Montag, 29. April 2024

Kritik am ÖRR
Ein „Manifest“ und die Reaktionen darauf

Mit einem „Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ fordern etwa 130 Unterzeichner mehr Meinungsvielfalt von ARD, ZDF und Deutschlandradio. Ihre Kritik und wie sie kommentiert und eingeordnet wird – eine Übersicht.

Stefan Brandenburg im Gespräch mit Martin Krebbers | Text: Michael Borgers | 08.04.2024
Eine Handy hält ein Smartphone, auf dem die Seite "meinungsvielfalt.jetzt" gezeigt wird
Unter der Internet-Adresse "meinungsvielfalt.jetzt" ist das "Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland" veröffentlicht worden (Deutschlandfunk)
"Wir, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ARD, ZDF und Deutschlandradio, sowie alle weiteren Unterzeichnenden, schätzen einen starken unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland als wesentliche Säule unserer Demokratie, der gesellschaftlichen Kommunikation und Kultur." So beginnt das unter der Webseite meinungsvielfalt.jetzt veröffentlichte, selbsternannte "Manifest", das seit vergangener Woche in Deutschland für eine Debatte sorgt. "Wir sind von seinen im Medienstaatsvertrag festgelegten Grundsätzen und dem Programmauftrag überzeugt", heißt es dort weiter. Doch beides sehe man in Gefahr.
In der Berichterstattung ist seitdem häufig von einem Papier von Mitarbeitenden des ÖRR die Rede. Tatsächlich sind aber nur die wenigsten aktuell als Journalisten aktiv für die Sender. Offiziell mit ihrem Namen unterschrieben haben gut einhundert Personen, darunter Wissenschaftler, Schauspielerinnen, Musiker und ehemalige Journalisten. Außerdem gebe es 33 Unterzeichner, die anonym bleiben wollten, heißt es auf der Seite.
Ein Mitinitiator ist Ole Skambraks, der auch im Impressum der Seite steht. Skambraks war mal freier Mitarbeiter und Redakteur u.a. beim SWR. Der Sender hatte ihn nach einem Konflikt über Äußerungen zur Corona-Berichterstattung im vergangenen Herbst gekündigt. Er und die anderen kritisieren, "relevante inhaltliche Auseinandersetzungen mit konträren Meinungen" fänden nur sehr selten statt, Menschen mit abweichenden Meinungen würden diffamiert und mundtot gemacht.

Redakteursausschüsse weisen Kritik zurück

Dieser Kritik widersprachen schon früh die Redakteursausschüsse der öffentlich-rechtlichen Sender, also die in den jeweiligen Sendern gewählten Vertreter der redaktionell Beschäftigten. Es stimme nicht, dass in den Sendern nur vorgegebene Meinungen und „Mainstream“-Berichterstattung verbreitet würden, vielmehr gebe es überall eine lebhafte Streitkultur und Berichterstattung nach journalistischen Prinzipien.
„Ross und Reiter nennen“, kommentierte der Deutsche Journalisten-Verband und kritisierte damit vor allem, dass ein Teil der Unterzeichner des offenen Briefs anonym bleiben wollte. 

"Manifest"-Unterzeichnerin: Entwicklung über Dekaden

Die früher Chefredakteurin des Hessischen Rundfunks und spätere Bundestagsabgeordnete der Partei die Linke Luc Jochimsen gehört zu denjenigen, die den Text mit Namen unterzeichnet haben. Im Deutschlandfunk-Streitgespräch spricht die 88-Jährige von einer „Entwicklung über Dekaden“, die „nicht an einzelnen Ereignissen wie Corona festzumachen“ sei.
Seit Jahren schon nehme die Meinungsvielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ab, findet Luc Jochimsen. Der Text des „Manifests“ entspreche da genau ihrer persönlichen Beobachtung. Für die frühere Journalistin handele es sich um kein aktuelles Phänomen, sondern eines mit „unterschiedlichen Hintergründen“.
Zum einen sei da eine zu „kommerzielle Ausrichtung“. Zu viele Krimis und zu viel Sport gegenüber zu wenig Kultur und Politik, so Jochimsen. Wenn inhaltlich diskutiert werde in Talkshows, komme selbst ein „gestandener Journalist“ wie „Welt“-Herausgeber Stefan Aust nicht mehr zu Wort, wenn sich dieser für Verhandlungen im Krieg gegen die Ukraine ausspreche.
Jochimsen fordert deshalb eine Debatte. „Nur, wenn diese Diskussion stattfindet, wird eine wirkliche Reform möglich sein.“

DJV-Vorsitzender: Kritisieren ohne Unterstellungen

„Ich habe manchmal das Gefühl, dass es denen, die das hier vortragen, eigentlich um was anderes geht“, erwidert Mika Beuster, Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV), in dem Streitgespräch. „Es geht ihnen darum, dass sie ihre Meinung ohne Widerspruch sagen können.“ Doch bei einem Meinungsaustausch gehöre es für Journalisten dazu, dann zu widersprechen, wenn falsche Fakten behauptet würden.
Auch in dem „Manifest“ gibt es Aussagen, die Beuster als „Unterstellungen“ zurückweist. Beispielsweise zeigten Umfragen, wie hoch das Vertrauen in den ÖRR noch immer sei. Gleichzeitig betont der DJV-Vorsitzende: „Wer sagt, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk perfekt sei in seiner jetzigen Form und es keinen Reformbedarf gebe, das wäre ja auch verhaltensoriginell. Jeder weiß, dass es Veränderungen bedarf.“

Deutschlandradio-Intendant: Verschiedene Perspektiven suchen

Doch wie genau könnten diese Veränderungen aussehen? Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue verweist auf die Frage nach der inhaltlichen „Vielfalt in strittigen Fragen“ im aktuellen Interview mit der „Berliner Zeitung“ auf das Bemühen um verschiedene Perspektiven. Man müsse „das, was in der kleinen Stadt passiert, auf dem Land, stärker in den Blick nehmen“. Wichtig seien außerdem Journalisten, die nicht nur akademisch, sondern auch anders, etwa handwerklich geprägt seien.
Zum Vorwurf der Zensur im aktuellen „Manifest“ sagt Raue: „Ich habe mir das Papier mehrfach durchgelesen, aber so richtig bin ich der Sache nicht auf die Spur gekommen.“ Er könne viele Sätze nachvollziehen. Mit der generellen Stoßrichtung, im Öffentlich-Rechtlichen würden Themen ausgeblendet oder nicht gehört oder gesendet, könne er aber nur wenig anfangen.
Endlich rege sich auch in den Anstalten Selbstkritik, kommentierte daraufhin die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ). Und die „Welt“ meint: „Dieses Manifest aus dem ÖRR macht Hoffnung“. Mehr und mehr Risse im „grünrotlackierten Heile-Welt-Konstrukt der Sender“ würden sichtbar.

WDR-Chefredakteur: Nüchtern auf das blicken, was schiefläuft

Den Vorwurf einer politischen Beeinflussung weist Stefan Brandenburg zurück. Der WDR-Chefredakteur kritisiert im Interview mit dem Deutschlandfunk den "Sound des Manifests", der eine solche Einflussnahme von Politik, Wirtschaft oder Lobbyisten nahelege. Es gebe aber "nicht jemanden von außen, der uns hindert", so Brandenburg. Allerdings sei man sich selbst zu schnell einig, indem man den Konsens und vielleicht an manchen Stellen nicht genug den Streit suche. "Wenn wir den Debattenraum eingrenzen, dann tun wir das selber".
In der Woche vor Veröffentlichung des offenen Briefs hatte Brandenburg bereits in einem Gastbeitrag für die "Zeit" gefordert, der öffentlich-rechtliche Rundfunk brauche mehr Meinungsvielfalt. Beispielsweise gebe es eine Hemmung, sich systematisch mit der Ausbreitung eines konservativen Islams auseinanderzusetzen. Doch man müsse "nüchtern auf das blicken, was schiefläuft", schreibt er in der Wochenzeitung.
"Erst das Benennen von Missständen legt denen das Handwerk, die von der Behauptung leben: Außer uns sagt es niemand", so Brandenburg. Es müsse darum gehen, "Lösungen auf Basis von unvorgeinnommener Analyse" zu zeigen. So brauche es etwa einen Klimajournalismus, "der nicht moralisiert, aber dennoch Verantwortung übernimmt".