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Raabe-Preis für "Der goldene Handschuh"
"Ein Milieu, das man aus der Literatur nicht kennt"

Literatur vom Feinsten aus einem Milieu vom Gröbsten: Der Raabe-Literaturpreis 2016 geht an Heinz Strunk für seinen Roman "Der goldene Handschuh". Die Art, wie Strunk über die Reeperbahn-Szene der 70er schreibe, sei ihm zuvor noch nicht untergekommen, sagt DLF-Literaturredakteur und Jury-Mitglied Hubert Winkels.

Hubert Winkels im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 21.09.2016
    Der Entertainer und Autor Heinz Strunk auf dem Blauen Sofa der Leipziger Buchmesse
    Der Entertainer und Autor Heinz Strunk auf dem Blauen Sofa der Leipziger Buchmesse (Deutschlandradio / Margarete Hucht)
    Maja Ellmenreich: Fiete alias Fritz Honka, der Frauenmörder aus Hamburg, den es tatsächlich gegeben hat, ist der Protagonist in dem Roman "Der goldene Handschuh" von Heinz Strunk. Der Deutschlandfunk und die Stadt Braunschweig ehren Autor und Buhc mit dem diesjährigen Wilhelm-Raabe-Literaturpreis; dotiert ist er mit 30.000 Euro und zählt zu den bedeutendsten Literaturauszeichnungen im deutschsprachigen Raum. Mein Kollege Hubert Winkels ist Literaturredakteur im Deutschlandfunk und Vorsitzender der Raabe-Preis-Jury. Herr Winkels, die Feuilletons haben ziemlich einhellig den "Goldenen Handschuh" von Heinz Strunk bejubelt. Waren Sie in der prominent besetzten, neunköpfigen Jury auch einer Meinung?
    Hubert Winkels: Ja, alle fanden das Buch herausragend gut. Es gab natürlich den einen oder anderen, der auch stark in diesem Fall für Terézia Mora zum Beispiel und ihren neuen Erzählungsband "Die Liebe unter Aliens" plädiert hat. Aber alle fanden ihn sehr gut und die überwiegende Zahl war denn auch ohne jede Einschränkung dafür, dass er den Preis bekommt. Es gab überhaupt keine Reserven nach dem Motto: Das ist vom Milieu her schwierig, das ist vom Typ Strunk als Kabarettist und Musiker, Unterhalter, Entertainer und so weiter schwierig, oder es ist nicht literarisch genug, sondern zu sozial-voyeuristisch oder was man dem Buch vorwerfen könnte. All das tauchte gar nicht auf. Sondern man hat sich von Anfang an eingelassen auf die spezielle literarische Herangehensweise von Strunk an dieses ganz außergewöhnliche Milieu, das man aus der Literatur, man kann fast sagen, gar nicht kennt. Man kennt es, glaube ich, in Ansätzen, natürlich: Versoffene Gestalten, die nächtelang in Kneipen dahinvegetieren, tauchen immer mal wieder auf. Und es gibt ein paar Autoren wie Bukowski oder Hubert Fichte mit der Palette, die solche Milieus auch kennen. Aber mit einer solchen Konzentration auf diesen Abgrund zu schreiben, ist mir eigentlich noch nicht untergekommen.
    "Er kriecht in diese Figuren rein"
    Ellmenreich: Auf diesen Abgrund zu schauen, haben Sie gerade gesagt. In der Jury-Begründung heißt es: Literatur vom Feinsten aus einem Milieu vom Gröbsten. Was für eine Art Blick wirft denn Strunk auf diese Reeperbahn-Szene der 70er, die dem Suff und der Gewalt verfallen ist? Ist da Voyeurismus im Spiel, oder ist das eher Empathie für diese gescheiterten Existenzen?
    Winkels: Das ist sehr schwer zu sagen. Man könnte es eher negativ bestimmen, indem man sagt: Es ist nicht pathetisch, es ist nicht sentimental, es ist nicht voyeuristisch, es ist nicht von Mitleid geprägt, es ist nicht ironisch. Dann hat man immer noch nicht gesagt, was es denn de facto ist. Es ist sehr schwer zu beschreiben. Er ist sehr, sehr nah dran an seinen Figuren, vor allen Dingen natürlich an Fritz Honka, aber auch an den Frauen, die er umbringt. Die begleitet er auch. Er kriecht teilweise in diese Figuren rein, er macht sich ihre inneren Stimmen zu eigen, die übrigens dabei sind, fast zu verstummen. Von Gerda, der ersten Frau, wird gesagt, sie hat eine Aufmerksamkeitsspanne von drei Sekunden. Wie glücklich, dass sie nach drei Sekunden nicht mehr weiß, was vor drei Sekunden war. Und wenn man das ernst meint, ist es für einen Schriftsteller ja eine schwere Herausforderung, sozusagen diese Form von Erinnerungslosigkeit und von dumpfem triebmäßigem Dahinleben überhaupt zu fassen. Sie ist ja sprachlos; wie übersetze ich die in Sprache.
    Na ja, und das macht er durch eine große Nähe, die aber einen leichten Sarkasmus mit Humor gemischt hat. Er braucht ja irgendein Distanzierungsmittel, sonst würde er ja quasi avantgardistische Stammelpoesie schreiben, wenn er das wirkliche Innenleben darstellen wollte. Und ich würde sagen, den Abstand, den er markiert, könnte man humoristisch-sarkastisch nennen, aber in sehr, sehr feinen Dosen, in keiner Weise sozusagen wegschubsend die Dinge, sondern sie überhaupt mal sagbar und halbwegs erträglich machend für den Leser. Wobei es viele gibt, die selbst das nicht ertragen. Er ist wirklich ganz nah an diesen Körperfunktionen. Wenn quasi im Kopf nichts mehr läuft, dann wird der Körper entscheiden: Die Ausscheidung, es wird permanent irgendwo uriniert, defäziert, man könnte auch Sagen Sex gemacht. Aber Sex ist dann auch nur ein Vollstopfen von Körperteilen mit irgendetwas, was irgendwo herumliegt. Die Körper fangen an, sich nicht mehr von den Matratzen zu unterscheiden, und der Geruch geht über von Leichen in alte Teppiche, in Personengerüche. Es ist quasi fast eine Naturgeschichte daraus geworden. Die Entmenschung geht dann extrem weit, die geschildert wird. Es ist eine Gratwanderung, wie ich sie so noch nicht erlebt habe, und ich finde, die ist sehr gelungen wegen dieser leichten humoristischen Nonchalance.
    "Dann fließen ihm die Worte der Verwerfung, der Schande und des Schmutzes nur so zu"
    Ellmenreich: Heinz Strunk möchte ja auf gar keinen Fall, das wissen wir schon mal, Comedian genannt werden. Humorist, das haben Sie vorhin auch schon genannt, humoristisch. Humorist würde er gelten lassen, Schriftsteller natürlich auch und nicht zuletzt Musiker. Kommen wir vielleicht noch mal ganz konkret auf die Sprache dieses Romans. Steckt da irgendwie, ich will jetzt nicht so platt sagen, Musik in diesem Roman, aber steckt da Rhythmus, steckt da so was Musikalisches drin?
    Winkels: Ja. Es fängt quasi im Reportagestil an und wechselt dann in diese ganz, ganz nahe Close-up-Sphäre. Und dann lässt er sich fallen in diesen Innenraum dieser verlorenen Figuren, wechselt zwischen den Figuren hin und her, und dann kommt so was wie ein Flow zustande. Er arbeitet sehr stark auch mit Übertreibungen. Man kann das Unheil ja unglaublich gut steigern, viel besser als das Glück, was man bei Dante schon sieht, wo das Paradies der langweiligere Teil des Jenseits ist als die Hölle. Und da in diesem Flow, man hat das Gefühl, schon wie ein Lyriker, wie ein Poet kann er sich schon reinsteigern. Dann fließen ihm die Worte der Verwerfung, der Schande und des Schmutzes nur so zu. Es gibt diese fast so jazzigen Passagen, die sich verselbständigen sprachlich, aber gut dosiert. Er hält das schon an festen Zügeln, weil er nicht die Literatur über das Thema stellen will. Es ist ihm schon wichtig, auch darum zu tun, die Figuren und ihre Dimension sichtbar werden zu lassen für uns, und das verträgt jetzt nicht zu viel sprachliches Jazzen. Aber es gibt es.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.