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Mehr Ausgeglichenheit durch Tai Chi

Manchmal sieht man sie in öffentlichen Parks: Menschen, die sich wie in Zeitlupe bewegen. Über die Jahrhunderte haben sich verschiedene Tai-Chi-Stile entwickelt. Gemeinsam ist ihnen das Fließende: Es wird immer der ganze Körper bewegt. Studien belegen zahlreiche positive Effekte für die Gesundheit.

Von Andrea Westhoff | 09.01.2018
    Eine Gruppe von Menschen praktiziert Tai Chi in einem öffentlichen Park
    Eine Gruppe von Menschen praktiziert Tai Chi in einem öffentlichen Park (imago stock&people)
    Man sieht sie immer häufiger in Gesundheitseinrichtungen und Sportstudios, aber auch in öffentlichen Parks und privaten Gärten: Menschen, die sich fast auf der Stelle und in Zeitlupe bewegen, wie von einer unhörbaren Musik geleitet.
    "Primär erlernt man beim Tai Chi eine Form. Diese "Form" stellt sich zusammen aus Einzelbewegungen, aber das wesentliche daran ist, dass jede dieser Einzelbewegungen zusammenfließen zu einem Ganzen. Das heißt am Ende haben wir eine geschlossene Bewegungsabfolge."
    "Dieses Formlaufen kann in der Gruppe passieren, kann alleine passieren, kennzeichnend ist aber, dass keine direkte Interaktion mit jemand anderem stattfindet, es ist also ein Tanz für einen alleine, um es mal plakativ zu sagen. Man kann aber auch einen imaginären Gegner, in Anführungszeichen, bekämpfen, daher kommt vielleicht auch dieser Begriff Schattenboxen, vielleicht, ja."
    Meditation in Bewegung
    Der vollständige Name "Tai Chi Chuan" bedeutet etwa: "Die große Harmonie von Yin und Yang im Nutzen der Faust", sagt Dr. Lutz Liese, Spezialist für Traditionelle Chinesische Medizin am Immanuel-Krankenhaus in Berlin.
    "Tai Chi Chuan ist von den Ursprüngen her eine Kampfkunst, und eine zweite wichtige Wurzel liegt in den philosophischen, medizinischen daoistischen Traditionen Chinas, so dass man vielleicht schon sagen kann, von frühester Zeit an war eine gewisse Verknüpfung da zwischen Kampfkunst und Gesundheitsaspekt."
    Denn beim Tai Chi geht es wie in der chinesischen Medizin um die Regulierung der "Lebensenergie". Dr. Marianne Zwanzig-Deider, die seit 30 Jahren Tai Chi in Berlin praktiziert und lehrt, spricht daher auch von einer "Meditation in Bewegung":
    "Das ist der körperliche Aspekt, das Erlernen der Bewegungen, und im weiteren Verlauf kommt die Energiearbeit, das ist sozusagen die Essenz hinter den Bewegungen, im weiteren Verlauf des Übens öffnet sich der Körper auf der feinstofflichen Ebene für den stetigen allumfassenden Energiefluss der Lebensenergie, des Qi eben. Und mit diesem Energiefluss wird die gesamte Bewegung des Tai Chi weicher und ausgewogener, aber nicht schlaff, sondern sie wird von innen angefüllt und lebendig."
    Verschiedene Tai-Chi-Stile
    Über die Jahrhunderte haben sich verschiedene Tai-Chi-Stile entwickelt, benannt nach den Gründerfamilien: Es gibt den Chen-, den Yang-, den Wu- und den Sun-Stil – sowie viele Untergruppen. Sie unterscheiden sich vor allem in den Choreografien, den Bewegungsabläufen, aber nicht prinzipiell:
    "Jede Bewegung im Tai Chi wird nach bestimmten Grundprinzipien ausgeführt, die in den Schriften der alten Meister niedergelegt und beschrieben sind, dazu zählen zum Beispiel, dass wir uns aufrichten wie eine Blume, die der Sonne entgegen wächst, dass wir unseren Rumpf als Drehachse wahrnehmen, um diese Drehachse herum bewegen wir uns, und unser Schwerpunkt befindet sich im Tun T'ien, das ist das Energiezentrum, das liegt unterhalb des Bauchnabels, und von dort aus kommt die Bewegung."
    Geschmeidigkeit bis ins hohe Alter
    Ein weiteres Prinzip des Tai Chi ist das Fließende: Es wird immer der ganze Körper bewegt. So bleibt geschmeidig - bis ins hohe Alter. "Das, was uns alt werden lässt, ist die Starrheit, und Tai Chi hält uns weich, und zwar nicht nur körperlich sondern auch geistig."
    Die Tai-Chi-Bewegungen sind Schrittkombinationen auf kleinem Raum, während die Arme und Hände zum Beispiel einen imaginären Schlag abwehren oder einen Fauststoß ausführen. In manchen Kursen werden auch Schwerter oder Fächer verwendet. Dennoch ist gerade der Yangstil, den Marianne Zwanzig-Deider lehrt, auch gut für ältere Menschen geeignet.
    "Es sind zwar Kampfanwendungen, aber sie werden so sanft und ohne körperliche Kraft ausgeführt, dass sie für jeden ausführbar sind. "
    Im Chen-Stil, den Lutz Liese selbst praktiziert, geht es etwas kampfbetonter zu, auch mit fließenden, aber schnelleren Bewegungen, und gelegentlich stampfenden Schritten. Deshalb macht der Arzt eine kleine Einschränkung:
    "Da muss man genau schauen, welchen Tai-Chi-Stil mache ich? Da gibt’s viele Stile, die vielleicht bei den Knien nicht ganz so optimal sind, und das eigentlich, muss man sagen, der einzige Schwachpunkt am Tai Chi, wo man ein bisschen aufpassen muss.
    Viele positive Effekte für die Gesundheit
    Ansonsten aber hat Tai Chi viele positive Effekte für die Gesundheit, die auch in Studien nachgewiesen wurden.
    Pprävention oder Schmerzlinderung bei Fibromyalgie oder anderen Bewegungsapparatsbeschwerden oder Wirbelsäulenbeschwerden, oder natürlich alles was mit Stressreduktion zu tun hat, ist ein großes Gebiet, wo Tai Chi Chuan helfen kann, und solche Entspannungstechniken die ermöglichen dem Menschen wieder zu regenerieren."
    Tai Chi verbessert auch die Atmung, hilft bei Herz-Kreislauf- und Schlafstörungen. Es schult den Gleichgewichtssinn, fördert die Koordinations- und Konzentrationsfähigkeit. Und nicht zu vergessen: Tai Chi hat schon von den Ursprüngen her einen "meditativen" Aspekt:
    "Das wichtige bei der Energiearbeit ist nach meiner Erfahrung das Loslassen. Je mehr wir loslassen, je weniger Kraft, also muskuläre Kraft, aber auch Willenskraft wir anwenden, desto mehr Energie fließt. "
    Leistung und Schnelligkeit spielen keine Rolle
    Anfänger tun sich allerdings manchmal schwer mit dem Tai Chi, denn so eine fließende, ununterbrochene Bewegungsfolge ist schon als Kurzform 10 bis 15 Minuten lang. Dazu meint Marianne Zwanzig-Deider:
    "Nach meiner Erfahrung ist es so, dass der Schüler de facto eigentlich an seinen eigenen Ansprüchen verzweifelt. Wir leben in einer Gesellschaft, wo es hauptsächlich um Leistung geht und um Schnelligkeit. Und beides spielt im Tai Chi überhaupt keine Rolle. das ist das, was ich bei meinen Schülern versuche, ihn dazu zu bringen anzuerkennen, was sein Ausgangspunkt ist: Wo steht er, wie ist sein Körperbewusstsein, wie ist sein körperlicher Ausgangszustand, und von diesem Punkt an bewegt er sich, verbessert er sich, arbeitet er. Und das Ziel ist das Arbeiten an sich und nicht, die Form so schnell wie möglich gelernt zu haben.
    Wie gut Tai Chi der eigenen körperlichen und seelischen Gesundheit tut, hängt letztlich auch von der Wahl des richtigen Kurses ab. Dr. Lutz Liese, der Tai Chi-Erfahrene und Arzt, rät:
    "Die wesentlichen Aspekte sind aus meiner Sicht erst mal, dass es einfach von der Chemie her stimmen muss, also man muss ein gutes Verhältnis haben zur Lehrerin, zum Lehrer, dann halte ich es für wichtig, dass sie Haltungskorrekturen macht, und dass eben auch ein gewisses, im besten Falle noch medizinisches Hintergrundwissen besteht, wobei man da einschränkend sagen muss, jemand, der seinen Stil beherrscht, der hat normalerweise auch eine Kompetenz, was Beschwerden des Bewegungsapparates angeht."

    Dr. Marianne Zwanzig-Deider ist überzeugt, dass die Erfahrung mit dem Tai Chi am Ende über einen Kurs hinausführt:
    "Wie jede andere Meditationsform auch, geht Tai Chi auch mit in den Alltag wieder zurück. Es ist nicht nur so, dass wir Tai Chi an jeder Stelle, im Park, am Meeresstrand oder zuhause im Wohnzimmer ausführen können, ohne irgendetwas dazu zu brauchen außer uns selbst, ganz wesentlich aber ist für mich, dass durch dieses Loslassenkönnen unseres Gedankenstromes, der permanent ansonsten laut in unserem Kopf ist, dass wir genau da ankommen, wo sich unser Leben normalerweise abspielt, im Jetzt."