Michael Köhler: Der Luther Ihres Buches heißt Rebell, aber er ist ein Rebell wider Willen?
Willi Winkler: Er wollte sicher nie ein Rebell sein. Das steht fest. Aber der Untertitel heißt ja "ein deutscher Rebell", also er ist kein richtiger. Ich beziehe mich immer gerne auf Michael Kohlhaas, die deutsche Gallionsfigur, und in der Erzählung tritt ja Luther auch auf. Das Problem mit den Deutschen war immer schon, dass sie nicht Kohlhaas sind, was sie sein wollen, sondern Kohlhäschen.
Köhler: Die pietistischen Bekenntnisse, Herr Winkler, die Briefliteratur des Sturm und Drang, der Individualisierungsschub, der Subjektivierungsschub, die Aufklärung, alles, worauf wir so stolz sind, die Selbstbefragung empfindsamer Selen, das Emanzipationsbedürfnis romantischer Kreise, also Tübingen und Jena, alles protestantische Rebellen?
Winkler: Mit Hilfe der Religion und auch, indem sie sich davon separieren. Das ist richtig. Luther ist das Gegenteil eines Aufklärers, eines Rationalisten. Aber ohne ihn wäre es eben auch nicht gegangen. Das ist ja das Interessante an ihm: Er hat den Fortschritt gebracht und auf der Stelle wieder verhindert. Er hat in einer Zeit des Absterbens der Kirche eine neue aufgerichtet und damit das Überleben gesichert.
"Das evangelische Pfarrhaus ist die Brutstätte der modernen deutschen Literatur"
Köhler: Cranach ist gemalter Luther und Bach komponierter. Das könnten wir jetzt auf eine ganze Menge andere auch so ausweiten, bis zur Romantik, bis Caspar David Friedrich. Geistiger Aufschwung, poetische Landschaftsmalerei, alles ohne den Einfluss der Reformation auf die Künste gar nicht denkbar oder?
Winkler: Das ist richtig. Die Innerlichkeit, also die Romantik, kann sich in jedem Wort, in jedem Bild auf Luther berufen, der entgegen der protestantischen offiziellen Theologie ein Mystiker blieb, ein Privatmann, niemand, der zunächst jedenfalls an einer Sammlungsbewegung interessiert war, sondern an seinem persönlichen Verhältnis zu einem gnädigen Gott. Das nimmt die Romantik mit ihrer Empfindsamkeit, mit ihrer Naturliebe wieder auf – natürlich!
Köhler: Ich erinnere mich an eine Begegnung auch mit Fritz Stern, dem Historiker, dem deutsch-jüdischen, der mir mal sagte: Weißt Du, ich bin eigentlich ein Weihnachtsbaumjude und – jetzt kommt’s – ein Kulturprotestant. Das ist tief im Deutschen verankert, der Kulturprotestantismus?
Winkler: Das ist richtig. Das hat dem Protestantismus in gewisser Weise das Überleben gesichert, aber auch zur Entspiritualisierung geführt. Natürlich: Das evangelische Pfarrhaus ist die Brutstätte der modernen deutschen Literatur. Einer der wenigen, der nicht dazugehört, ist Goethe, der ja auch zeitweise, was seine Verehrer ja gerne übersehen, einen infernalischen Hass auf das Christentum gezeigt hat. Aber auch er kommt aus dieser Empfindsamkeit, die sehr stark religiös geprägt ist, vor allem in der Sprache.
"Luther war kein umarmender Mensch"
Köhler: Ich spreche mit Willi Winkler nicht als Religionshistoriker oder Fundamentaltheologen, sondern als Verfasser von Büchern auch, und das macht mich staunen. Sie haben Bücher über Beatles, Bob Dylan, Mick Jagger und die Stones gemacht, jetzt eins über Luther. Dann bleibt nur noch die Frage: All you need is love?
Winkler: Das ist der Beginn einer Enzyklika des vorigen Papstes, dass man die Liebe braucht, und hast Du die Liebe nicht, so hast Du gar nichts. Aber ich glaube nicht, dass das auf Luther passt. Luther war kein in dem Sinne ein sozialer, ein umarmender Mensch. Er war Individualist, und das ist auf der anderen Seite ja auch seine große Leistung, dass er sich hinstellt und sagt, hier stehe ich. Er hat das natürlich nicht so gesagt, aber er sagt, ich, er sagt vor dem Kaiser, ich. Der Kaiser würde nie von sich als ich gesprochen haben, aber Luther besteht mit Berufung auf sein Gewissen darauf, dass es jetzt allein auf ihn ankommt.
Köhler: Aber darin ist er ziemlich modern?
Winkler: Das ist der Beginn der Moderne. Das ist die Moderne, mit der er nichts zu tun haben will, die im Humanismus entsteht, mit dem er auch relativ wenig zu tun hat, und insofern ist er der Vorläufer, auf den man sich berufen kann. Aber wie gesagt: Ohne, dass er es wirklich wollte oder auch nur ahnte, wo das hinführt.
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