Dieses Experiment beginnt damit, dass der Psychologe und Datenwissenschaftler Michał Kosinski die Gesichter von Menschen penibel vermessen lässt. Wofür die Werte, die dabei herausspringen, wirklich stehen, kann er selbst nur erahnen. Vielleicht beschreibt einer davon den Augenabstand. Ein anderer die Krümmung der Oberlippe. Insgesamt entstehen 2048 solcher Messwerte für jedes der Gesichter.
Mit Hilfe dieser Zahlen versucht er zu erkennen, was sich hinter den Gesichtern verbirgt. Er will den Menschen in die Köpfe schauen, genauer: Er will ihre politische Gesinnung erkennen, allein anhand dieser oberflächlichen Messwerte.
Erinnerungen an die Schädelvermessung des 19. Jahrhunderts
Michał Kosinskis Studie ist 2021 im angesehenen Magazin "Scientific Reports" erschienen. Dabei würde man derartige Methoden eigentlich eher im 19. Jahrhundert verorten. Damals suchte der italienische Arzt Cesare Lombroso etwa nach dem typischen Gesicht eines Kriminellen, wollte Diebe anhand ihrer "kleinen Augen und ausdrucksstarken Gesichter" erkennen, Mörder an "habichtartigen Nasen und blutunterlaufenen Augen", Vergewaltiger an "Segelohren". Sein Zeitgenosse, der Brite Sir Francis Galton, bediente sich der damals neuen Fotografie. Er legte Porträtaufnahmen von Verbrechern übereinander und versuchte Gemeinsamkeiten zu finden. Physiognomik nennt man diese Versuche, innere Eigenschaften eines Menschen an dessen Erscheinungsbild abzulesen – und sie gelten heute als Fehlschläge. Keinem der damaligen Forscher ist es auf diese Weise gelungen, in die Köpfe der Menschen zu schauen.
Und heute? Scheint es zu funktionieren! Mit Hilfe eines Systems zum maschinellen Lernen analysierte Kosinski die 2048 Messwerte statistisch. Er fand heraus, dass sie für Menschen, die sich selbst als konservativ bezeichnen, etwas anders aussahen, als für Menschen, die sich als liberal einschätzten. Damit konnte ein Computerprogramm, wenn es ein "liberales" und ein "konservatives Gesicht" gezeigt bekam, die politische Orientierung in 72 Prozent der Fälle korrekt zuordnen.
Ein Wissenschaftler, der seinen Augen kaum trauen kann
Michał Kosinski sagt, dass er zunächst durch Zufall auf einen Zusammenhang zwischen Äußerem und Innerem gestoßen sei. Zuerst habe er das nicht glauben wollen. Dann begann er zu recherchieren.
In Patenten und wissenschaftlichen Arbeiten bemerkte er, dass auch andere diese Entdeckung gemacht hatten. Tatsächlich versprechen manche Forscher heute, Kriminalität mittels künstlicher Intelligenz am Gesicht ablesen zu können. Es gibt ein Start-up, das Terroristen auf diese Art erkennen will. Ein Comeback der Physiognomik also mit Algorithmen und Statistik?
Deep Science - Alle Folgen des Wissenschaftspodcasts
- Episode 1: Kommunikation zwischen Mensch und Tier | Mit Schimpansen sprechen
- Episode 2: Hirnforschung | Stierkampf mit Fernsteuerung
- Episode 3: Psychometrie | Dein Gesicht verrät deine politische Überzeugung
- Episode 4: Mischwesen | Kann man Mensch und Affe kreuzen?
- Episode 5: Solar Geoengineering | Verdunkeln wir doch die Sonne!
Eine gefährliche Warnung
Vor dieser Gefahr habe er warnen wollen, erzählt Kosinski, doch dafür musste er zunächst erforschen, wie genau die Methode funktioniert. Er begann damit, die sexuelle Orientierung von Menschen am Gesicht zu erkennen und kam auf eine Trefferquote von rund 80 Prozent. Dann widmete er sich der politischen Gesinnung.
Dass auch diese Forschung selbst eine Gefahr sein kann, wusste er. Denn schon 2012 hatte er die Ergebnisse eines ähnlichen Experiments präsentiert. Danach reichen 68 Facebook-Likes, um die sexuelle Orientierung, die politische Gesinnung oder die Hautfarbe eines Menschen zu erraten. Damals erntete Michał Kosinski nicht nur Kritik und Spott von Presse und Kollegen – sondern wurde in einen der größten Polit-Skandale der letzten Jahre hineingezogen. Und diesmal?
Eine Warnung verhallt. Fernsehmoderatoren machen Witze über Kosinskis Forschung
Der Podcast: Warner oder Zündler?
In diesem Podcast erfahren wir, ob Maschinen etwas in unseren Gesichtern erkennen können, das uns Menschen entgeht. Wir hören, was es ist und woher diese Hinweise stammen können. In der Geschichte eines Experimentators auf einem schmalen Grat: Will er mit seiner Forschung vor einem algorithmischen Comeback der Physiognomik warnen - oder macht er eher Werbung dafür?