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Frauenradsport in den Niederlanden
Eine Radlänge Vorsprung

Zum fünften Mal in sechs Jahren gewinnt eine Niederländerin die Weltmeisterschaft im Straßenradsport. Und auch bei anderen Rennen dominieren die Frauen aus den Niederlanden. Grund ist die lange Tradition des Radsports im Land. Deutschland hingegen fährt hinterher.

Von Christian von Stülpnagel | 24.09.2022
    Annemiek van Vleuten jubelt im Weltmeistertrikot mit Regenbogenstreifen auf dem Siegerpodest.
    Nach der Tour de France Femmes siegte die Niederländerin Annemiek van Vleuten auch bei der Weltmeisterschaft (picture alliance / dpa / BELGA / Dirk Waem)
    Die Neuauflage der Tour de France der Frauen in diesem Jahr hätte auch gut „Festival der Niederländerinnen“ heißen können. In gewisser Art habe ich diesen Erfolg erwartet, weil ich meine Mädels in der Sprintvorbereitung hatte und wir alle wissen, dass Marianne Voss sehr stark ist“, sagt Lorena Wiebes. „Aber ich hätte nicht gedacht, dass wir alle Trikots gewinnen würden.“ Die Niederländerin hat die erste und die fünfte Etappe der Tour gewonnen. Insgesamt gingen sechs der acht Teilstücke an sie und ihre Landsfrauen, genauso wie auch alle Wertungstriktots.

    10 Giros, zwei Vueltas, unzählige Klassiker

    Im Frauenradsport ist das kein Einzelfall. Die Niederländerinnen gewinnen so gut wie alles. Zehn der vergangenen zwölf Italienrundfahrten, die zwei jüngsten Spanienrundfahrten, fünf Mal den Klassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich und zwölf Mal den Wallonischen Pfeil – in den vergangenen 16 Jahren.
    Bei Weltmeisterschaften ist die niederländische Dominanz ähnlich groß. Mit Annemiek van Vleutens Sieg 2022 trägt zum fünften Mal in sechs Jahren eine Niederländerin das Regenbogentrikot – genau wie auch beim Zeitfahren.
    Der Grundstein für diesen Erfolg liegt in der Jugend – und in der Tatsache, dass in den Niederlanden so gut wie jeder Fahrrad fährt.

    Mehr Mädchen als Jungs in den Vereinen

    In den Niederlanden ist es normal, Rad oder Rennrad zu fahren. Und es gibt viele Rennen. Schon vor Jahren war es auch für Mädchen normal, in einen Verein zu gehen und Rennrad zu fahren“, erklärt Anna van der Breggen den Erfolg am Telefon auf dem Weg zur Spanienrundfahrt.
    Die Niederländerin ist Olympiasiegerin und mehrmalige Weltmeisterin. Seit ihrem Karriereende im Winter ist sie sportliche Leiterin des niederländischen Teams sdWorx, einem der besten der Welt: „Als ich jung war, gab es in den Vereinen mehr Mädchen als Jungen. Wenn ich mit Fahrerinnen aus anderen Ländern darüber gesprochen habe, meinten die nur: ‚Bei uns gab es gar nichts.‘“
    Und so werden eben mehr Talente entdeckt, die später Rennen gewinnen. Ein Argument, dem Vera Hohlfeld zustimmt: Das ist eine Rechenaufgabe. Wenn ich 1000 Mädchen habe, dann kommen am Ende 10 dabei raus, die riesengroße Talente sind. Wenn ich hier in Deutschland nur 100 habe, oder 30, oder 20, dann kommt da im schlimmsten Fall nicht mal eine raus.“

    Frauenradsport in Deutschland „ganz weit abgehängt“

    Hohlfeld organisiert die Lotto Thüringen Ladys Tour, das einzige professionelle Frauenradrennen in Deutschland. Im internationalen Vergleich ist für sie der deutsche Frauenradsport ganz weit abgehängt. Da spreche ich einfach auch die Medien an, die Verbände, die Vereine, in ganz vielen Bereichen, dass die Frauen wirklich stiefmütterlich behandelt werden.“
    Die Sichtbarkeit des Frauenradsports: Auch für Roos Hoogeboom ein wichtiger Faktor für den Erfolg. Die Niederländerin engagiert sich bei „The Cyclists‘ Alliance“, einer Fahrerinnenorganisation, die sich für die Professionalisierung im Frauenradsport einsetzt: „In den vergangenen drei, vier Jahren ist die Aufmerksamkeit für Frauenradsport spürbar gestiegen, auch in den Niederlanden. Das kann man auf der Vereinsebene sehen, aber auch das Peleton in den unterklassigen Rennen wächst.“

    Stärke als Luxusproblem

    Unter anderem auch wegen Stars aus ihrem Heimatland. Denn Vorbilder seien wichtig: Stars wie Marianne Voss sind sehr wichtig für unseren Sport, da sie sehr sichtbar für Kinder und Jugendliche sind. Wenn dann die nötige Infrastruktur und ein Radsportverein vor Ort existieren, sind die Hürden in den Sport sehr niedrig.“ Hinzu kommen gute Mitteklasseteams, die den Weg zu den Profis ebnen.
    Doch ihre Stärke stellt die Niederländerinnen auch vor Luxusprobleme. So war für Lorena Wiebes, immerhin die weltbeste Sprinterin und Europameisterin, kein Platz im WM-Team: „Das ist das Problem, eine Niederländerin zu sein. Wir haben so viele starke Fahrerinnen, die ein Rennen gewinnen können. Und man kann nicht mit drei Kapitäninnen zur WM fahren.“
    Davon kann man in Deutschland nur träumen. In den kommenden Jahren wird sich an diesen Kräfteverhältnissen auch nichts ändern, glaubt Vera Hohlfeld. Dennoch ist sie verhalten optimistisch: „Vielleicht ist das jetzt eine Chance, ich merke ja, dass das Interesse wächst, gerade auch am Frauenradsport. Die Chance ist jetzt so groß, wie noch nie, dass es weitergeht. Das merken wir auch mit unserer Lotto Thüringen Ladys Tour, in den nächsten zwei Jahren wollen wir angreifen und wollen wachsen. Die Chancen sind da, deswegen bin ich guter Dinge!“

    Andere Länder holen auf

    Die Zukunft der Thüringenrundfahrt war lange offengeblieben. Die nächsten zwei, drei Jahre werden jetzt zeigen, ob der Frauenradsport in Deutschland aufholen kann, sagt Hohlfeld.
    Andere Länder sind da schon weiter: Zum Beispiel Italien oder England holen auf. Dort gibt es ebenfalls gute Strukturen und gute Vorbilder“, sagt Roos Hoogeboom. Und auch Anna van der Breggen glaubt, dass andere Länder aufholen. Es bleibt nur die Frage, wann der Vorsprung der Niederländerinnen aufgebraucht ist: „Frauenradsport wird in immer mehr Ländern immer beliebter und immer professioneller. Aber wir haben in den Niederlanden bereits die Infrastruktur und gute, junge Talente. Wir werden also auch in Zukunft jedes Jahr gute Fahrerinnen haben.“
    In den kommenden Jahren kann es also durchaus noch das ein oder andere niederländische Radsport-Festival geben.