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Punk-Pose gegen reale Trostlosigkeit

Die Theater brauchen immer wieder neue Stoffe - und da kommt junge Dramaturg Nis-Momme Stockmann gerade recht. "Das blaue blaue Meer" ist ein Stück über die Sehnsucht von Menschen, die raus wollen - aus einer Welt, die von Arbeitslosigkeit, Gewalt und Sucht bestimmt ist.

Von Ruth Fühner |
    Links ein Cello, rechts Gitarre und Synthesizer, die Wand gepflastert mit Eierkartons wie ein Probenraum. Einer tritt ans Mikro und erzählt von den Sternen im Herbst – mit einer wehmütig schwebenden Ballade beginnt das Stück, das Schlagzeug hinten kommt später auch noch zu brachialem Punkeinsatz, dann sind die Eierkartons abgeblättert und drunter kommt Plattenbautristesse zum Vorschein.

    Der am Mikrofon heißt Darko, und wann genau im Herbst das mit den Sternen ist, hat er vergessen, er hat's nicht so mit dem Denken, denn Darko säuft. Tut er nicht, zumindest nicht auf der Bühne, und Darko kann ziemlich gut reden für einen, der sich die Birne zuknallt, damit er die Wohnsiedlung nicht mehr sehen muss, in der sich die Leute aus Verzweiflung von den Dächern stürzen. Das ist schon ziemlich genial gemacht von Nis Momme Stockmann und seinem Regisseur Marc Lunghuß – ein Leben im Prekariat, eben nicht vorgespielt, sondern erzählt wie ein Roman in Kapiteln, das hilft gegen falsche Unmittelbarkeit. Die Risse in der Figur bleiben offen, theatralische Punk-Pose und diskursive Schärfe stehen gegen Einfühlung, romantische Poesie gegen reale Trostlosigkeit. Und Nils Kahnwald als Darko – natürlich in der generationsspezifischen Trainingsjacke – schafft es, seine Augen so stumpf wirken zu lassen, dass man sich schon fragt, was mit ihnen los ist, bevor das Motte tut, die "Wohnsiedlungsprostituierte", in die sich Darko verliebt, und die von Norwegen träumt, wo das Meer wirklich blau ist. Henrike Johanna Jörissens Motte ist zerbrechlich und aus Stahl, ein starkes Irrlicht in Tropenhelm und Tarnklamotten, schwirrend zwischen Trotz und Verheultheit.

    Es passiert nicht viel in dem Stück, natürlich kommen die beiden nirgendwohin, schon gar nicht ans Meer, nicht mal in den Zoo, aber aus Darkos Erzählungen entsteht ein Kosmos, den die meisten Theaterbesucher allenfalls aus Fünfzeilen-Meldungen in der Zeitung kennen, wenn sie die nicht lieber überlesen – aus Missbrauch, Versinken im Alkohol, Gewalt und Selbstverstümmelung.

    Eingelagert darin sind, wie nebenbei, irritierende kleine Splitter – liebevoll restaurierte Autos, messingglänzende Armaturen in Siedlungsbadezimmern, der ARD-Weltspiegel, der durch die dünnen Wände tönt. Das sind weniger Ungenauigkeiten als präzise Blinkzeichen, eine kleine scharfe Warnung an die geschützten Mittelschichts-Existenzen im Publikum: hallo! Ihr seid gemeint! Und auch das bleibt nicht ohne Schockwirkung: die Ahnung, dass Leute wie Darko, dass die Totschläger und Komasäufer nicht aus Stumpfheit totschlagen und saufen, sondern weil sie zu den Empfindlichen gehören, die die Rohheit der strukturellen Ausgrenzung nicht aushalten.

    Hie und da tut Stockmann zu viel des Guten. Da häufen sich die Horrormeldungen zur Freakshow, es deutet sich an, dass Darko ein dunkles Geheimnis hat, und gegen Ende wird doch so etwas wie Identifikation mit dem Elend erpresst. Dabei hätte er das gar nicht nötig. So überraschend frisch und authentisch wirkt dieses Stück gerade deshalb, weil es die Authentizität kalkuliert auf Abstand hält – und exakt so lange es das tut.
    Nis-Momme Stockmann hat die jüngsten Sozio-Erhebungen über Hartz-IV-Land und gesellschaftliche Ausgrenzung im Kopf, ein, zwei Ausfälle in Richtung Kapitalismuskritik erlaubt er sich auch, schließlich sieht er sich als politischen Autor, aber zu einer Jugendbewegung formiert sich das nicht mehr – da passt der Tocotronic-Sound ganz gut, der durch das Stück weht: das Lebensgefühl einer Generation, die schon aufgegeben hat, bevor sie an den Start ging. Ein Lebensgefühl, das die auf und hinter der Frankfurter Bühne mit den Darkos dieser Welt ebenso zu teilen scheinen wie die Kapuzenshirts, mit denen sie zum verdienten Applaus antreten.