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Rechtsberatung boomt
Vom Widerspruch bis zum Sozialgericht: Der Hürdenlauf zu den Sozialleistungen

Wenn Sozialbehörden, Krankenkassen oder Rentenversicherungen einen Antrag ablehnen, können Betroffene Widerspruch einlegen. Viele dieser Fälle landen vor den Sozialgerichten und gehen oft zugunsten der Kläger aus. Das wirft Fragen nach den vielen fehlerhaften Bescheiden auf.

Von Katrin Sanders | 11.06.2020
Aktenstapel im Sozialgericht
Jedes Jahr gibt es hunderttausende Sozialgerichtsverfahren in Deutschland (dpa / Stephanie Pilick)
Einen Mitgliederboom verzeichnet aktuell der Sozialverband VdK in Nordrhein-Westfalen. Täglich gibt es 70 Neuanmeldungen im Land. Der Bedarf an Beratung zum Sozialrecht ist anhaltend hoch und steigt von Jahr zu Jahr. Das bestätigt in der Geschäftsstelle in Rheinberg auch die Geschäftsführerin und Juristin Svenja Weuster.
"Mitgliederboom stimmt. Da sprechen die Zahlen für sich. Der Großteil der Mitglieder kommt natürlich wegen der Rechtsberatung dann auch direkt über die Sprechstunden. Die hauptsächlichen Anfragen, die kommen, die auch hier in der Telefonzentrale ankommen, sind Erwerbsminderungsrente und Schwerbehinderung. Das sind die ganz großen Themenkomplexe. Und dahinter jeweils zu einem Drittel Streitigkeiten mit der Berufsgenossenschaft. Sei es, dass es um einen Arbeitsunfall geht oder um eine Berufskrankheit, Pflege sehr viel, Krankengeld oder medizinische Reha-Maßnahmen."
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Bis zu 35 Ratsuchende nutzen die täglichen offenen Sprechstunden am Niederrhein oder lassen sich telefonisch beraten. Weil sie mit einem Bescheid des Rentenversicherers nicht zufrieden sind, weil ihre Krankenkasse ein Hilfsmittel nicht genehmigt, weil es mit dem Grad der Schwerbehinderung Probleme gibt oder der Antrag auf die Erwerbsminderung abgelehnt wurde. Svenja Weuster liest die Bescheide, ermutigt, wenn sich Widerspruch lohnt und vertritt die Mitglieder im dann folgenden Verfahren. Ohne juristische Rückendeckung sei das kaum zu schaffen, sagt sie mit Blick auf das besonders konfliktreiche Thema Erwerbsminderung.
"Ich mache das jetzt seit elf Jahren, die Rechtsberatung, und es ist immer schwerer geworden. Unabhängig davon, ob ich im Rentenrecht bin oder im Schwerbehindertenrecht. Ich bin kein Mediziner, aber ich behaupte doch schon, dass ich einschätzen kann, wenn jemand drei Herzinfarkte hatte oder auch einen Schlaganfall und noch halbseitig gelähmt ist, und dann kommt vielleicht auch noch eine Lungenerkrankung hinzu, dass man da genauer hingucken muss, ob er wirklich leistungsfähig ist für den allgemeinen Arbeitsmarkt oder nicht. Und da kann ich als VdK eigentlich nur sagen: Lassen Sie sich nicht entmutigen, kommen Sie zu uns. Wir führen das Widerspruchsverfahren für Sie durch, wir führen auch das Klageverfahren."
Beim Widerspruch ist Durchhaltevermögen gefragt
Mindestens eine Million Mal werden in Deutschland pro Jahr solche Verfahren angestrengt. Wenn das Jobcenter, die Krankenkasse oder die Rentenversicherung den Antrag auf Leistung ablehnt, kann man Widerspruch einlegen. Schon das führt in jedem dritten Fall zum Erfolg, und der zuvor abgelehnte Antrag wird doch noch genehmigt. Genügt der einfache Widerspruch nicht, kann man weiter bis vor das Sozialgericht ziehen. Fast 400.000 Antragsteller tun das jährlich – und sie bekommen sehr oft Recht. 35 bis 40 Prozent der Fälle gehen zugunsten der Antragsteller aus. Der Bescheid muss dann korrigiert werden.
"Allerdings, man muss es wirklich durchhalten können. Und auch ein klares Ziel vor Augen haben", sagt eine junge Frau, nicht mal 40 Jahre alt und beruflich voller Pläne. Erwerbsgemindert zu sein, war nicht ihr Ziel, sondern ganz das Gegenteil: Sie wollte zurück in ihren Beruf nach langer Krankheit. Doch ihren Antrag auf berufliche Rehabilitation als Brücke zurück in die Arbeitswelt, lehnte das Jobcenter kategorisch ab. Es folgte damit der Ansicht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, der Gutachten im Auftrag der Behörde anfertigt.
"Man bekommt eine Vorladung zur Untersuchung beim Medizinischen Dienst. Im besten Fall von einem Arzt, der auch aus dem Fachgebiet kommt, wo die Erkrankung drin besteht, aber in den meisten Fällen ist es einfach irgendeiner aus diesem Ärztepool. Wenn ein Urologe eine psychische Erkrankung untersuchen muss, kann man sich vorstellen, dass das Verständnis auch einfach nicht dafür da ist. Das habe ich abgelehnt, habe jemand aus dem Fachbereich bekommen, in dem auch meine Erkrankung liegt. Ich war auch mit meiner behandelnden Ärztin dort und dennoch hat die Verständigung nicht funktioniert, das heißt sowohl berufliche als auch medizinische Reha wurden nicht angekreuzt."
Einmal als "nicht-reha" und "nicht-berufsfähig" eingestuft, brauchte es Energie und Mut gegen die wiederholte Aufforderung anzugehen, sie solle doch die Erwerbsminderung beantragen. Der aktuelle Patientenmonitor der Unabhängigen Patientenberatung zeigt, dass dies oft das Drehbuch bei Antragsablehnung ist: Fragwürdiges Zurückweisen von Anträgen oder Nicht-Reagieren auf Eingaben der Antragsteller gehören zum Repertoire der Krankenkassen. Und auch in diesem Fall ließ das Jobcenter vom einmal eingeschlagenen Kurs nicht ab.
"Und ich hatte keine Chance, das neu beurteilen zu lassen, zu widerlegen oder sonst was zu ändern. Aber ich hatte nie Zweifel daran, dass ich arbeiten kann."
Vom zuständigen Sozialgericht wurde sie jetzt, ganze fünf Jahre später, in dieser Ansicht bestätigt. Eine Erwerbsunfähigkeit sei nicht zu erkennen, befand der Richter, und entschied, dass das Jobcenter leisten muss.
"Ja, ich habe nach der Reha, die ich letztendlich bewilligt bekommen habe, Stellen gesucht, mich vorgestellt. Und anderthalb Wochen später hat man mich angerufen, ob die Stelle für mich interessant wäre. Und jetzt bin ich seit Anfang März dabei und auch sehr glücklich in meinem Beruf, auch mit Homeoffice, das funktioniert auch im Unternehmen sehr gut."
Kein Fall gleicht dem anderen
"Wir bemerken, dass man sich in einer großen Institution wie Rentenversicherung, wie Krankenkassen, Unfallkassen, auf das formale Recht zurückzieht und sagt 'Das ist unser Bescheid und denn: Klagt mal eben!'."
Das kritisiert Horst Vöge. Er ist stellvertretender Bundesvorsitzender des Sozialverbandes VdK. Das Sozialrecht, um das es bei Klagen um soziale Leistungen geht, umfasst 3.000 Paragrafen, "die zum Teil jeweils so lang sind wie eine Kurzgeschichte", schreibt der Bremer Sozialrichter Jörg Schnitzler in einem Artikel. Dazu kommen europäisches Recht und Besonderheiten des Asylrechts. Kein Fall gleicht dem anderen. Das hält Vöge den Entscheidern in den Behörden und Institutionen zugute. Fehler seien unvermeidlich. Doch die hohe Zahl der Korrekturen, die im Widerspruch oder vor Sozialgerichten erstritten werden, zeichnet für ihn ein zwiespältiges Bild.
"Es hat sich aus meiner Sicht ein Gemeinschaftsgefühl fast in solchen Organisationen – oder ein Firmengefühl – eingeschlichen, bestimmte Dinge auf den langen bürokratischen Weg zu schieben, in der Hoffnung, dass die einzelne Person ermüdet in diesem Weg. Ich finde das grausam. Insbesondere im Wissen, dass wir hier eine Variationsmöglichkeit, eine Interpretationsmöglichkeit haben. Das sind unnötige Verzögerungszeiten und zusätzlich belastet das das demokratische Gefühl. Wenn ich wegen fünf Euro, zehn Euro, 15 Euro im Monat klagen muss, dann frage ich mich, wie ist denn eigentlich unser demokratischer Sozialstaat ausgerichtet?"
Verhandlungstermin beim Sozialgericht in Duisburg. Vor dem Sitzungssaal wartet neben dem Dolmetscher ein älteres Ehepaar. Die beiden gehören einer Minderheit von türkischsprechenden Bulgaren an. Ihre Anwältin, Jördis Kosin, erläutert den Fall.
"Es geht um existenzsichernde Leistungen, weil die aus ihrer Erwerbstätigkeit den Lebensunterhalt nicht selbst sicherstellen können. Also die Mandantin arbeitet, aber das reicht nicht, um den Lebensunterhalt und die Miete zu zahlen. Und wir streiten jetzt hier schon seit zwei Jahren."
Der Streit um die aufstockende Sozialhilfe ist einfach und kompliziert zugleich. Denn die Klägerin ist kurz vor dem Rentenalter. Sie legt dem Gericht Belege vor, dass sie Arbeit hat. Nur ein paar Jahre fehlen noch, bis sich daraus ein eigener Rentenanspruch ergibt. Den Anwalt der Stadt überzeugt das nicht.
"Nein, man muss prinzipiell immer hinterfragen, ob das auch ein wirkliches Arbeitsverhältnis ist", oder vielleicht eine Scheintätigkeit? Wenn das Gericht den Techerowas Recht gibt, hätten sie in der Folge einen Anspruch auf Grundsicherung im Alter. Anwalt Krokowski sieht da ein größeres Problem für die Stadt Duisburg.
"Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass viele Leute davon betroffen sind, weil wir eine vermehrte Zuwanderung aus Südosteuropa feststellen und die wird natürlich über kurz oder lang immer dazu führen, dass auch Menschen die Altersgrenze in Richtung Rentenalter erreichen und dementsprechend da größere Probleme auf die Stadt zukommen können."
Doch grundsätzliche Erwägungen zählen für den Richter nicht. Es geht beim Sozialgericht um das Recht des Einzelnen. Fiskalische Überlegungen bei der Entscheidung lässt Dirk Zitzen nicht zu und entscheidet am Ende nach geltendem Recht: dem Paar steht die Sozialhilfe zu. Der Anwalt der Stadt kündigt Revision an.
Klage erheben geht auch ohne Rechtsanwalt, nur wenige tun das
Die beiden alten Leute winken beim Rausgehen. Von dem Hin und Her zwischen den Juristen dürften sie nicht allzu viel verstanden haben. Nur elf Prozent der Kläger vertritt sich vor dem Sozialgericht selbst. Alle anderen holen sich Rückendeckung durch Anwälte, Sozialverbände, Gewerkschaften oder Patientenorganisationen, wenn sie um soziale Leistungen streiten müssen. Ganz gleichauf sind sie nicht, die Bürger, die gegen den Staat klagen, bestätigt denn auch Richter Dirk Zitzen.
"Man hat da ein Kompetenzgefälle. Die sachkundige Behörde und der Bürger, der mit dem Leistungsrecht jetzt nicht so vertraut ist. Da muss natürlich Waffengleichheit hergestellt werden zwischen den Beteiligten. Und da spielt natürlich die anwaltliche Vertretung eine Rolle, um dieses Kompetenzgefälle sozusagen auszugleichen. Aber das soll keinen abschrecken, man kann hier Klage erheben auch ohne Rechtsanwalt. Also das Sozialrecht hat niedrigschwelligen Zugang. Wir haben den Untersuchungsgrundsatz, das heißt der Sachverhalt ist von Amts wegen aufzuklären, verbunden mit der richterlichen Hinweispflicht, das heißt, dass das Gericht die Beteiligten auf sachdienliche Anträge zum Beispiel hinweisen muss."
Globuli, homöopathische Kügelchen auf einem Tisch, dahinter eine Fläschchen und Kräuterblätter.
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Das erklärt, warum es vor Sozialgerichten keine schnellen Prozesse gibt. Gut 13 Monate arbeitet das Duisburger Gericht an jedem der rund 13.000 Verfahren, die jährlich erledigt werden.* Jedes dritte Verfahren endet auch hier mit einem Erfolg oder Teilerfolg für den Kläger. Oder anders ausgedrückt: mit einer Niederlage für die Krankenkasse oder das Jobcenter, das zuvor den Leistungsantrag abgelehnt hatte. Für Zitzen ist die Bilanz ein Beleg dafür, dass die Sozialgerichte ihrer Aufgabe "Kontrolleure des Sozialstaates" zu sein, gerecht werden: "Klar, wir kontrollieren letztlich Einzelfallentscheidungen. Wir kontrollieren staatliches Handeln, in der Regel Verwaltungsakte auf ihre Rechtsmäßigkeit."
Doch wenn 40 Prozent der Verwaltungsakte im Widerspruchsverfahren oder bei den Sozialgerichten kassiert werden, ist das kaum zufriedenstellend. Die Erfolgsquote der Kläger offenbart eine erhebliche Fehlerquote bei den Entscheidungen, die von manchen Institutionen offenbar in Kauf genommen wird. Immer wieder wird deshalb Methode beim Ablehnen von Anträgen vermutet, nach dem Muster: Erstmal ablehnen, dann mal abwarten, ob dagegen geklagt wird. Richter Zitzen sieht das nicht so.
"Also im Bereich der Sozialhilfe und bei den Asylbewerberleistungen kann ich nicht bestätigen, dass da jetzt regelmäßige Ablehnungen bei bestimmten Sachverhalten erfolgen, sondern da ist es schon so, dass die Behörden den Einzelfall prüfen und Entscheidungen im konkreten Einzelfall machen. Dass da jetzt von vorneherein eine Behörde sagt, wir blockieren die Leistung bei bestimmten Konstellationen, das ist jedenfalls bei den Fällen, die mir vorliegen, nicht der Fall. Da kann ich jetzt kein Muster erkennen, dass eine Behörde von vorneherein sagt, wir lehnen erstmal alles ab und gucken dann, was passiert. Das kann ich auf keinen Fall bestätigen."
"Mein Verstand weigert sich zu denken, es gibt Muster in diesem Verhalten", sagt Dr. Sabine Schipper. Sie ist Geschäftsführerin des Landesverbandes der Multiple Sklerose-Gesellschaft NRW.
"Aber leider Gottes könnte man ab und zu den Eindruck gewinnen, dass die Ablehnung ein Weg ist, der bedeutet, dass viele Leute dann wirklich das nicht nachverfolgen, dass dann kein Widerspruch eingelegt wird, geschweige denn die Menschen dann noch vors Sozialgericht ziehen."
In manchen Bescheiden fehlt der Klage-Hinweis
Der Multiple Sklerose-Landesverband berät Mitglieder zu ihren Rechten, wenn Anträge abgelehnt wurden. Das ist auch deshalb nötig, weil in manchen Bescheiden der vorgeschriebene Hinweis fehlt, wie man Widerspruch einlegen oder klagen kann. Schon dass dürfte viele abhalten, den Rechtsweg zu beschreiten. Dabei geht es oft nicht einmal um komplexe Ausnahmetherapien, um die gestritten werden muss, sondern um Heil- und Hilfsmittel für den Alltag, zum Beispiel um Windelhöschen.
"Ich habe im Moment tatsächlich einen aktuellen Fall, wo erstmal die Frage gestellt wurde, ob eine bestimmte Inkontinenzversorgung, so ein Windelhöschen für einen Betroffenen überhaupt erforderlich ist. Weil er auch einen Katheter hat und sich das der Kasse nicht erschlossen hat. Es gibt aber zusätzlich zu der Harnproblematik eine Stuhlinkontinenz. Und das ist dann drei Mal in den Kreis gegangen, es hat dann sogar einen Besuch des Medizinischen Dienstes gegeben, der auch bekundet hat, dass genau dieser Mensch diese besondere Versorgung braucht. Und die ist bis heute nicht gegenfinanziert, weil es nur bestimmte Beträge gibt, die die Kasse an die Sanitätshäuser zahlt. Und das beschäftigt uns jetzt seit Monaten."
Das Gleiche betrifft die Frage, wie viele Katheter genehmigt werden und welche am besten wären. Viele Kassen haben Rabattverträge mit den Heilmittelerbringern, was dazu führt, dass nur bestimmte Produkte genutzt werden dürfen. Motto: Für bessere reicht das Geld nicht. Bis vor das Sozialgericht mussten MS-Kranke schon nachweisen, dass die vorgegebene Anzahl und Qualität der Katheter nicht genügt. Das zieht die Widerspruchsverfahren in die Länge und entmutigt. Viele berechtigte Ansprüche bleiben hier schon auf der Strecke. Sabine Schipper:
"Ja, ich muss tatsächlich sagen, für mich ist das wirklich oft so, wenn es dann soweit ist, also wenn dann das Mitglied dem Richter gegenübersitzt, dann bin ich immer schon ein Stückchen erleichtert. Weil da habe ich in wirklichen vielen Fällen sehr, sehr gute Erfahrungen gemacht."
Bislang galt für Standardfälle noch die sogenannte Genehmigungsfiktion. Sie besagt: Wer einen Antrag bei der Kasse stellt und binnen drei Wochen nichts Gegenteiliges hört, weiß, dass die Leistung genehmigt ist. Das sorgte für Klarheit und dafür, dass Sozialgerichte nicht mit Bagatellen belastet wurden.
Eine Frau schiebt eine ältere Frau in einem Rollstuhl über einen Gehweg
Direktversicherung im Alter - Rentner protestieren gegen doppelte Beiträge
Millionen Menschen mit betrieblicher Altersvorsorge stehen vor einem Problem: Direktversicherte sollen von ihrer Lebensversicherung Krankenkassenbeiträge abführen, obwohl sie während ihrer Berufsjahre schon für ihr volles Gehalt Sozialabgaben gezahlt haben.
Doch ein aktuelles Urteil des Bundessozialgerichts von Ende Mai stellt diese Sicherheit jetzt in Frage. Einer Krankenkasse, die einen Antrag erst nach fünf Monaten abgelehnt hatte, wurde darin Recht gegeben. Und der Kläger, der sich auf die Genehmigungsfiktion verlassen hatte, bleibt jetzt auf den Kosten der Behandlung sitzen. In Patientenorganisationen sorgt der wegweisende Richterspruch aus Kassel für erhebliche Unruhe. Die Multiple Sklerose-Gesellschaft spricht von einer völligen Katastrophe. Und Miriam Padberg, in der Gesundheitsselbsthilfe NRW aktiv, macht die neue Lage Bauchschmerzen.
"Diese Regelung, die hat schon dafür gesorgt, dass Anträge zumindest zügiger bearbeitet werden, nicht unbedingt besser, aber zügiger bearbeitet werden. Und das ist jetzt auch wieder ausgehebelt. Das heißt, wenn man irgendwo was Wichtiges braucht, ein wichtiges Hilfsmittel, dann kann man sich auf Wartezeiten einlassen und das ist auch so eine Sache, die mir einfach überhaupt nicht gefällt."
Miriam Padberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dortmund und im Alltag auf den Rollstuhl und beim Hören auf die Versorgung mit Cochlea-Implantaten angewiesen. Mit Widersprüchen und Sozialgerichten kennt sie sich mittlerweile so gut aus, dass sie ehrenamtlich andere berät. Erworben hat sie ihr Wissen zu den Sozialgesetzbüchern in vielen Widersprüchen sowie einem eigenen Musterprozess. Es ging dabei um das zweite Cochlea-Implantat.
"Die Klinik sagte, ja, das ist kein Problem, hatte mir den Antrag geschickt, den sollte ich halt bei der Krankenkasse einreichen und damit fing halt das Dilemma an. Die haben das abgelehnt mit der Begründung: Es reicht, wenn man mit einem Ohr hört."
Man muss gut vernetzt sein, bestens informiert und am besten nicht allein, um im Leistungsstreit bestehen zu können. Nur so gelang es der Klägerin und mit ihr einer Gruppe von Mitstreitern am Ende ihre Anträge durchzubringen.
"Wir waren tatsächlich, behaupte ich heute mal, genau die Front, die damals das durchgesetzt hat, dass das heute Regelversorgung ist, weil wir einfach geklagt haben. Ich muss sagen, wir haben uns untereinander unheimlich viel Zuspruch gegeben und wir haben unseren Kampfgeist gegenseitig geweckt. Heute kann ich nur sagen: ‚Gut, dass ich durchgehalten habe. Gut, dass ich das gemacht habe.‘ Aber es war zwischenzeitlich wirklich schwer."
Jährlich hunderttausende Sozialgerichtsverfahren
Dass es schwer ist, bestätigt einmal mehr der aktuelle Patientenmonitor der Unabhängigen Patientenberatung. Zum wiederholten Mal kritisiert der Bericht fragwürdige Praktiken von Krankenkassen im Umgang mit Anträgen und Widersprüchen. Bei der Ablehnung von Leistungen werde nicht wie vorgesehen über das Recht auf Widerspruch aufgeklärt; im laufenden Verfahren dann werde verunsichert, beispielsweise mit dem Hinweis, dass keine Aussicht auf Erfolg bestehe. Miriam Padberg hat das so erlebt:
"Dass die Krankenkasse behauptet hatte, mir stünde kein zweites CI zu, weil ich ja auf dem Ohr niemals ein Hörgerät getragen hätte, was Voraussetzung wäre. Und dann habe ich gesagt: 'Liebe Leute, guckt doch einfach mal in eure Akte. Ihr habt für mindestens drei Paar Hörgeräte den Kassenanteil gezahlt und jetzt behauptet ihr, ich hätte niemals eins auf dem Ohr getragen.' Das war auf einem Niveau teilweise, das kann ich heute nur noch als unheimlich beleidigend und frustrierend auffassen."
"Wo man einfach sagen muss: Ja, natürlich muss diese Gesellschaft gucken, wie können wir unser Gesundheitssystem finanzieren. Darüber müssen wir uns gar nicht unterhalten, da bin ich ja die allerletzte, die die Augen zumacht", schließt Sabine Schipper für die Multiple Sklerose-Gesellschaft NRW an.
"Aber ich finde einfach, wenn man sich diese Art der Produkte mal anguckt, dann ist völlig klar, dass das Menschen in Not sind, die das brauchen. Weil ich einfach besonders Infekt anfällig bin oder Katheter mit mehr Gleitmitteln dran brauche, und das finde ich dann tatsächlich befremdlich, dass für solche Produkte solche Auseinandersetzungen überhaupt notwendig sind."
Hunderttausende Sozialgerichtsverfahren jährlich bescheren den sozialberatenden Verbänden einen anhaltenden Mitgliederboom. Es geht um Leistungen, die in den Sozialgesetzbüchern festgeschrieben sind und um Menschen, die angewiesen sind auf Sozialhilfe, auf Rehabilitation oder darauf, dass Heil- und Hilfsmittel ohne Verzögerungstaktiken zur Verfügung stehen.
*Ursprünglich wurde an dieser Stelle ein juristisch nicht korrekter Begriff genannt. Dieser wurde durch die Redaktion korrigiert.