Welter: Alfred Grosser, wir sitzen hier in Ihrer Wohnung in Paris. Sie feiern Ihren 90. Geburtstag – Sie sind damit erst recht ein gefragter Interviewpartner. Mögen Sie den Trubel um Ihren runden Geburtstag?
Grosser: Ja, an sich sehr gerne. Es ist sehr schön. Ich bekomme viele Glückwünsche von sehr netten Leuten und Leuten, die ich gar nicht kenne. Und das ist doch sehr angenehm.
Welter: Den Deutschlandfunk-Hörern muss ich Sie eigentlich nicht vorstellen, dennoch will ich ein paar Eckdaten in Erinnerung rufen, der Vollständigkeit halber: Geboren in Frankfurt am Main am 1. Februar 1925. Die deutsch-jüdischen Wurzeln haben Ihre Familie 1933 nach Frankreich emigrieren lassen. Sie sind 1937 französischer Staatsbürger geworden. Sind Sie also Franzose mit Leib und Seele?
Grosser: Ja, und ich hasse es, wenn ich als Deutsch-Franzose vorgestellt werde. Ich bin Franzose, und Deutschland ist eine der menschlichen Gemeinschaften, denen ich nicht angehöre und doch aufgenommen werde als Mitstreiter für die Guten gegen die Bösen. Das ist als Franzose in Deutschland, und das andere ist als Atheist im französischen Katholizismus.
Welter: Sie haben einmal formuliert: "In Frankreich gehöre ich dazu, Deutschland begleite ich von außen."
Grosser: Ja, genau, ich stehe zu der Formulierung. Aber das heißt, dass ich in Frankreich Gutes über Deutschland sage und in Deutschland Böses über Deutschland sage und in Frankreich Böses über Frankreich sage und in Deutschland Nettes über Frankreich sage.
Welter: Sie haben in jedem Fall die deutsch-französische Verständigung zu Ihrer Lebensaufgabe gemacht. Das ist Ihr Lebenswerk, das kann man sagen in aller Bescheidenheit. Sie haben als Politikwissenschaftler, als Schriftsteller, als Soziologe, als Intellektueller gegen die Klischees angearbeitet - hüben wie drüben. Sie haben auch sehr viele Schulklassen immer wieder besucht, tun das, glaube ich, jetzt auch noch, um zu vermitteln. Was sagen Sie den Schülern heute? Wie steht es um die deutsch-französischen Beziehungen?
Grosser: Zuerst einmal: Ich war nie für die "Versöhnung" - das Wort habe ich nie gebraucht. Als ich zum ersten Mal nach dem Krieg 1947 in Frankfurt war, war ich beim Oberbürgermeister Walter Kolb, der kam aus dem Konzentrationslager, ich hatte mich nicht mit ihm zu versöhnen. Und das Symbol der deutsch-französischen Beziehungen der Nachkriegszeit ist Dachau, und die Kanzlerin ist sehr zu loben, dass sie im Juni, bevor sie nach München fuhr - das eine schreckliche Nazi-Stadt gewesen war, heute fröhlich ist -, sie ist in Dachau gewesen ist, um daran zu erinnern, dass dort Franzosen und Deutsche, die beide gegen Hitler waren - beide Teile -, zusammen gestorben sind. Deswegen keine "Versöhnung", sondern Aufklärungsarbeit auf beiden Seiten. Ich sage immer: Mit Wärme und Vernunft versuchen, aufzuklären. Und das habe ich auch in all meinen professoralen Vorlesungen gemacht. Ein Mathematiker braucht nicht etwas Ethisches zu vermitteln - die Professoren, die das nicht tun in den Sozialwissenschaften, sind schuldig.
Welter: Ist Aufklären schwieriger oder leichter geworden mit der Zeit?
Grosser: Ich war jetzt in Dresden in einem Gymnasium vor zwei Tagen, ich werde in Berlin in einem Gymnasium sein, ich war hier in der Provinz und so weiter - und was sage ich denen? Was sage ich denen am Tag von Auschwitz zum Beispiel, am 27. Januar, da habe ich gerade in einem Gymnasium gesprochen, und ich sage zuerst einmal: "Erinnerung ist ein schlechtes Wort. Ich kann mich nicht erinnern an den Ersten Weltkrieg, da war ich nicht geboren - Ihr könnte euch nicht erinnern an irgendetwas. Erinnern ist etwas, was übermittelt wird und was man sich dann einverleibt." Aber wie es übermittelt wird, kann sehr unterschiedlich sein. Zum Beispiel in Frankreich übermittelt man jetzt - nach langer Zeit - die schlimmen Seiten der Kolonialgeschichte. In Bordeaux, in Nantes sind Monumente, um daran zu erinnern, dass die Glorie der Stadt, der Reichtum der Stadt vom Sklavenhandel im 18. Jahrhundert kommen. Und heute "erinnert" man an Auschwitz, nein? Wie macht man das? Man müsste tun, was wir versucht haben nach dem Krieg zu tun: Erstens, es gibt keine Kollektivschuld - das wird nicht genügend betont. Zweitens hat es viele Deutsche gegeben, die nicht jüdisch waren und die jüdischen Deutschen geholfen haben - das wird oft übergangen. Mein Kollege in München, Löw, macht das und einiges mehr. Ich nehme das Beispiel von Frau Knobloch, die ich sehr schätze. Sie ist den ganzen Krieg über versteckt worden als kleines Kind, sie sei uneheliches Kind einer katholischen Magd in einer katholischen Familie. Das alles wird nicht gesagt, wenn an Auschwitz erinnert wird. Und ich finde das katastrophal. Und das habe ich versucht, den Schülern immer zu erklären. Die Bundesrepublik ist ein ganz besonderer Staat. Er ist nicht aufgebaut auf den Begriff der Nation, sondern aufgebaut auf einer politischen Ethik, der Ablehnung des Nationalsozialismus mit der Vergangenheit und dem Stalinismus in der Nachbarschaft. Eure Pflicht ist, das wahrzunehmen und den Artikel 1 des Grundgesetzes wahrzunehmen, das heißt, die Würde der Menschen überall wahren, unter anderem für die Palästinenser.
Merkel und Hollande "sind beide Sozialdemokraten"
Welter: Zu dem Thema kommen wir gleich noch. Ich würde gerne noch über die aktuellen deutsch-französischen Beziehungen sprechen. Es hat den Anschein, als würden sich die Bundeskanzlerin, die CDU-Politikerin Angela Merkel, und der Sozialist François Hollande inzwischen besser verstehen. Teilen Sie das?
Grosser: Ja. Also zuerst einmal gibt es ein wunderbares Bild bei der Demonstration nach den Morden, wo sie ihren Kopf gewissermaßen an den Hals von Hollande schmiegt...
Welter: …es wirkte so, als müsse er sie trösten...
Grosser: Ja, aber wenn Sie sagen: Sozialist und die CDU - nein, das stimmt einfach nicht, sie sind beide "Sozialdemokraten"… und das wird Hollande genug vorgeworfen - bei den harten Linken in Frankreich ist "Sozialdemokrat" auch ein Schimpfwort, man muss Sozialist sein und nicht Sozialdemokrat. Und wenn sie die CSU hören oder die nicht mehr bestehende FDP, so ist die Kanzlerin eine böse "Sozialdemokratin".
Welter: Kann man also auch sagen, dass beide im Grunde Positionen geräumt haben und sich auch deshalb näher sind, als es allgemein wahrgenommen wird?
Grosser: Das ist sehr schwer zu sagen, denn es stimmt, dass die französischen Versprechungen nie gehalten werden, und andererseits ist das Frankreich-Bashing der deutschen Presse fertig seit den großen Demonstrationen. Man hat jetzt mehr Respekt für ein Frankreich, das "la République" ernst nimmt. "La République" ist ein französisches Wort und kein deutsches, denn die Republik ist ein juristischer Begriff - sonst hätte sich eine extrem rechte Partei nicht "Die Republikaner" nennen können.
"La République" ist ein moralisches Element. Für "la République" ist die Freiheit wichtig, die Brüderlichkeit wichtig. Und ungefähr vier Millionen Menschen haben in Frankreich demonstriert. Wenn sie auch die Zeitung nicht mochten und die Zeichnungen oft vulgär fanden, haben sie dennoch demonstriert für die Pressfreiheit. Natürlich war es ein Witz, dass aus Moskau, dass aus Ankara, dass aus Budapest Leute kamen, um die Pressefreiheit mitzufeiern. Aber das hat gewirkt. Und ich glaube, Hollande ist da in diesen Tagen auch sehr gewachsen.
Welter: Fürchten Sie, dass das "Frankreich-Bashing" - wie Sie es genannt haben - in der deutschen Presse wieder einsetzt, wenn sich François Hollande nun an die Seite des neuen griechischen Regierungschefs stellt, den er nach Paris eingeladen hat? Er will versuchen, ein Mittler zu sein zwischen den Positionen, sagen wir in Berlin oder in Athen.
Grosser: Also wenn ich die FAZ lese, dann ist natürlich alles falsch, was in Europa finanziell gemacht wird. Und ich nehme an, man muss ganz hart sein - finde ich auch - am Anfang der Verhandlungen mit den Griechen. Aber vor allen Dingen müsste dort auf deutscher Seite eingesehen werden, dass das ganze Sparen nichts geholfen hat, dass die Verschuldung nicht kleiner geworden ist und dass überall, auch in Spanien und wo anders, extreme Parteien vielleicht viel dazu gewinnen werden - manchmal auf der linken Seite, manchmal auf der rechten Seite -, weil ein totales Unverständnis geherrscht hat, was eigentlich mit der Sparpolitik als Resultat herauskommt.
"Jeder kämpft für seine Interessen, für seinen kleinen Beruf"
Welter: Nun sind die Begriffe aber auch verwirrend. Man spricht in Frankreich von "Austeritätspolitik", ein Begriff, der in Deutschland sich so nicht transportiert. Man spricht in Deutschland von einem Reformkurs, der gewünscht ist. Da beginnen ja schon die interkulturellen Missverständnisse?
Grosser: Ja, aber der Reformkurs hat auch viel Armut gebracht.
Welter: In Deutschland?
Grosser: In Deutschland.
Welter: Ist denn Frankreich auf dem Reformkurs, im deutschen Sinne?
Grosser: Es fängt langsam an. Und die Gesetze, das Gesetz, das unser Wirtschaftsminister Macron durchbringt, gehen in eine gute Richtung. Aber natürlich ist es sehr schwer, in Frankreich zu sagen: Es sollte eigentlich der Ruhestand hochgesetzt werden - dagegen ist sehr schwer anzukämpfen. Außerdem sage ich hier oft, es gibt keine Franzosen mehr, aus einer gewissen Arroganz... Es gibt Apotheker, es gibt Notare, es gibt LKW-Fahrer, es gibt Taxi-Fahrer - jeder kämpft für seine Interessen, für seinen kleinen Beruf.
Welter: Das Interview der Woche mit Alfred Grosser im Deutschlandfunk. Herr Professor Grosser, wir reden jetzt drei Wochen nach den Anschlägen von Paris hier in der französischen Hauptstadt miteinander. Haben die Attentate Frankreich verändert?
Grosser: Das ist schwer zu sagen, denn vorhin sagte ich "vier Millionen haben demonstriert“ - wunderbar -, aber dann könnte man sagen: Nur vier Millionen, was denken die anderen? Also ist es sehr schwer zu sagen, ob Marine Le Pen daraus nicht etwas machen würde - und sie ist sehr zurückhaltend, sehr vorsichtig.
Sie wird wahrscheinlich den Tod ihres Vaters wünschen - ich hoffe, dass der Vater noch lange lebt, um große Dummheiten zu sagen, und er könnte an sich Führer von Pegida werden. Denn er hat nach den Attentaten erklärt, dass sei nicht Charlie, sondern "Charlot" - also "Kasperle" - und die versuchten Frankreich in die Hände des Islam zu bringen. Also er hätte in Dresden auf den Demonstrationen sprechen können.
Welter: Sie sehen Parallelen zwischen der Pegida-Bewegung in Deutschland und dem Front National in Frankreich?
Grosser: Nein, Frau Le Pen ist vorsichtiger als die Pegida-Führer. Was sie wirklich denkt, weiß ich nicht - ich glaube, es zu wissen -, jedenfalls kapitulieren die französischen Medien vor ihr. Ein Beispiel: Unser ZDF, also Antenne 2, lädt sie für eine Stunde ein und hat die wunderbare Idee, Martin Schulz, den Präsidenten des Europäischen Parlamentes einzuladen, um mit ihr zu diskutieren und sie sagt: "Ich diskutiere mit keinem Ausländer!" Was geschieht? Man lädt den Präsidenten des Europäischen Parlamentes wieder aus.
"Das Positive an Europa wird einfach nicht wahrgenommen"
Welter: Ist die französische Presse zu unkritisch oder ist Frau Le Pen zu geschickt?
Grosser: Nein, sie ist geschickt. Die Presse ist vernünftig, aber die Presse - mit Ausnahme der beiden Zeitungen, an denen ich mitarbeite, "La Croix" in Paris und "Ouest-France" in Rennes, die größte Provinzzeitung -, ist die Presse für das Negative. Und das gilt vor allen Dingen für Europa. Das ist in Deutschland ganz genauso: Das Positive an Europa wird einfach nicht wahrgenommen, man muss nur kritisieren: Das Gute kommt von Berlin oder von Paris, das Schlechte kommt von Brüssel.
Welter: Sie haben gesagt, dass Sie glauben zu wissen, was Marine Le Pen wirklich will - verraten Sie es uns?
Grosser: Ja, sie möchte wenig traditionelle Kultur - also was wir Kultur nennen. Sie möchte eine neue Kultur, das heißt eine alte Kultur, die alles Moderne ausschließt - das ist schon so in den Rathäusern, wo der Front National das Bürgermeisteramt hat. Und sie möchte so wenig Moslems wie möglich.
Welter: Ist die Identitätsdebatte, die Deutschland führt und die, die auch Frankreich führt eine gänzlich andere?
Grosser: Ja, denn in Frankreich - es ist ein bisschen kompliziert. Also einerseits ist es wunderbar: Zum Beispiel hat niemand bei uns einen Migrationshintergrund wie in Deutschland. Unser Premierminister ist seit 1982 Franzose, die Bürgermeisterin von Paris ist seit 1972 Französin - niemand würde sagen: "Die haben Migrationshintergrund." Aber auf der anderen Seite, die jungen Leute in den Vororten sind alle Franzosen und werden trotzdem diskriminiert, im Beruf, in Berufsaussichten, in der Wohnung und so weiter, in ghettoartigen Gegenden. Sie sind als Franzosen diskriminiert, also suchen sie eine andere Identität und das ist der Islam. Der Islam war nicht prioritär, zuerst war die Diskriminierung da.
Welter: Nun sucht die französische Republik im französischen Verständnis des Wortes "République" nach Antworten. Es konzentriert sich im Moment vieles auf die Schule und auch auf die Frage, wie junge Männer, die "die Schule der Republik" durchlaufen haben, zu Terroristen werden können.
Grosser: Das ist sehr schwer, es werden nicht nur die. Als Beispiel: Wenigstens einer der Terroristen kommt aus einer guten bürgerlichen, katholischen Familie. Es ist eine Art der Revolte. Und manche werden zuerst im Gefängnis diskriminiert. Der, der das furchtbare Attentat gegen das Geschäft gemacht hatte, da hat "Le Monde" ein Interview gefunden, das er 2008 gegeben hat, und "Le Monde" hat eine ganze Seite daraus gemacht. Als er ins Gefängnis eingeliefert wurde, war noch nichts, er war noch nicht einmal Mohammedaner nach seiner eigenen Auffassung. Er hat im Gefängnis gelitten. Fast jedes Jahr verurteilt der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte Frankreich wegen des Zustandes unserer Gefängnisse. Die Gefängnisse produzieren Mörder und das fängt man an, wirklich einzusehen. Und unser Premierminister spricht da einerseits auch von den Gefängnissen und andererseits hat er gesagt, es sei ein bisschen wie in Südafrika, also man würde "Apartheid" machen. Ich finde, er hat Recht gehabt, diesen Ausdruck zu benutzen, denn das gibt es wirklich.
Welter: Er ist sehr viel kritisiert worden für dieses Wort.
Grosser: Ja, er ist sehr angegriffen worden. Sarkozy ist draufgesprungen auf das Wort, um zu sagen, er hätte so was nie gesagt. Aber er hat nichts gemacht während seiner Präsidentschaft, er hat nur gesprochen und nichts getan, und jetzt plötzlich will er den Kampf wieder aufnehmen, nachdem er wirklich hinter Hollande verschwunden ist.
Welter: Sie würden also sagen, dass die Zustände in den französischen Vorstädten der Apartheid gleich kommen, so wie es der Premierminister formuliert hat?
Grosser: Ja, es ist keine systematische Politik - in diesem Sinne ist das Wort schlecht -, man spricht ein bisschen mehr von Ghettos, was auch schlecht ist.
Es ist eben sui generis... Und in Berlin sind viele der jungen Türken sowieso Türken und keine Deutschen, und die Abgeschlossenheit ist weniger groß als dort, viele kommen trotzdem raus. Und zum Beispiel in den Medien gibt es viele mit arabischen Namen, aber da muss sofort gesagt werden: Einen jüdischen Namen zu haben schadet niemandem, einen arabischen Name zu haben, das schadet schon.
Grosser: Israels Politik speist den Antisemitismus in Frankreich und Deutschland
Welter: Sind die Muslime also schlechter dran in Frankreich?
Grosser: Ja. Zum Beispiel - aber das wird vergessen - 2012 waren zwei Attentate in Toulouse. An einem Tag wurden zwei jüdische Kinder und Erwachsene getötet, aber derselbe Mörder hat am Vortag zwei moslemische Unteroffiziere getötet - die sind total verschwunden in der Erinnerung, es spricht niemand mehr davon.
Welter: Sie haben nach den Attentaten 2012 in Toulouse in einem Interview - in einer deutschen Zeitung, glaube ich - auf die Frage gesagt, ob Sie einen neuen Antisemitismus in Frankreich beobachten würden, dass sie das für "begrenzt" hielten, dieses Phänomen. Würden Sie das heute auch noch sagen? Die Diskussion darüber, dass der Antisemitismus sehr verbreitet sei in Frankreich, ist ja gerade sehr intensiv.
Grosser: Das ist in fast allen deutschen Zeitungen. Ich möchte das bestreiten. Außer eine Anspielung, die mal Walser in seiner Rede gemacht hat: "Es hängt mit Israel zusammen". Das heißt, es gibt den traditionellen Antisemitismus, das Aufpeitschen des Antisemitismus in den arabischen Staaten, aber Sie müssen sehen, oder es muss gesagt werden, dass jede totale Identifikation Juden/Israel den Antisemitismus fördert. Wie können sie von einem jungen Moslem verlangen, wenn zum Beispiel eine Antisemitismusmanifestation in Berlin stattfindet, unter israelischen Farben... Ich habe es im Fernsehen gesehen, ich habe keine deutsche Fahne gesehen, nur israelische Fahnen. Alles Übel, das Israel über die Palästinenser bringt, alle Kränkungen, alle Wegnahme von Land, die Israel macht, werden dann den Juden schlechthin zugeschrieben. Es müsste eine bessere Distanzierung geben vom Zentralrat der Juden, vom CRIF hier, der dem Zentralrat entspricht, um zu sagen: 'Wir kritisieren Israel da und da und dort." Wenn das wäre, wäre die Versuchung des Antisemitismus bei jungen Arabern kleiner.
Welter: Das bedeutet, dass Sie sagen, dass die Politik Israels auch den Antisemitismus in Frankreich speist?
Grosser: Natürlich. In Deutschland auch.
Welter: Der französische Premierminister hat gesagt: "Ohne die Juden Frankreichs wäre Frankreich nicht mehr Frankreich." Er hat damit die große Ausreisewelle angesprochen, die es gibt.
Grosser: Also die große Ausreisewelle... Wer ist Jude? Also man rechnet Hunderttausende, davon sind wenige in organisierten Gemeinden in Paris, in einem Viertel, und der große Rest sind jüdische Franzosen und nicht französische Juden. Und ich beklage heute noch, dass der Zentralrat nicht heißt… Ignatz Bubis, hätte das gerne gehabt: Er selbst definierte sich als Deutscher mit jüdischem Glauben. Und "Juden in Deutschland", für mich ist das ein schlechter Ausdruck. Als ich das Buch "Von Auschwitz nach Jerusalem" über Deutschland und Israel geschrieben habe, hatte der Verleger zuerst geschrieben, ich sei als deutscher Jude geboren und ich habe gesagt: "Nein, bitte schreibe Sie, ich bin als jüdischer Deutscher geboren, und mein Vater ist ausgewandert, weil man eben sein Deutschtum nicht mehr anerkannte unter Hitler."
Welter: Was haben Sie gedacht, als der israelische Ministerpräsident Netanyahu vor dem 11. Januar, also vor der großen Demonstration, den Franzosen jüdischen Glaubens zugerufen hat, Israel sei ihre Heimat?
Grosser: Ja, ich fand das skandalös, ich fand das skandalös. Er machte seine Wahlpolitik in Paris. Glücklicherweise kam auch Abbas von der anderen Seite in der Demonstration.
Welter: Sie haben, Professor Grosser, Israels Politik stets sehr kritisiert. Sie haben nicht nur die jüdischen Verbände in Deutschland damit aufgebracht, dass Sie sich an Martin Walsers Seite gestellt haben, als er von "der Keule Auschwitz" gesprochen hat. Bereuen Sie die einen oder anderen Auswüchse in dieser Auseinandersetzung?
Grosser: Nein, überhaupt nicht. Was Walser gesagt hat, stimmte. Es wird immer vergessen, dass er zuerst ein großes Wort der Anerkennung für Auschwitz ausgesprochen hat und dann gesagt hat, es soll nicht aus politischen Gründen ständig vorgeführt werden, damit man sagt: "Israel hat immer recht." Israel schwenkt eine Keule. Jedes Mal, wenn ein deutscher Politiker Israel kritisiert, kommt die Antwort: "Denk an Auschwitz!" - und das ist nicht tragbar. Wenn das vierte Unterseeboot geliefert wird an Israel, wenn von jüdisch bemannten Booten die Leute verhaften werden, von der israelische Flotte, und die Medikamente und die Nahrung weggenommen wird, die sie nach Gaza liefern wollten, gegen jedes internationale Recht, wieso gibt es da kein Wort von der deutschen Regierung?
Welter: Sie haben einmal formuliert, dass Sie sich dieses Recht, Israel zu kritisieren, auch herausnehmen, weil Sie wissen, wie sich Verachtung für Juden anfühlt.
Grosser: Genau, und man soll andere nicht verachten. Ich zitiere ständig die Rede, die Bundespräsident Köhler vor der Knesset im Februar 2005 gehalten hat, wo er sagte: "Der erste Artikel des Grundgesetzes, die Achtung der Würde der Menschen sei auch der Leitfaden für die Außenpolitik, daran wird sich unsere Außenpolitik messen lassen." Ich dachte, er sprach für die Palästinenser - aber keineswegs…
Grosser: Jacques Delors war der letzte gute Präsident der Kommission in Brüssel
Welter: Zum Schluss unseres Interviews vielleicht auch noch ein Wort zu Europa, zum Zustand Europas. Wenn Sie mit jungen Menschen sprechen - wir haben über die deutsch-französischen Beziehungen eingangs unseres Gesprächs gesprochen -, wie beschreiben Sie, wie stufen Sie den Zustand Europas ein?
Grosser: Zuerst einmal das Unwissen in der Presse, von den Politikern, wie schon vorhin gesagt, es wird nur das Schlechte hervorgehoben. Dann, dass man nicht vergessen sollte, dass das Europa leider das Europa von de Gaulle ist und nicht das von Robert Schuman. Es sind nämlich die Staaten, die die Macht haben, es ist der Rat, der die Macht hat - und wie oft wird dann eine Entscheidung kritisiert, die vom deutschen oder französischen Botschafter gut geheißen worden ist, also von den Staaten. Und das Transnationale ist jetzt leider ein bisschen mehr im Parlament, das Gott sei Dank immer mehr Rechte bekommt durch verschiedene Verträge, aber es hat sich noch nicht so eingespielt. Und leider funktioniert das noch nicht so gut. Also ich erkläre den jungen Leuten sehr viel, sage aber auch: "Es ist immer besser, als man glaubte." Wer hätte zum Beispiel zwei Jahre vor dem Euro gesagt, es kommt der Euro - es hätte niemand geglaubt. Wer hätte nach '45 gesagt, dass so etwas entstehen könnten - es hätte niemand geglaubt. Und deswegen bezeichne ich es immer als ein Sisyphus, der seinen Stein den Berg hochschiebt und dieser fällt immer wieder runter, aber jedes Mal bleibt er unten ein bisschen weiter oben liegen als das letzte Mal.
Welter: Und so ist es auch in der Europapolitik?
Grosser: So ist es auch in der Europapolitik.
Welter: Tragen denn die deutschen und die französischen Regierungen der jüngsten Vergangenheit mit dazu bei, dass, ich sage mal, der Geist von Monnet und Schuman auf der Strecke geblieben ist?
Grosser: Ja. Also, es hat gute Tage gegeben: Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt.
Welter: War Ihnen das das Liebste?
Grosser: Nein, das Liebste ist ein Dreieck: Das war Helmut Kohl und François Mitterrand mit Jacques Delors, der letzte gute Präsident der Kommission in Brüssel.
Welter: Wenn Sie sehen, wie dünn der Firnis ist, wenn es jetzt auch um Proteste geht zum Beispiel gegen Deutschland oder gegen Deutsche in Italien, in Griechenland, andernorts wegen der Sparpolitik, der gemeinsamen Währungspolitik, machen Sie sich dann Sorgen um Europa?
Grosser: Ja, und ich würde sagen, das ist auch ein Punkt, wo Deutschland Frankreich braucht, um alles zusammen zu machen und das nicht alleine zu verantworten.
"Dass ich mich nie verändert habe, darauf bin ich stolz"
Welter: Auch "braucht", um eine andere Handschrift in die europäische Politik zu bringen?
Grosser: Auch das, aber ich weiß nicht, was die Kanzlerin tun soll. Und ich weiß auch nicht, was sie über Europa wirklich denkt, das hat sie nie klar gesagt, also über welche Form von Europa. Aber sie ist in einer ganz, ganz schwierigen Lage – ich beneide sie nicht. Wenn sie etwas unterlässt, heißt es: "Ach, wie regiert sie doch schwach." Wenn sie etwas tut, heißt es: "Ach, sie dominiert Europa."
Welter: Sprechen wir zum Schluss noch mal über Ihren 90. Geburtstag. Wenn Sie auf diese ausgefüllten 90 Jahre zurückblicken, auf Ihr intellektuelles, auf Ihr humanistisches, auch moralisches Wirken, gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?
Grosser: Dass ich mich nie verändert habe, darauf bin ich sehr stolz. Das heißt, was ich glaube, was ich will, das wusste ich schon direkt nach dem Krieg oder am Ende des Krieges. Und ich habe mich nie... also bis jetzt habe ich noch nichts bereut, aber ich weiß nicht, ob ich nicht bereuen sollte. Aber jedenfalls bereue ich nichts. Und stolz bin ich auf die Anerkennung der Bundesrepublik, die Anerkennung in Frankreich - aber das nicht so sehr, wie in der Bundesrepublik. Und ich habe mein Leben ausgeübt - wie ich es selbst einmal gesagt bekommen habe von einem Journalisten - als Moralpädagoge.
Welter: Es heißt allenthalben, Sie würden sich als "Atheist mit Nähe zum Christentum" sehen?
Grosser: Also sagen wir so, ich habe viele geistige Verbindungen mit christlichen Freunden, ich bin immer im christlichen Milieu, aber als Atheist.
Welter: Mit 90 Jahren - erlauben Sie diese Frage -, macht man sich da auf die Suche nach Spuren von Transzendenz? Mitterrand hat das ja sehr stark getan.
Grosser: Nein, keineswegs, also überhaupt nicht. Wenn ich sterbe, bin ich tot. Und ein griechischer Philosoph hat gesagt: "Ich bin da, wenn der Tod nicht da ist und wenn der Tod da ist, bin ich nicht mehr."
Welter: Alfred Grosser, ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Und natürlich Glückwunsch zum 90.
Grosser: Vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.