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Psychoanalyse
Religion auf der Couch

Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hielt Religion für eine psychische Störung und hoffte, sie werde bald von der Welt verschwinden. Hundert Jahre später befasst sich die Psychoanalyse immer noch mit Religion – denn die sei nun mal nicht zu überwinden, sagt eine Professorin.

Von Christian Röther | 07.03.2018
    Berlin: Museumsbesucher betrachten am 23.01.2001 das Gemälde"Judith enthauptet Holofernes" von Caravaggio in die Berliner Nationalgalerie. Das 1598/99 entstandene Meisterwerk ist eine Leihgabe aus dem Palazzo Barberini in Rom und wird erstmalig in Deutschland gezeigt.
    "Judith enthauptet Holofernes", hier gemalt von Caravaggio - eine biblische Tat, die in der kulturellen Psyche fest verankert ist (picture alliance / dpa / Bernd Settnik)
    Der Begriff Psychoanalyse lässt sich übersetzen als die "Enträtselung der Seele". Und der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, er wollte nicht nur die Seelen einzelner Menschen enträtseln, sondern gewissermaßen die Seele der Menschheit. Das schließt die Religion ein. Immer wieder hat Freud sich zur Religion geäußert - zumeist kritisch und ablehnend. Freud nannte Religion "eine universelle Zwangsneurose".
    Susanne Lanwerd: "Freud hat insgesamt das Religiöse, die Religion verankert in einer Entwicklungsphase des Menschen, die – so sein Wunsch und sein Interesse - eigentlich zu überwinden wäre."
    Susanne Lanwerd ist Professorin für Religionswissenschaft und Kulturwissenschaft an der privaten Berliner Hochschule ipu, der International Psychoanalytic University.
    Porträt von Sigmund Freud (1856 - 1939)
    Sigmund Freud hielt nicht viel von Religion (imago)
    Susanne Lanwerd: "Die Religion ist aber nicht zu überwinden. Das wissen wir, weil sie eben genuin – soweit die Verhältnisse historisch fassbar sind – immer schon dazugehört. Weil keine Psyche und keine psychische Realität je ohne Kultur und damit auch, weil Religion genuiner Bestandteil der Kultur ist, auch nicht ohne Religion funktioniert. Das heißt, alles ist voller religiöser und auch kultureller Bilder, Vorstellungen, Narrationen."
    Das Unbewusste offenlegen
    Ob man also religiös ist oder nicht: Jeder Mensch ist eingebunden in religiöse Symbole und Vorstellungen. Deshalb geht die Psychoanalyse heute auch anders mit dem Phänomen Religion um als ihr Begründer Sigmund Freud, sagt Susanne Lanwerd:
    "Wir haben heute, denke ich, einen konstruktiveren Umgang mit diesem Phänomen. Wir wissen, Religionen sind von Menschen gemacht und neigen deshalb - wie alles von Menschen gemachte – auch zu Extremen. Und diese Extreme müssen immer kritisiert werden. Aber sie gehören auch zum Menschen, zur menschlichen Kultur mit dazu."
    Wie sieht es also konkret aus, wenn Susanne Lanwerd an der ipu psychoanalytisch auf Religion schaut? Ein Beispiel aus ihrer aktuellen Vorlesung: Da zeigt die Religionswissenschaftlerin ein Musikvideo der Sängerin Judith Holofernes.
    "Gibt mir ein leichtes Schwert / für meine schwere Hand / eines das führt, wenn ich folge / und folgt, wenn ich führe / ein leichtes Schwert" (Judith Holofernes – Ein leichtes Schwert)
    Kulturarena Jena im Jahr 2017: Konzert mit Judith Holofernes Judith Holofernes, deutsche Musikerin, Songschreiberin und Autorin. Bekanntheit erlangte sie vor allem als Sängerin und Gitarristin der Band Wir sind Helden.
    Judith Holofernes ist wie ihre Namensvetterin Judit mit einem "leichten Schwert" unterwegs (imago/VIADATA)
    Bloß was hat jetzt dieses "leichte Schwert" mit Religion zu tun und mit Psychoanalyse? Entscheidend ist der Künstlername der Sängerin: Judith Holofernes. Denn der hat einen quasi-religiösen Ursprung: Er verweist nämlich auf die Geschichte von Judit und Holofernes aus dem Alten Testament. Darin macht die schöne Witwe Judit den feindlichen Feldherrn Holofernes betrunken. Sie tötet ihn und rettet so die Israeliten.
    "Dann ging Judit zum Bettpfosten am Kopf des Holofernes und nahm von dort sein Schwert herab. Sie ging ganz nahe zu seinem Lager hin, ergriff sein Haar und sagte: Mach mich stark, Herr, du Gott Israels, am heutigen Tag! Und sie schlug zweimal mit ihrer ganzen Kraft auf seinen Nacken und hieb ihm den Kopf ab." (Buch Judit 13,6-8)
    Susanne Lanwerd: "Was kann man an dieser Geschichte alles studieren? Also erstens eine über 2000-jährige Rezeptionsgeschichte. Positionen der katholischen Kirche, Positionen der evangelischen Kirche, der Calvinisten, die jüdische Position."
    Ambivalente Frauenfigur
    Judit und ihre Tat werden auch dutzendfach gemalt, etwa von Michelangelo, Cranach, Rubens oder Rembrandt. Andere Künstler verfassen Balladen, Dramen, Opern und Oratorien. Und dann ist da heute eben die Sängerin Judith Holofernes, wie sie in einem Musikvideo mit einem Spielzeugschwert in der Hand durch Berlin hüpft.
    Das dient Susanne Lanwerd als Beleg dafür, dass die biblische Geschichte von Judit und Holofernes sich tief eingegraben hat in die kulturelle Psyche, Religion also nicht zu überwinden ist, entgegen Freuds Annahme:
    "Und jetzt ist natürlich die Frage: Warum ist eine solche Geschichte – warum bleibt die durch die Jahrhunderte hindurch so brisant und immer wieder faszinierend und man kriegt heute noch die Hütte voll und die Leute diskutieren darüber – warum, warum? Meines Erachtens, weil mit dieser Frauenfigur ganz viele ambivalente Lesarten verbunden sind."
    "Man kann sie nicht in eine Schublade packen"
    Judit ist zur Heldin erklärt worden, zur Rebellin, zur starken Frau, zur Verführerin oder zum Symbol einer weiblichen Gefahr für die Männer.
    Susanne Lanwerd: "Das heißt, man kann sie unterschiedlich deuten. Man kann nicht sagen: ‚Judit hat dies uns jenes deswegen und deswegen gemacht, aus den und den Gründen.‘ Man kann sie nicht in eine Schublade packen. Sondern sie muss – der Schrank muss erst noch gebaut werden."
    Auf die biblische Judit wurden und werden also ganz unterschiedliche Wünsche, Vorstellungen und Phantasien projiziert. Bewusste und unbewusste – und genau deswegen ist sie auch heute noch ein Fall für die psychoanalytische Kulturforschung. Auch wenn Sigmund Freud wohl gehofft hatte, dass sich die Psychoanalyse 100 Jahre nach ihm nicht mehr mit Religion befassen müsse.