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Quotenregelung für Flüchtlinge
"Polen muss sich daran beteiligen"

Auch wenn Polen bisher kaum Flüchtlinge aus dem nordafrikanischen Raum aufgenommen habe, sei die Debatte um eine angemessene Quotenregelung wichtig, sagte der polnische Publizist Adam Krzeminski im DLF. Er sei erfreut, dass ausgerechnet EU-Ratspräsident Donald Tusk die Initiative ergriffen habe. Jetzt müssten sich die Polen diesem Thema stellen.

Adam Krzeminski im Gespräch mit Dirk Müller | 13.05.2015
    Porträt von Adam Krzeminski
    Der polnische Publizist und Journalist Adam Krzeminski bei einer Podiumsdiskussion im Mai 2014 in Berlin. (dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Dirk Müller: Armutskrieg und Unterdrückung, das sind die Hauptgründe für Menschen, die lebensgefährliche Fahrten mit Schleppern über das Mittelmeer nach Europa wagen. Über 200.000 waren es im vorigen Jahr. Die offizielle Zahl: 219.000. Im Jahr 2015 werden es wohl mindestens eine halbe Million werden. Das sind zumindest die Schätzungen auch der Vereinten Nationen. Tausende werden wieder umkommen, auch das gehört zu den Schätzungen, im Mittelmeer auf abgewrackten Booten, geführt von Schleppern, die kein Risiko scheuen. Die EU will jetzt helfen: Nicht nur mehr Flüchtlinge retten, sondern die Gestrandeten, die Geretteten vor allem auch in Europa besser und gerechter verteilen.
    Wie solidarisch in der Flüchtlingsfrage ist Europa? Das ist weiterhin unser Thema. Zu diesen Sünderstaaten gehört auch Polen. Warschau nimmt kaum Flüchtlinge auf. Das sind jedenfalls die offiziellen Zahlen. Darüber wollen wir sprechen mit Adam Krzeminski, polnischer Publizist und Chefkommentator der Wochenzeitung "Polityka". Guten Tag nach Warschau.
    Adam Krzeminski: Guten Tag!
    Müller: Herr Krzeminski, ist für Polen Europa eine Einbahnstraße?
    Krzeminski: Das ist eine ziemlich einseitige Sicht. Abgesehen davon: Der Begriff Sünderstaaten, das erinnert mich so ein bisschen an den Begriff Erika Steinbachs, die Vertreiberstaaten. Die einseitige Sicht beruht darauf, dass wir etwa eine halbe Million Ukrainer in Polen haben. Es gibt auch zunehmend eine Flüchtlingswelle aus der Ukraine vor dem Krieg. Es gibt auch Tschetschenen in Polen.
    Aber es stimmt: Im Vergleich mit Westeuropa sind die Flüchtlinge aus dem nordafrikanischen Bereich nicht präsent. Und man muss auch zugeben: In der ganzen Debatte zum Beispiel um den Islam und den Euroislam ist Polen gar nicht beteiligt. Wir haben keine oder nicht viele Muslime in Polen. Der Punkt ist, glaube ich: 25 Jahre nach 89, also nach der Revolution in Ostmitteleuropa, waren diese Länder, die früher zu dem sowjetischen Einflussbereich gehörten, mit der Flüchtlingsproblematik aus den nordafrikanischen Ländern oder auch aus Asien nicht so ausgesetzt wie die Westeuropäer. Insofern ist auch die ganze Debatte um die Angliederung, auch die sozialen Probleme, wirtschaftlichen, finanziellen Probleme, diese Debatte ist in Polen noch nicht im Gange, das stimmt.
    "Unsere Länder waren mit anderen Problemen beschäftigt"
    Müller: Dann frage ich Sie: Finden Sie das politisch richtig?
    Krzeminski: Richtig oder falsch, es ist die Tatsache. Diese Länder waren mit völlig anderen Problemen konfrontiert, der Transformation der sozialen Verwerfungen nach der friedlichen Revolution.
    Müller: Aber Herr Krzeminski, wir haben ja jetzt 2015. Wir haben jetzt doch einige Jahre später. Polen ist wirtschaftlich längst auf die Beine gekommen.
    Krzeminski: Nein, nein. Es ist zwar längst auf die Beine gekommen, aber ein Drittel der polnischen Bevölkerung gehört wirklich nicht zum Sieger der Transformation.
    Müller: In Griechenland auch nicht.
    Krzeminski: Na gut, Griechenland hat keinen Kommunismus gehabt. Aber der Punkt ist natürlich: Ich bin der Meinung, Polen müsste sich daran beteiligen. Die Argumentation gerade in diesem Wahljahr, wo die Populisten im Vormarsch sind, die Argumentation ist in der Öffentlichkeit, die nicht richtig ist, die Flüchtlinge wollen sowieso nicht in Polen, sondern sie wollen in den reicheren westeuropäischen Staaten sein. Wenn man schon an die Quoten denkt, dann muss man auch an die Modalitäten dieser Quotierung denken, wie diese unerfahren ostmitteleuropäischen EU-Staaten damit umgehen können. Denn es müsste nicht im Interesse der EU liegen, diese Verunsicherung, die vielleicht nicht so sehr in Polen ist, aber wir haben sie in Rumänien, wir haben sie in der Slowakei, wir haben sie in Tschechien, in Ungarn - ich denke jetzt an die Zigeuner, an die Roma -, dass man diese Probleme noch vertieft.
    Müller: Irgendwann muss man anfangen, sagen ja einige, sagen auch deutsche Politiker, wenn sie sich die Zahlen anschauen. Vielleicht schauen wir auch noch einmal darauf, um das etwas zu klarifizieren, etwas deutlicher noch mal zu zeichnen, das Bild.
    Krzeminski: Der Punkt ist, dass die Tschetschenen, die nach Polen ...
    Müller: Entschuldigung, Herr Krzeminski. Lassen Sie mich bitte erst noch mal die Zahlen nennen, auch noch mal für die Hörer. 600.000 Asylanträge in der EU im vergangenen Jahr, bezieht sich alles auf die Zahlen und Erkenntnisse von 2014. Deutschland hat 203.000 Flüchtlinge aufgenommen und es geht da in erster Linie auch um Flüchtlinge, die als Migranten gekommen sind aus Nordafrika. Polen 8000, Großbritannien 32.000. Schweden, viel, viel kleiner als Polen, 81.000. Polen 8000. - Sie haben die Gründe ja aus Ihrer Sicht dargestellt.
    Krzeminski: Nein, nicht nur die Gründe. Auch die Zahlen. Die Zahlen sehen ein bisschen anders aus, wenn Sie wirklich die Ukrainer mitrechnen, die hier herkommen.
    Müller: Herr Krzeminski, wir haben ja die Migranten und Asylsuchenden von den Balkanstaaten auch nicht mit einbezogen in diese Diskussion, die auch nach Schweden, die auch nach Deutschland kommen. Wenn wir jetzt aber noch mal auf die europäische Solidarität zu sprechen kommen: Sie haben Gründe genannt, Sie haben Hintergründe genannt, auch die historischen Probleme. Ist es jetzt Zeit, wenn Sie das jetzt zu kommentieren hätten, dass Polen sich öffnet und auch Ja sagt zu Flüchtlingen aus Afrika?
    "Donald Tusk hat die Initiative ergriffen"
    Krzeminski: Ich glaube, es ist tatsächlich an der Zeit, und ich freue mich, dass ausgerechnet der polnische Präsident der EU, Donald Tusk, die Initiative ergriffen hat mit dem Gipfel nach der Katastrophe im Mittelmeer mit den Flüchtlingen. Und diese Debatte muss natürlich auch in Polen geführt werden. Das Fatale ist nur, dass wir mitten im Wahlkampf sind, nicht nur in Präsidentschaftswahlen, sondern auch die Parlamentswahlen im Herbst, und dadurch werden völlig andere Themen in den Vordergrund geschoben. Trotzdem finde ich, dass diese Debatte hier in Polen dringend, dringend geführt werden muss. Ich war vor zwei Tagen bei einer Aufführung der "Schutzbefohlenen" von Elfriede Jelinek, junge Leute waren dabei, und diese Debatte zeigte, wie unbeholfen sie sind gegenüber dieser Herausforderung. Insofern stimme ich mit Ihnen überein, dass diese Debatte dringend jetzt in Polen auch geführt werden muss.
    Müller: Es war eine Frage von mir, ich habe gar keine These formuliert. - Sie sagen, Donald Tusk. Das ist interessant. Jetzt ist er Ratspräsident der Europäer. Innerhalb der Europäischen Union ist er plötzlich für die Flüchtlingsaufnahme. Als Ministerpräsident wollte er jahrelang nichts davon wissen. Kommt es immer nur ein bisschen auf die Perspektive an?
    Krzeminski: Nein, nein. Es kommt nicht auf die Perspektive an, sondern als Ministerpräsident war er technisch gesehen mit einer anderen Lagerung dieses Problems konfrontiert, und zwar es war klar, dass diejenigen, die nach Polen kamen, nicht in Polen bleiben wollten. Jetzt ist er nicht der polnische Ministerpräsident, sondern er ist der Präsident der EU für zweieinhalb Jahre, und insofern ist die Perspektive natürlich anders.
    Müller: Jetzt wird er in Polen nicht mehr gewählt, jetzt sagt er plötzlich aufnehmen.
    Krzeminski: Nein, nein. Er hat die Initiative ergriffen, einen Gipfel in Sachen der Flüchtlinge aus Nordafrika einzuberufen, und das ging sehr schnell und zügig voran. Insofern hat er seine Rolle erfüllt. Aber er ist für die Debatte, die intern in Polen geführt werden sollte, und ich bin sicher, geführt wird, nicht mehr zuständig.
    Müller: Vielen Dank für diese Informationen nach Warschau.
    Krzeminski: Vielen Dank. Danke schön!
    Müller: Adam Krzeminski, polnischer Publizist und Chefkommentator der Wochenzeitung "Polityka". Noch mal danke, Ihnen noch einen schönen Tag.
    Krzeminski: Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.