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Rechtsterrorismus in den Medien
Das erfolgreiche Verdrängen

Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus seien Phänomene, die bundesdeutsche Medien seit mehr als 50 Jahren völlig überraschend immer wieder neu entdeckten, schreibt Matthias Dell in seiner Kolumne. Auch der "Spiegel" verstehe das Thema deshalb in seiner aktuellen Ausgabe falsch.

Von Matthias Dell | 26.02.2020
Der "Spiegel" vom 22.2.2020 mit seiner Titelgeschichte vom "Deutschen Winter"
"Deutscher Winter" - Anspielung auf den sogenannten Deutschen Herbst, den Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen der RAF und dem Staat 1977 (Deutschlandfunk)
Auf den rechtsterroristischen Anschlag von Hanau hat der aktuelle "Spiegel" mit einer Titelgeschichte reagiert. "Deutscher Winter" steht auf dem Cover, eine Anspielung auf den sogenannten Deutschen Herbst, den Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen der RAF und dem Staat 1977.
Wer das Wortspiel auf dem Titel nicht sofort versteht, bekommt es in dem dazugehörigen Text noch einmal erklärt, in zwei Sätzen, die nebeneinander parken wie Autos unterschiedlicher Marken. "Im Deutschen Herbst 1977 stürzte der RAF-Terror den Staat in eine seiner schwersten Krisen. Im deutschen Winter 2020 muss sich das ganze Land eingestehen, dass es den Nährboden rechter Gewalt bislang nicht auszutrocknen vermag."
Der Verweis auf die RAF ist völlig abwegig. Er funktioniert nur über ein billiges Wortspiel, über diesen Vergleich von "Links" und "Rechts", der sich in Herbst und Winter übersetzt. Aber diese Verbindung erklärt einem nichts, weil der Terrorismus der RAF ganz anders gelagert war, als es der Terrorismus von rechts ist.
Matthias Dell
Matthias Dell, Jahrgang 1976, studierte Komparatistik und Theaterwissenschaft in Berlin und Paris. Er schrieb von 2004 bis 2014 für das Medien-Watchblog "Altpapier" und veröffentlicht jeden Sonntag nach der Ausstrahlung eine Kritik zum aktuellen "Tatort" beziehungsweise "Polizeiruf" auf Zeit Online. 2012 erschien sein Buch "'Herrlich inkorrekt'. Die Thiel-Boerne-Tatorte" bei Bertz+Fischer.
Visionäre Einordnung des Problems vor 40 Jahren
Und deshalb fragt man sich, warum der "Spiegel" nicht in der Lage ist, im Angesicht des Hanauer Anschlags den historischen Bezug herauszusuchen, der triftiger ist, der wirklich zu verstehen hilft, womit wir es beim Rechtsterrorismus zu tun haben.
Dieser Hinweis findet sich im eigenen Archiv: im Spiegel Nr. 41 aus dem Jahr 1980. In dieser Ausgabe gibt es einen Text über das Attentat auf das Münchner Oktoberfest, bei dem damals 13 Menschen getötet und 219 verletzt wurden. Und in diesem Text findet sich eine Passage, die aus heutiger Sicht visionär wirkt – weil sie all das schon weiß, was noch immer das Problem bei der medialen Wahrnehmung von Rechtsterrorismus ist. Weil sie sich liest wie eine um vierzig Jahre verfrühte Kritik an dem Cover, das der "Spiegel" in dieser Woche gemacht hat. In dem Text von 1980 steht:
"Gleichwohl schienen sich auch noch nach dem Wies'n-Attentat Politiker und Pressekommentatoren gegen die Einsicht zu sträuben, daß sich in der Bundesrepublik eine Subkultur von rechten Radikalen gebildet hat, die sich aufs Bomben eingestellt hat. In Westdeutschland, so hatte schon vor zehn Jahren die 'Frankfurter Allgemeine' kritisiert, unterlägen rechtsextremistische Taten 'tendenziell alle dem gleichen Interpretationsschema'. '1. Die Täter werden für kaum zurechnungsfähig erklärt. 2. Man betont die Einzeltat ... wobei 3. die rechtsextreme Irrläuferei wenn möglich der heimlichen Identität mit der Linken geziehen wird.'"
Erfolgreiche Verdrängung und Ignoranz
Wie zutreffend dieses Schema war, führt der "Spiegel"-Text dann auch noch aus. Der damalige CDU-Vorsitzende und spätere Bundeskanzler Helmut Kohl nannte den Oktoberfest-Anschlag das Werk eines Wahnsinnigen, das "nur noch mit medizinischen Dimensionen zu messen" sei. Der CSU-Vorsitzende und damals scheiternde Bundeskanzler-Kandidat Franz Josef Strauß tat alles, um den Attentäter als Einzelgänger darzustellen und seine Verbindungen zu rechtsextremen Netzwerken zu vertuschen – auch mit Prognosen. Spuren führten in eine ganz andere Richtung.
Traurige Pointe: Die Verdrängung und die Ignoranz, die Kohl und Strauß und andere Politiker und Pressekommentatoren damals praktizierten, war erfolgreich. Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus sind Phänomene, die bundesdeutsche Medien seit mehr als 50 Jahren völlig überraschend immer wieder neu entdecken. Und immer wieder falsch verstehen müssen – wie sich am aktuellen "Spiegel"-Cover zeigt.