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Rechtsstaatlichkeit in der EU
"Darf nicht einreißen, dass EU-Urteile nicht beachtet werden"

Ungarn ist verärgert: Laut Europäischem Gerichtshof muss das Land gegen seinen Willen Flüchtlinge aufnehmen. Die Schriftstellerin Juli Zeh pochte im Dlf darauf, dieses Urteil unbedingt durchzusetzen, notfalls mit Zwang. Sich EU-Gesetzen zu widersetzen, dürfe nicht unbestraft bleiben, "sonst können wir den Laden dichtmachen".

Juli Zeh im Gespräch mit Sandra Schulz | 08.09.2017
    Juli Zeh, deutsche Juristin und Schriftstellerin, hier ein Bild von August 2016.
    Hinter Ungarns Groll gegen das Flüchtlings-Urteil stecke eine Abkehr vom Rechtsstaat, sagt die Schrifstellerin und Juristin Juli Zeh. Dagegen müsse man hart vorgehen, sonst öffne man weiteren Missachtungen Tür und Tor. (picture-alliance / dpa / Erwin Elsner)
    Sandra Schulz: Im europäischen Streit um die Verteilung von Flüchtlingen, da geht es um Solidarität. Es geht wie fast immer auch ums Geld. Und zuletzt ging es um die Frage, wer hat Recht. Mehrere osteuropäische Staaten wollen keine Flüchtlinge aufnehmen. Ungarn und die Slowakei hatten sich ja juristisch gewehrt gegen die Mehrheitsentscheidung der Europäischen Union, wonach alle Mitgliedsstaaten verpflichtet werden sollten, Flüchtlinge aufzunehmen.
    Mitte der Woche hat der Europäische Gerichtshof jetzt gesagt, dass diese Mehrheitsentscheidung gegen das Veto aus Osteuropa rechtens war. Einer Einigung in der Migrationsdebatte ist Europa damit aber keinen Schritt näher gekommen. Ungarn reagiert empört, spricht von einem politischen Urteil und will das auch gar nicht anerkennen. – Wie tief steckt Europa in der Krise? Darüber kann ich in den kommenden Minuten sprechen mit der Schriftstellerin, der Europäerin und Juristin Juli Zeh. Schönen guten Morgen.
    Juli Zeh: Guten Morgen.
    Hinter Kritik am Urteil stecke grundsätzliche Kritik
    Schulz: Ungarn hat einen juristischen Streit verloren und reagiert so, wie viele vielleicht reagieren würden, die vor Gericht nicht Recht bekommen, nämlich empört. Was ist daran eigentlich so empörend?
    Zeh: Man könnte auf den ersten Blick ja sagen, das ist das Verhalten des schlechten Verlierers. Man wollte etwas, hat das nicht gekriegt, und dann posaunt man herum, es wäre was mit dem Verfahren nicht in Ordnung gewesen. Da könnte man drüber hinweggehen mit so einer Einschätzung, wenn nicht ein tieferes Problem dahinter stecken würde, was leider ein wenig grassiert. Dieser Satz von den Ungarn, sie erkennen das Urteil nicht an, das heißt ja in gewisser Weise auch, sie erkennen dieses Gericht überhaupt nicht an. Darin steckt im Grunde eine ganz tief liegende Abkehr von den Grundregeln der Europäischen Union, nämlich von dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.
    Schulz: Aber sind das nicht Auseinandersetzungen, die es überall dort, wo es Gerichte, wo es einen Rechtsstaat gibt, automatisch gibt? Das hat es in der jungen Bundesrepublik auch gegeben, ganz harsche Auseinandersetzungen zwischen einem Kanzler Adenauer und einem Bundesverfassungsgericht. Warum hat das jetzt in Ungarn eine neue Qualität?
    Zeh: Die mag nicht unbedingt so neu sein. Wir können die gerne einstufen unter, sage ich mal, Anfangsschwierigkeiten. Die junge Bundesrepublik war ja auch ein junges Land, eines, was mit der jetzigen Form von Verfassungsdemokratie noch nicht so viel Erfahrung hatte. Auch heute ist es in Deutschland ja öfter mal so, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Urteil fällt, was manchem Politiker nicht schmeckt, dass er dann auch sagt, oh, das war ein politisches Urteil, das war nicht korrekt oder so. Nur im Endergebnis werden bei uns die Urteile anerkannt, und zwar auch von den Verlierern, und das ist das ganz wichtige Prinzip.
    Ungarns Weg: nicht in Richtung Akzeptanz des Rechtsstaats
    In Ungarn mache ich mir Sorgen, weil wir einen Trend beobachten, der in die falsche Richtung geht. Wenn das jetzt nur Schwierigkeiten mit den Kinderschuhen wären und man dann sagen könnte, na ja, Schritt für Schritt nähert man sich dort aber doch einem Verständnis der Rechtsstaatlichkeit, wäre es vielleicht nicht so empörend. Aber der Weg scheint doch klar in die andere Richtung zu gehen.
    Schulz: Liegt das nicht auch daran, wie die Europäische Union organisiert ist? Wir haben jetzt eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Das ist ein wichtiges europäisches Gericht. Aber wir wissen, es wird sich nichts daran ändern. Ungarn wird so weitermachen wie bisher. Was sagt das über Europa?
    Zeh: Das müsste ja nicht unbedingt so sein. Es gibt ja zur Durchsetzung von Gerichtsurteilen eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder das Ganze beruht tatsächlich auf einem tief sitzenden Einverständnis mit dem Prinzip, man unterwirft sich diesem Gerichtsurteil und hält sich daran, oder es gibt Zwangsmöglichkeiten.
    Es gebe Zwangsmöglichkeiten bis zum Stimmrechte-Entzug
    Im Individualrecht, wenn wir jetzt das Strafrecht angucken, da kann man Menschen dann ins Gefängnis sperren. Das geht mit ganzen Nationen jetzt schlecht. Also braucht man andere Sanktionsmöglichkeiten, um Länder zu zwingen. Da sind natürlich sehr weitgehende Methoden, jetzt mal abstrakt betrachtet, denkbar. Das könnte ja bis zum Entzug von Stimmrechten innerhalb der Europäischen Union gehen. Man könnte da schon Einiges machen.
    Mein Ansatz ist auch, dass man das tun muss, natürlich, wenn es geht, immer mit einem gewissen Fingerspitzengefühl. Man muss auch Psychologien berücksichtigen. Aber es darf aus meiner Sicht auf gar keinen Fall einreißen und sich etablieren, dass die Gesetze und die Gerichtsurteile der Europäischen Union nicht beachtet werden. Sonst können wir den Laden einfach dichtmachen.
    Schulz: Jetzt sagen viele Ungarn, sagen viele Polen, vor allem auch die ungarische und polnische Regierung, ihr regt euch jetzt auf über uns, dabei ist in der Geschichte der Europäischen Union permanent gegen Recht verstoßen worden – wenn wir daran denken, wie aufgeweicht die Stabilitätskriterien wurden. Da war man sich dann in Westeuropa immer schön einig. Und jetzt, da die Osteuropäer, ich sage es jetzt mal salopp, ihr Ding machen, da ist die Aufregung groß.
    Zeh: Ja. Allerdings haben wir das Ticket für diese Aufweichung und dieses Nichteinhalten von Absprachen ja auch bekommen. Aus heutiger Sicht würde, glaube ich, niemand mehr sagen, dass das eine gute Idee war, denn Gesetze und Regeln fallen ja auch nicht vom Himmel, sondern da stecken schon jeweils Gedanken und Ideen und gute Wünsche dahinter. Es gibt auch Gesetze, die schiefgehen, aber es ist doch oft so, das müssen wir anerkennen, bei allem Wunsch, immer das Staatliche zu verachten, dass die meisten Gesetze äußerst sinnvoll sind zur Regelung unseres Zusammenseins.
    "Ich wäre sehr dafür, dass wir uns in Krisenzeiten aufraffen"
    Ich glaube oder hoffe jedenfalls, dass eigentlich auch Positives gelernt wurde aus einer gewissen Flapsigkeit im Umgang mit dem europäischen Recht in der Vergangenheit, und wäre sehr dafür, dass wir uns gerade in diesen Zeiten eigentlich permanenter Krise doch aufraffen, alle gemeinsam, uns umso stärker an die Gesetze zu halten. Es gibt auch, sage ich mal, fast schon sprichwörtliche Weisheiten, dass man in Zeiten, wo schwerer Seegang herrscht, sich umso mehr auf die gemeinsamen Regeln besinnt, weil sonst ein Auseinanderdriften eigentlich unvermeidlich ist.
    Schulz: Aber was ist dann mit dem großen Thema, das ja auch die Flüchtlingsdiskussion teilweise geprägt hat, dieser Vorwurf an die Bundeskanzlerin, an Angela Merkel, sie habe systematischen Rechtsbruch geduldet, als viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, viele Hunderttausende? Das war ja auch ein Verstoß gegen die Dublin-Richtlinien.
    Zeh: Ich will mich jetzt persönlich gar nicht darüber auslassen, ob das wirklich ein Verstoß war. Das müsste man juristisch sorgfältig aufarbeiten. Ich würde aber davon ausgehen, bin davon eigentlich auch überzeugt, wenn es nun tatsächlich zum Abschluss eines Gerichtsverfahrens käme, wo ein solcher Rechtsbruch festgestellt würde, so wie es jetzt im Falle Ungarns und der Flüchtlingsverteilung auch zu einem hochrichterlichen Urteil gekommen ist, dass sich die Bundesrepublik mit allen Konsequenzen diesem Urteil beugen würde.
    Demut vor der Institution und dem Rechtsstaat
    Das ist ja, was Gerichtsbarkeit möchte. Sie können nicht vermeiden, dass Fehler gemacht werden. Es gibt sogar Situationen, in denen man vielleicht – und möglicherweise gehörte die Flüchtlingskrise dazu – sehenden Auges das Recht bricht, weil man in einer Notfallsituation trotzdem eine bestimmte Sache für richtig hält. Wichtig ist, hinterher dann aber nicht zu sagen, jetzt lehnen wir das gesamte System ab, wir lehnen die Institutionen ab, jetzt herrscht hier wieder freie Wildbahn, sondern dann mit einer rechtsstaatlichen Demut die Entscheidung der Institutionen hinnimmt.
    Schulz: Das heißt aber, dass wir dann quasi bei solchen strittigen Fragen immer auch ein Gerichtsurteil bräuchten. Jetzt haben wir die Situation: Dieser Vorwurf des systematischen Rechtsbruchs, der kam ja unter anderem auch von der CSU, die ja auch teilweise gedroht hatte, nach Karlsruhe zu ziehen, hat sich auch berufen auf das Gutachten eines früheren Verfassungsrichters. Jetzt gehe ich davon aus, dass wir dieses Verfahren nie sehen werden. Wir werden dementsprechend auch das Urteil nie sehen. Und in Diskussionen sagen die einen, das war systematischer Rechtsbruch, und die anderen sagen, das war es nicht. Wie sortieren wir diese Diskussionen denn dann?
    Zeh: Das ist im Grunde nicht so schwierig. Das, sage ich jetzt mal salopp, Geplänkel im Vorfeld einer Gerichtsentscheidung ist ja nun tatsächlich ein politischer Vorgang. Man wirft sich gegenseitig was vor, und das kennt man auch im Alltag, wenn zwei Leute auf der Straße sich streiten, dann sagt der eine schnell, ich zeig Dich an, ich geh vor Gericht. Das ist eine Drohung, das soll auch zum Ausdruck bringen, wie sehr man davon überzeugt ist, dass irgendein Verhalten jetzt gerade falsch war.
    Warum niemand wegen der Dublin-Verstöße von 2015 klagt
    Die Frage, ob es zu einem Gerichtsprozess überhaupt kommt, sagt oft schon was darüber aus, wie wahrscheinlich denn dieser Rechtsbruch ist. Wenn tatsächlich eine erfolgsaussichtsreiches Verfahren gegeben ist, dann würden diejenigen, die sich verletzt fühlen, zu diesem Gericht auch gehen. Wenn das gar nicht passiert, sage ich mal, ist die Wahrscheinlichkeit, dass so ein Rechtsbruch gar nicht vorlag, doch relativ hoch und entsprechend muss man dann auch die vorgesetzten Vorwürfe beantworten oder einschätzen. Man müsste dann quasi sagen, wenn ihr so sicher seid, dann geht doch zu Gericht, dann reicht doch diese Klage ein, dann lasst es doch rechtsverbindlich feststellen.
    Schulz: Die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank dafür.
    Zeh: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.