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Radsport unter Corona-Bedingungen
Ein brüchiges Konstrukt

Noch vor wenigen Wochen galten Radsportrennen mit Zuschauern für undenkbar. Jetzt aber ist mit dem Schotterstraßenrennen Strade Bianche in der Toskana die World Tour der Männer und Frauen gestartet. Dabei wurden aber auch die Grenzen des Fahrens unter Corona-Bedingungen sichtbar.

Von Tom Mustroph | 02.08.2020
Bei einem Radsport-Straßenrennen stehen mehrere Fahrer mit ihren Rädern nebeneinander.
Bora-Teamchef Ralph Denk fürchtet, dass große Stars wegen falsch positiver Tests aus Rennen genommen werden könnten. (imago)
Die Räder rollen wieder. Aus der Fortezza Medicea in Siena machten sich am Samstag sowohl ein Profipeloton der Radsportfrauen als auch eines der Männer auf den Weg. Die Strade Bianche stellten den Auftakt der jeweiligen World Tour da. "Es war schön, wieder Rennen zu fahren. Es hat wirklich Spaß gemacht. Aber es war natürlich auch extrem hart, gerade auf den letzten 40 km", bilanzierte Maximilian Schachmann. Der Berliner wurde exzellenter Dritter in einer Staub- und Hitzeschlacht.
Es gewann der Belgier Wout van Aert, der Italiener Davide Formolo wurde Dritter. Alle drei Fahrer können auch bei Rundfahrten vorn dabei sein, Formolo ist sogar ein ausgesprochener Bergfloh. Dass sie die reinen Klassikerspezialisten düpierten, ist ein Hinweis auf die Härte des Rennens. Anders als im Frühjahr üblich, waren es jetzt über 40 Grad Celsius. Und der aufgewirbelte Staub machte in der Hitze das Atmen ebenfalls nicht einfacher. "Es sind andere Herausforderungen, mit denen man umgehen muss. Mir hat beides Spaß gemacht. Aber ich muss ehrlich sagen, im Frühjahr ist es angenehmer, wenn man wenigstens vor sich noch den Boden sieht."
"Man konnte gar nichts sehen"
Annemiek van Vleuten, Siegerin des Frauenrennens, beschrieb die Situation so: "Es war heute wirklich schwer auf den Kiesabschnitten. Man konnte gar nichts sehen. Wenn man nicht untern den besten 5 war, war man ständig im Staub. Es war auch technisch schwer und ganz anders im Vergleich zum März."
Das ursprünglich für den März geplante Rennen war das Erste, das dem Lockdown zum Opfer fiel. Und es war auch das Rennen, das die WorldTour wieder einleitete.
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Froh, dass es endlich losging, war auch ein Newcomer im Frauenradsport. Rolf Aldag war einst Helfer von Jan Ullrich, dann viele Jahre Manager in Rennställen bei den männlichen Profis. Seit dieser Saison ist er im deutschen Canyon SRAM-Rennstall bei den Frauen unterwegs. Der neuen Aufgabe kann er viel Gutes abgewinnen: "Erstmal gibt es viel weniger Meckerei, dann ist es taktisch anspruchsvoller. Es sind kleinere Mannschaften und das Niveau ist nicht gleich, wie bei den Männern, so dass man wie bei den Männern sagen kann: Oh, da ist eine Gruppe 5 Minuten weg, unsere Helfer sind so stark, die holen die sowieso wieder. Hier kann man das Rennen schon nach 15 Minuten verloren haben."
Gegen Superstar Annemiek van Vleuten hatte aber auch Taktikfuchs Aldag nicht das passende Konzept. Die Niederländerin gewann das fünfte Rennen hintereinander - und gilt deshalb schon als der weibliche Eddy Merckx.
Neben dem rein Sportlichen sorgte auch Corona für Aufsehen im Rennen. Der Schweizer Radprofi Silva Dillier wurde wegen eines positiven Testergebnisses gar nicht zum Start zugelassen. "Aber sein Test danach war negativ, der Zweite. Es kann auch zu Fehlern kommen. Das muss man jetzt wahrscheinlich in Kauf nehmen. Und immer damit rechnen. Aber das ist ja nichts, was in unserer Macht liegt", meinte Schachmann noch vergleichsweise gelassen.
Denk befürchtet falsch positive Tests
Weniger gelassen sah es dessen Teamchef Ralph Denk. Der befürchtet, dass auch große Stars wegen falsch positiver Tests aus Rennen genommen werden könnten und damit Siegchancen dahin sind und vor allem die Werbereichweite reduziert ist. "Man muss sicherlich die Balance schaffen, einerseits Sicherheit zu geben, vor allen den Gesundheitsbehörden, die die Hoheit über die Veranstaltung haben. Auf der anderen Seite müssen wir schon an unsere Reichweite denken. Und für unsere Reichweite sind schon die Medien verantwortlich, zum großen Teil jedenfalls", sagte Denk.
Er sieht vor allem die strikten Regelungen von Tour de France-Organisator ASO kritisch. Geht es danach, haben Journalisten gar keine Möglichkeiten mehr, Gespräche mit Fahrern und sportlichen Leitern zu führen und sind komplett auf die Content-Produktion des Veranstalters angewiesen. Denk fordert: "Man darf sich nicht in seiner Bubble verstecken und nur noch zum Rennenfahren rauskommen. Weil, dann wird das ganze System nur kurzfristig funktionieren."
Die Kritik ist nötig. Andererseits weiß auch Denk, auf welch dünnem Eis sich der Radsport derzeit bewegt. Vor wenigen Wochen schien es noch regelrecht undenkbar, dass Rennen stattfinden, und sogar welche mit Zuschauern. Jetzt ist die Saison in vollem Lauf. Und das Bewusstsein für die Brüchigkeit des Konstrukts ist ebenfalls vorhanden. Siegerin Annemiek van Vleuten: "Mir ist klar, jedes Rennen kann das letzte sein. Es gibt einen Spruch bei uns in den Niederlanden: Nimm, was du kriegst. Denn man weiß in diesen Zeiten ja nicht, was nächste Woche sein wird."
Auf dem Papier zumindest sind nächste Rennen geplant. Die Polenrundfahrt unter anderem für Schachmann. Annemiek van Vleuten hingegen muss bis Ende August warten, auf la Course, das Frauenrennen der Tour de France.