonstranten blockierten am Mittwoch die Straßen im gesamten Libanon, um ihre Empörung auszudrücken.
Libanon - Irans Verbündete unter Druck
Landesweite Proteste gegen Misswirtschaft und Korruption haben zuletzt den Libanon erschüttert. Eine der führenden sunnitischen Politiker, Ministerpräsident Saad al-Hariri, wirft das Handtuch und sucht nun mit den schiitischen Gruppen neues Führungspersonal. Aber auch die Verbündeten des Iran stehen unter Druck.
Ob Hassan Diab nun Erfolg haben wird, eine Regierung bilden können wird, das wird sich noch zeigen, da kann man auch noch Zweifel haben. Jedenfalls sind die Demonstranten nicht so glücklich mit der Wahl Diabs, denn für sie ist er auch Teil der korrupten Elite. Er war selbst schon einmal Bildungsminister gewesen und hat keine größeren Erfolge vorzuweisen.
Deshalb wird sein Erfolg oder Misserfolg wohl auch daran gemessen werden, ob es ihm gelingt, die Regierung erstens überhaupt zu bilden und zweitens die Finanzkrise zu bewältigen, und das bedeutet, internationale Geldgeber dazu zu bewegen, dem Libanon Milliarden zu überweisen, um das Land zu unterstützen und vor dem Kollaps zu retten. Da jedoch sowohl die USA als auch die Arabische Liga und bald wohl auch die deutsche Bundesregierung die Hisbollah als Terrororganisation einstufen, ist es auch fraglich, ob sie Diab diesen Gefallen tun.
Hassan Diab, designierter Ministerpräsident des Libanon, spricht nach einem Treffen mit Präsident Aoun mit den Medien im Präsidentenpalast.
Hassan Diab wurde am 19. Dezember 2019 zum libanesischen Ministerpräsidenten ernannt und mit der Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt (dpa / picture alliance / Marwan Naamani)
"Die Regierung hat Legitimationsdefizite"
Rohde: Sie haben ja eben gesagt, dass das System so funktioniert, dass die Posten nach religiösem Proporz vergeben werden, also dass jede Religionsgemeinschaft auch beteiligt wird. Ist dieses System jetzt am Ende, wenn wir sehen, dass der neue Ministerpräsident wieder nicht von allen gestützt wird?
Felsch: Nein, damit ist das System nicht am Ende, aber es erfährt gerade eine tiefgreifende Krise. Das zeigen ja auch die Aufstände. Die Regierung hat Legitimationsdefizite, die ganz erheblich sind, trotzdem lässt sie das System reformieren, und jetzt in dieser Krise ist es wahrscheinlich auch nicht schlecht, eine Regierung zu bilden, die hauptsächlich aus Technokraten besteht. Das ist auch eine Forderung der Demonstranten immer gewesen.
Nur ist das Problem jetzt die Wahl des Ministerpräsidenten, aber das war die Bedingung der Hisbollah, weil sie gerne selbst an der Regierung beteiligt gewesen wäre, jetzt aber als Kompromiss angeboten hat, dass sie einen Ministerpräsidenten vorschlägt, der ihr nahesteht, der zugleich Sunnit ist, wie es das Proporzsystem vorschreibt, und zugleich wird die Hisbollah dann nicht an der Regierung beteiligt sein.
"Regierbarkeit hängt vom Willen der Parteiführer ab"
Rohde: Viele haben ja über die letzten Jahre gesagt, der Libanon ist eigentlich unregierbar geworden. Bei Ihnen höre ich jetzt aber durch, dass Sie sagen, der ist doch reformierbar. Das System ist reformierbar, wenn man zum Beispiel auf eine Expertenregierung setzt?
Felsch: Ja, also an eine sehr umfangreiche Reform hin zu einer Abschaffung des Konfessionalismus und der Korruption glaube ich eigentlich nicht, auch wenn die Demonstranten jetzt eine Revolution einfordern, also einen radikalen Systemwechsel. Aber die Regierbarkeit des Libanon hängt immer vom Willen der Parteiführer ab, miteinander zu kooperieren, und das ist allzu oft nicht der Fall, aus verschiedenen Gründen. Aber es hat auch Zeiten gegeben in der libanesischen Geschichte, wo das System recht gut funktioniert hat. Also es ist nicht zum Scheitern verurteilt und vor allem sehe ich auch keine Alternativen, die das Land stabiler und zugleich auch demokratisch gestalten könnten.
"Es reicht ein Anschlag, um hier größere Gewalt auszulösen"
Rohde: Libanon ist ja ein ehemaliges Bürgerkriegsland und es ist konfessionell tief gespalten. Wie erklären Sie sich eigentlich, dass alle gemeinsam auf den Straßen demonstrieren?
Felsch: Also es ist richtig, dass die Proteste einem Volksaufstand gleichen, der sämtliche soziale Schichten und Generationen und Religionsgemeinschaften umfasst und praktisch auch alle Landesteile, weil alle von der Wirtschafts- und Finanzkrise und der Misswirtschaft direkt betroffen sind.
Libanesen halten libanesische Flaggen während sie eine Menschenkette als Zeichen nationaler Einheit bilden.
Proteste im Libanon - Wut vereint erstmals alle Konfessionen
Nach fast zwei Wochen Dauerprotest im Libanon, kurz vor dem Staatsbankrott, verkündete Ministerpräsident Hariri den Rücktritt der Regierung. Auch das korrupte Konfessionssystem, das nach dem Bürgerkrieg den Frieden sicherte, soll abgeschafft werden.
Aber alle demonstrieren nicht: Anhänger der schiitischen Parteien greifen regelmäßig Demonstranten und ihre Protestlager an, weil sie glauben, dass die Proteste vor allem gegen ihre Parteien gerichtet sind.
Rohde: Was ist Ihre Einschätzung, wenn Sie da vor Ort auch das beobachten? Droht die Stimmung zu kippen?
Felsch: Das ist durchaus zu befürchten. Es hängt jetzt davon ab, wie schnell eine Regierung gebildet werden kann, ob die Proteste im Zaum gehalten werden können. Die Spannung ist sehr hoch hier und es reicht ein Anschlag oder etwas Ähnliches, um hier tatsächlich größere Gewalt auszulösen.
"Spiegelbild der regionalen Kräfteverhältnisse"
Rohde: Nicht nur im Libanon gibt es diese religiöse Proporzsystem, sondern auch im Irak. Warum findet ausgerechnet in diesen beiden Ländern in der arabischen Welt gerade ein Protest statt?
Felsch: Ja, das mag erstaunen, da beide Länder zum Beispiel von den arabischen Aufständen, die 2011 begannen, verschont geblieben sind. Das Problem des Konkordanzsystems, in dem Religionsgemeinschaften immer im Konsens alle wichtigen Entscheidungen treffen, sind nicht nur sehr langwierige und schwierige Entscheidungsprozesse, denn man muss ja immer trotz erheblicher Differenzen einen Konsens herstellen, sondern anscheinend sind diese Systeme auch anfällig für Korruption, für klientelistische Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den konfessionellen Führern und ihrer Basis, auch für Misswirtschaft oder kurz Staatsversagen.
Außerdem scheinen die Systeme auch starken politischen Einfluss von außen zu fördern, da interne beziehungsweise die Machtkämpfe auf nationaler Ebene so ausgetragen werden, dass viele Parteien auch immer Unterstützung aus dem Ausland suchen, und dadurch machen sie sich dann mehr oder weniger abhängig von anderen Staaten. Und daher ist die politische Situation in diesen Ländern oft immer auch ein Spiegelbild der regionalen Kräfteverhältnisse.
Rohde: Was ist denn Ihre Prognose für den Irak? Die Proteste dort sind ja gewalttätig geworden, 450 Menschen sind getötet worden. Wie geht das weiter?
Felsch: Da möchte ich keine Prognose wagen. Also sowohl der Irak als auch der Libanon befinden sich in einem Dilemma. In beiden Ländern gibt es Gesellschaften, die strukturell tief gespalten sind in ethnische und religiöse Gemeinschaften, und der Versuch, eine demokratische und stabile Ordnung herzustellen durch das Konkordanzsystem scheint nicht gut zu funktionieren und es sieht so aus, als wenn Iran es nicht akzeptieren wird, dass es sich im Irak nicht grundlegend ändert. Das heißt, Iran wird, genau wie es auch im Inneren das tut, Proteste niederschlagen und das System am Leben erhalten, und zwar ein pro-iranisches System.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.