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Raphael Glucksmann: "Die Politik sind wir"
Manifest für die Gegenwart

Bürger sein, heißt Opfer bringen. Zu diesem Fazit kommt der französische Autor und Politiker Raphael Glucksmann in seinem Essay "Die Politik sind wir". Doch von dieser Einsicht seien wir heute weit entfernt. Glucksmann fordert eine Rückbesinnung auf das Gemeinwohl - und mehr Distanz zu sich selbst.

Von Thomas Palzer | 07.06.2019
Zu sehen ist der Autor Raphael Glucksmann und das Cover seines Buches "Die Politik sind wir! Gegen den Egoismus, für einen neuen Gesellschaftsvertrag".
Glucksmann beklagt in seinem Buch die Vorherrschaft der Ökonomie - und fordert jeden Bürger auf, sich stärker zu engagieren (Autorenfoto: Olivier Marty, Allary Editions/ Cover: Hanser Verlag)
Für Raphael Glucksmann, Essayist, Regisseur und Sohn des 2015 verstorbenen Neuen Philosophen André Glucksmann, sind wir alle Kinder der Leere. Wir leben in einem postideologischen Zeitalter, in dem jeder für sein Glück und sein Unglück angeblich selbst verantwortlich ist. Die Gesellschaften um uns herum sind radikal entsolidarisiert, womit ein Verlust an Verantwortungsgefühl und Orientierung am Gemeinwohl einhergeht. Und nun schwappt auch noch eine Welle des Autoritarismus und Nationalismus über Europa, der die fortschrittlichen Intellektuelle, zu denen sich auch Glücksmann selbst rechnet, nichts entgegenzusetzen haben.
"Wie alte Pfarrer, denen die Abkehr der Gläubigen erst recht als Bestätigung ihrer kritischen Weltsicht erscheint, predigen wir weiterhin vom Irrweg der Massen, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, wir selbst könnten an einem bestimmten Punkt in die Irre gegangen sein."
Widerspruch zwischen Demokratie und Liberalismus
Glucksmann macht das in seinem neuen Buch an der Krise des Staates fest, die vom Widerspruch zwischen Demokratie und Liberalismus ausgelöst worden ist – vom Widerspruch zwischen der Herrschaft des Kollektivs einerseits und dem Primat der Individuums gegenüber eben diesem Kollektiv andererseits. Der Ursprung dieses nagenden Widerspruchs ist seiner Meinung nach in den 1980er-Jahren zu suchen, wo ein Kontrapunkt zur kollektivistischen Schreckensherrschaft der Nazis und Kommunisten gesetzt und ein freies Individuum geschaffen werden sollte. Sein Name: homo oeconomicus.
Dieser, so seine beiden Theoretiker Milton Friedman und Friedrich August von Hayek – zwei Wirtschaftswissenschaftler - erfordere eine Gesellschaft, die der egoistischen Natur des Menschen entspräche. So brachte der Neoliberalismus den homo oeconomicus hervor, der in der Gegenwart zum Menschen schlechthin geworden scheint. Und mit ihm ist die Wirtschaft an die Stelle der Politik getreten.
"1978 verdienten die CEOs der großen amerikanischen Firmen im Mittel das Dreißigfache des mittleren Einkommens in ihren Unternehmen. Heute verdienen sie dreihundertmal so viel wie ihre Angestellten."
Wirtschaft ist an die Stelle der Politik getreten
Immer seltener wohnen Reiche und Arme im selben Viertel, wo man am liebsten unter sich bleibt. Räumliche Verkapselung treibt Selbsthomogenisierung aus sich hervor. Dazu addiert sich, dass steigende Immobilienpreise und die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft in eine umfassende Gentrifizierung der Städte gemündet sind. Gleichzeitig haben Korruption und Vereinsamung zugenommen.
Der Zerfall der Gesellschaft in eine atomisierte Selbstbehauptung ihrer Mitglieder ist vom Neoliberalismus extrem verstärkt worden, was mithin eine Schwächung des Staates bedeutet hat. Online zwar gut vernetzt, sind wir zu Gefangenen unserer Privatsphäre geworden. Besonders deutlich wurde die während der Regierungsbildung in Italien 2018, als deutsche und französische Journalisten Ratingagenturen dazu aufforderten, die Führung des Landes zu übernehmen und zu regieren. Damit war der Übergang vom Regieren zur gouvernance, zur Amtsführung und Herrschaft der Experten, wie sie Europa während der Euro-Schuldenkrise erlebt hat, eingeleitet – und nach Meinung Glucksmanns die tiefe Krise des Staates offenkundig geworden.
Gouvernance zeichnet sich durch die Trennung von Wort und Tat aus, von Politik und Expertentum. Die Chefs der Zentralbank und die Richter des EUGH äußern sich öffentlich selten – und bestätigen damit die Trennung von Politik und Macht. Würde ein Zentralbanker etwas laut sagen, hätte das nicht unerhebliche Folgen für den Markt – was dagegen die Politik sagt, spielt kaum eine Rolle. So hat sich am Ende ein Raum der Rechte ohne politische Leitung gebildet, wofür Brüssel zu sagen wir längst gewohnt sind. Nicht gewählte Instanzen formen unser Leben – und dagegen bildet sich mehr und mehr Widerstand. Und mit diesem Widerstand gegen die Eliten hat sich die Ära des Populismus herausgebildet.
Das Erbe der Popkultur
Schuld an dem ganzen Dilemma tragen nach Glucksmann auch die Kinder von 68, zu denen sich der Philosoph selbst zählt – und zu denen auch der französische Präsident Emmanuel Macron gerechnet werden darf.
"Wir alle sind Töchter und Söhne des Mail 1968. Wir sind geboren nach dem Sieg des Individuums über alles, was es am Denken, Leben und Vögeln hinderte. Und am Konsumieren."
Die Vorherrschaft der Wirtschaft gegenüber der Politik zeigte sich zunächst an einem bestimmten Phänomen des Pop – am Ausmaß der Schallplattensammlung als Entgrenzung der Kaufhistorie. Der Konsum selbst wurde im Pop kulturalisiert - und die Welt der Rationalität wiederverzaubert. Schon Carl Schmitt hatte gesehen, dass die Wirtschaft enorme ratio aufwendet, um irrationale Wünsche zu befriedigen.
Im weiteren Sinn aus der Popkultur geboren ist auch die Identitätspolitik, die das Gemeinwohl aus dem Sinn verloren hat. Denn als Bürger und Republikaner im empathischen Sinn äußert man sich nicht als Frau, Jude, Muslim, schwul oder Ehemann.
"Heute neigen wir zu sehr dazu, Mann sein zu wollen, und nichts als Mann. Oder Frau und nichts als Frau. Ohne unsere Persönlichkeit verdoppeln zu müssen. Natürlich würden wir unter keinen Umständen auf unser Wahlrecht verzichten, aber der Staatsbürger ist nicht nur Wähler und die Republik nicht nur das Ergebnis von Wahlen. Sie ist auch eine Form der Askese."
Distanz zu sich selbst zu gewinnen
Bürger zu sein, das heißt: Opfer zu bringen. Das Opfer, als Bürger auf das zu verzichten, was wir, jeder für sich genommen, als Menschen sind. Eine Republik kann demnach nicht das Credo der Menschen als Menschen sein, wohl aber das der Bürger. Diese noble Haltung müssen wir zurückgewinnen.
Raphaël Glucksmann ist mit seinem Essay, der im Original den Titel "Die Kinder der Leere" trägt, eine zwar grundsätzlich bekannte, aber besonders luzide Diagnose der Gegenwart und ihrer Krisen gelungen. Die Lösung der Probleme von heute, so der Autor, liegt darin, zu sich selbst und seiner persönlichen Situation Distanz zu gewinnen. Dann erst haben wir die Chance, uns darüber bewusst zu werden, dass Politik nicht in der Nachahmung der Praktiken von Google oder Uber besteht, sondern in der Einsicht, dass ein Staat kein Unternehmen ist.
Raphael Glucksmann: "Die Politik sind wir. Gegen den Egoismus, für einen neuen Gesellschaftsvertrag"
Aus dem Französischen von Stephanie Singh.
Hanser Verlag, München 2019.
192 Seiten, 18.- Euro