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Rechtspopulismus
Jüdische Gemeinde in Chemnitz sorgt sich

600 Juden leben heute wieder in Chemnitz, 1989 waren es nur zwölf. Doch die rechtspopulistischen Demonstrationen und die jüngsten Ereignisse haben die gerade erst wieder erstarkte Jüdische Gemeinde der Stadt aufgeschreckt. Einige ihrer Mitglieder sagen: Diese Tendenzen gibt es schon seit Jahren.

Von Sebastian Engelbrecht | 25.09.2018
    Zur Amtseinführung des neuen Rabbiners der jüdischen Gemeinde in Chemnitz versammelten sich Gemeindemitglieder und Gäste 2015 in der neuen Synagoge in Chemnitz
    Zur Amtseinführung des neuen Rabbiners der jüdischen Gemeinde in Chemnitz versammelten sich Gemeindemitglieder und Gäste 2015 in der neuen Synagoge in Chemnitz (picture alliance/ dpa/ Hendrik Schmidt)
    Die Reise mit der "Mitteldeutschen Regiobahn" von Leipzig nach Chemnitz scheint in die Vergangenheit zu führen, in Waggons aus den Zeiten der Deutschen Reichsbahn.
    "Eigentlich eine friedliche Stadt"
    Dann aber, in Chemnitz, ist alles anders als früher. Junge Männer aus aller Welt ziehen durch die Straßen - Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Vietnamesen und Afrikaner. Es ist ein buntes Bild, eher bekannt aus Berlin oder Köln. Für die Chemnitzer immer noch ungewohnt.
    Renate Aris, Überlebende der Schoa, in ihrer Chemnitzer Wohnung
    Schon Anfang der 1990er Jahre fielen ihr die rechtsradikalen Hooligans des Chemnitzer FC auf: Renate Aris (Deutschlandradio / Sebastian Engelbrecht)
    Auch für Renate Aris, 83 Jahre alt. Sie lebt seit 1969 in Chemnitz, heute in einer kleinen Dachwohnung. Als zehnjähriges jüdisches Mädchen entging sie in einem Versteck in Dresden dem Transport ins KZ Theresienstadt. Die Demonstrationen von Neonazis und Anhängern der rechtspopulistischen Bürgerbewegung "Pro Chemnitz" kommentiert sie mit Abscheu, aber gefasst.
    "Ich muss sagen, in dieser Stadt - eigentlich ist es eine sehr friedliche Stadt. Und mich hat unwahrscheinlich schockiert, dass innerhalb von kürzester Zeit tausende Menschen, die in dieser Stadt eigentlich nichts zu suchen haben, hier in der Stadt erschienen und sich derartig benommen haben."
    "Die Anfänge sind schon vor Jahren da gewesen"
    Aber es sind nicht nur rechtsradikale Krawalltouristen, die in Chemnitz auf die Straße gehen. Schon Anfang der 1990er Jahre, erinnert sich Renate Aris, fielen ihr die rechtsradikalen Hooligans des Chemnitzer FC auf.
    "Ich hab früher immer gesagt, vor Jahren - es hat sich ja angezeigt, dass da etwas im Gange ist: 'Wer den Holocaust überlebt hat, überlebt auch das.' Aber das ziehe ich wohl zurück. Langsam bekommt man ein wenig Angst. Und ich sage: 'Wehret den Anfängen' ist nur noch eine Floskel. Die Anfänge sind schon vor Jahren da gewesen. Und das beängstigt mich."
    Renate Aris hat jahrzehntelang in Schulklassen als Zeitzeugin vom Überleben im Nationalsozialismus berichtet, Vorträge gehalten und sich in den Gremien der Jüdischen Gemeinde engagiert.
    Der Taxifahrer "hat es nicht so mit Juden"
    Fahren wir weiter durch Chemnitz. Die Stimmung ist angespannt. Polizeiwagen patrouillieren durch die Stadt. Auch heute ist eine Demonstration von Pro Chemnitz angemeldet. Der Taxifahrer will seinen Frust loswerden. Er klagt über die vielen Flüchtlinge in der Stadt.
    "Das muss einfach mal wieder klare Linie werden und klare Ordnung in dem Land. Das sind Leute, die passen nicht nach Mitteleuropa, weil die eine ganz andere Mentalität haben als wir. Die Leute, die sind nicht rechts hier. Das sind zum Großteil Leute, die nur Angst haben um ihr Leben, um ihr Hab und Gut, die das ganze Jahr arbeiten gehen wie ich. Und die hier, die kommen hier her, die dürfen Ansprüche stellen und so weiter und so fort."
    Uwe Dziuballa, Besitzer des Restaurants "Schalom" in Chemnitz
    Von vermummten Männern angegriffen: Uwe Dziuballa, Besitzer des Restaurants "Schalom" (Deutschlandradio / Sebastian Engelbrecht)
    Das Taxi hält in einem Gründerzeitviertel, vor dem Restaurant Schalom. Mit Juden habe er es nicht so, sagt der Fahrer. Er weiß, dass hier am 27. August vermummte Männer, bewaffnet mit Steinen und einer Eisenstange, den Wirt angriffen und an der Schulter verletzten. Uwe Dziuballa, ein Mann mit Glatze, runder Brille und gehäkelter Kippa auf dem Kopf, erinnert sich, dass er um 21 Uhr 40 auf einmal Geräusche hörte. Es klang wie "Flaschenrollen und Hufescharren".
    "Ich dachte mir überhaupt nichts dabei, bin zur Eingangstür gegangen, habe das Restaurant verlassen, stehe draußen, da stehen etwa zehn bis zwölf dunkel gekleidete Personen vor mir, ich denke - oder ich habe gesagt: 'Verschwindet!' In dem Augenblick flogen aber auch schon verschiedene Gegenstände auf mich."
    Die Angreifer riefen "Hau ab aus Deutschland, Du Judensau" und rannten davon.
    "Wir denken über Kofferpacken nach"
    Von der Straßenbahnlinie vier aus ist das Symbol der gerade erst erstarkten Chemnitzer Jüdischen Gemeinde in der Stollberger Straße unübersehbar: Hier steht seit 2002 die neue Synagoge, ein ovaler hellgrauer Bau. Vorsitzende der Gemeinde ist Ruth Röcher. Sie kam 1994 nach Chemnitz. Geboren wurde sie in Israel. Auch ihr geht immer wieder der Satz "Wehret den Anfängen" durch den Kopf.
    "In Sachsen wurde jahrelang dieser Satz nicht verfolgt. Es gab hier Anfänge, und die wurden ignoriert. Und jetzt endlich ist die Zeit, dass es so dazu gekommen ist."
    Die "Anfänge" sind für viele in Chemnitz schon länger zu spüren, spätestens seit diesem Jahr.
    "Einige Mitglieder reden seit einigen Monaten erst: Wir denken über Kofferpacken nach. Das sind Sätze, die ich vor einem Jahr nicht gehört habe. Seit etwa drei Monaten höre ich das, dass die Leute sagen: Wir denken darüber nach. Es geht nicht nur darum, von Ost nach West zu gehen, sondern es geht einfach darum, Deutschland zu verlassen."
    Dann wird Ruth Röcher nachdenklich. Es geht um die Landtagswahlen in Sachsen in einem Jahr.
    "Wenn ich mir überlege, dass wir leben unter einer Regierung von AfD oder überhaupt rechter Parteien hier in Deutschland, dann ist vielleicht alles, was wir hier gemacht haben - war falsch."
    Ruth Röcher hat feuchte Augen. Sie sieht ihr Lebenswerk in Gefahr.