Archiv


Protestierende Unterschicht

Wie auch immer man "Die Weber" inszenieren will, man kommt nicht umhin, die Krise, auf die Hauptmanns Stück reagierte, mit den Krisen der Gegenwart in Beziehung zu bringen. Regisseur Michael Thalheimer tut nichts davon.

Von Eberhard Spreng |
    Eine lumpige Horde hockt am Fuße einer gewaltigen Freitreppe, klagt in etwas gezwungenem Theaterschlesisch über jämmerlichen Lohn und erfleht mickrige Vorschüsse. Nach unten, ins vollständige Abseits geht die Treppe weiter, nach oben versperrt Expedient Pfeiffer, der Leuteschinder des Stofffabrikanten, den Weg. Das Dekor kann gar nicht anders, als allen Figuren auf der sozialen Leiter ihren Platz zuzuweisen und das Spiel aus dem Hauptmannschen Naturalismus in den Thalheimerschen Symbolismus zu überführen. Ein kleiner Junge bricht zusammen, am oberen Rand der Bühnentreppe erscheint wie eine Lichtgestalt der Parchentfabrikant Dreißiger und schwadroniert über die Unvernunft seiner jämmerlichen Weber. Noch tut er so, als wüsste er nicht, dass die Ohnmacht des Jungen eine Folge des Hungers ist. In Ingo Hülsmanns Spiel, seinem Lamento über die schwierigen Absatzverhältnisse am Markt lässt sich für Augenblicke eine wirkliche Figur erkennen, eine, die bis ins Heute der umkämpften Weltmärkte reicht.

    "Die Geschäfte, die gehen doch hundsmiserabel, das wisst ihr doch selbst. Ich setze zu, statt dass ich verdiene, wenn ich trotzdem dafür sorge, dass meine Weber immer Arbeit haben. Da setze ich doch voraus, dass das anerkannt wird. Die Ware, die liegt da hinten in Tausenden von Schocken, und ich weiß doch heute überhaupt noch nicht, ob ich die jemals verkaufen werde. So jetzt habt's gehört."

    Auch später, wenn die Weber aus ihrer Not ausbrechen und in die Villa des Fabrikanten einzudringen drohen, entwickelt sich noch einmal ein kurzer Moment wenn auch unfreiwillig komischen Theaters beim Gespräch zwischen dem Boss seiner Frau und dem Pastor. Wann immer aber die Weber das Wort haben, wann immer sie ihr kärgliches Mal herunterwürgen und wieder ausspeien, wenn in der Kneipe ihr Zorn aufkocht, wird aus vollen Kehlen gebrüllt, ja nachgerade gegrölt und geröhrt, dass die Trommelfelle flattern. In der Mitte der Bühne hatte man sich zusammengehockt, zwei Stufen höher hatte Michael Schweighöfer als Schmied Wittig laut dröhnend über die Verhältnisse geschimpft und wenn man schließlich bereit zum Aufruhr ist, ist man erstmalig auch bereit, die höchste Stufe der Treppe zu erklimmen. Aber auch wenn der Klassenkampf im Gange ist, kommen die Weber wiederum von oben auf eine in der Mitte versammelte Fabrikantenfamilie zu: Aus der Gesellschaftstreppe ist eine Schicksalstreppe geworden. Das Elend gilt für alle, aber nur die Reichen haben bei Thalheimer dabei das Recht, wie Menschen zu reden.

    Wie auch immer man die Weber inszenieren will, man kommt nicht umhin, die Krise, auf die Hauptmanns Stück reagierte, mit den Krisen der Gegenwart in Beziehung zu bringen. Das Stück entweder zu aktualisieren und in zeitgenössische Bilder zu übersetzen, oder aber in seiner Entstehungszeit zu verorten und als historischen Vorläufer heutiger Konflikte in der Rückschau zu betrachten. Aber Thalheimer tut nichts von beidem: Er zerrt das Stück in sein kleines Kunsteckchen, lässt Gesichter fahl grau schminken, steckt seine Akteure in verwaschene Fetzen und schickt in kurzen Pausen dröhnende Gitarrenriffs in den Saal. Da ist viel Wut zu spüren, aber es sind eigentlich nur die Theaterlautsprecher, die diese Wut verkünden. Außerdem liegt ein blauer Staub auf den Treppenstufen, auch die schicke Sommerhose der Fabrikanten leidet unter der Allgegenwart des Indigos, das irgendwie auf das Vorhandensein einer Färberei anspielen soll. Vor allem aber scheitert das Theater wieder einmal an der Darstellung von Armut und hier den einfachen Handwerkern, den Vorläufern des industriellen Lumpenproletariats. Die Thalheimer-Methode, die Theaterklassiker auf eine Metapher und eine Melodie zu verkürzen und sie damit noch einmal neu zum klingen zu bringen, ist hier vollends gescheitert. Mehr noch; sie droht zur kalten Technik zu werden, der jedes Leben unter den Händen wegstirbt.

    Nach dem Fernsehen verabschiedet sich jetzt auch das Theater von der Verarbeitung der sozialen Wirklichkeit, begnügt sich mit summarischen Andeutungen, plumpen Klischees, und verurteilt seine Akteure zu grölender Sprachlosigkeit. Das Schlimme dabei ist, dass es damit sich selbst mundtot macht.