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Reif: Deutschland hatte "kaum Chancen"

Nach Ansicht von Sport-Kommentator Marcel Reif hat die spanische Fußball-Nationalmannschaft verdient den EM-Titel gewonnen. "Sie hatten die besseren Chancen, die besseren Spieler, sie haben das bessere Turnier gespielt und sind ein würdiger Europameister." Die deutsche Mannschaft sei noch weit von der absoluten Weltspitze entfernt.

Moderation: Christian Schütte |
    Christian Schütte: Was gestern Abend nicht geklappt hat, das hat 1972 funktioniert. Die deutsche Elf spielte bei der damaligen EM den bis dahin besten offensivsten Fußball im Finale von Brüssel. Der Gegner Sowjetunion war beinahe nur Statist, während die deutsche Mannschaft Druck nach vorne gemacht hat. 1976 dann die EM-Niederlage beim Endspiel gegen die Tschechoslowakei. 1980 wiederum Sieg im Finale von Rom gegen Belgien. 1992 wieder ein verloren gegangenes Endspiel gegen Dänemark und 1996 der Sieg in England gegen Tschechien, 2:1 in der Verlängerung. Und nun erneut geschlagen, 2008 bei der Europameisterschaft in der Schweiz und in Österreich. Darüber spreche ich nun mit Marcel Reif, Fußballexperte und Chefkommentator beim Sender Premiere. Guten Morgen Herr Reif.

    Marcel Reif: Ich grüße Sie.

    Schütte: 1996 ein verdienter Sieg und 2008 eine verdiente Niederlage im Endspiel gestern Abend?

    Reif: Aber genau so oder noch schöner wäre es, wenn Sie sagen würden "ein verdienter Sieg der Spanier". Das war die bessere Mannschaft und das 1:0 ist zu knapp. Wenn es 3:0 ausgeht, dann ist uns das vielleicht auch deutlicher. So denkt man so knapp, wir waren so knapp dran. Nein! Die Spanier waren eindeutig besser. Sie hatten die besseren Chancen, die besseren Spieler, haben das bessere Turnier gespielt und sind ein würdiger Europameister.

    Schütte: Warum haben die Deutschen den Spaniern so wenig entgegenzusetzen gehabt?

    Reif: Weil noch mal die Spanier sehr gut sind, sehr, sehr gut sind. Und es war klar: Wenn die deutsche Mannschaft ihnen nicht das Spiel verderben kann, dann wird es so laufen. Die Spanier waren flink, schnell und sie sind im Mittelfeld überragend besetzt, besser vielleicht als jede andere Mannschaft auf der Welt im Moment. Der deutschen Mannschaft ist das, was sie vorhatte, nicht gelungen, eben Spielverderber zu spielen. Selber hatte sie kaum Chancen, wirklich kaum Chancen. Wenn wir uns das Spiel noch mal angucken: Sie hatte kaum Chancen. Und wenn man die Spanier spielen lässt? In den ersten zehn Minuten waren unsere Spieler gut und nah dran, wie es immer heißt, immer nah dran am Gegner. Da haben sie ihnen auf den Füßen gestanden. Aber je sicherer die Spanier wurden, desto mehr hat sich die bessere Klasse durchgesetzt.

    Schütte: Die deutsche Elf will offensiv spielen, aber ob das gelingt scheint - siehe gestern Abend - ein wenig Glückssache zu sein. Woran liegt das?

    Reif: Man kann ja etwas wollen, aber bedauerlicherweise ist beim Fußball eine unverrückbare Tatsache, dass da Gegner auf dem Platz sind. Das macht die Sache manchmal so ein bisschen schwierig. Und gestern auf Offensive schalten, das ging für die ersten zehn Minuten, aber auch nicht richtig mit dem entsprechenden Druck. Dazu standen die Spanier auch zu gut. Den Spaniern hat man zu Beginn des Turniers nachgesagt, sie haben hinten Schwächen. Die hatten sie jetzt nicht mehr. Die haben sich nach und nach während des Turniers beseitigt. Sie sind auch hinten sicherer geworden, haben einen sehr guten Torwart. Und dann kann man halt nur das spielen, was der Gegner zulässt. Die Spanier haben zu wenig zugelassen. Bei der deutschen Mannschaft muss man allerdings eines sagen: ein Spieler wie Michael Ballack in der Form von gestern - der war nicht fit. Das ist die einzige Erklärung, die ich habe. Denn ansonsten war der fast ein Ausfall. Und wenn ein Ballack ausfällt - das ist der einzige Weltklassespieler, den wir haben -, wenn der ausfällt, das kann eine deutsche Mannschaft nicht kompensieren.

    Schütte: Blicken wir einmal auf das gesamte Turnier. Deutschland ist mit Ausnahme vom Portugal-Spiel erst im Finale auf einen wirklich großen Gegner getroffen. War das insofern ohnehin eine geschenkte Finalteilnahme?

    Reif: Es gibt nichts geschenkt bei einer Europameisterschaft, aber es war sicher nicht die schwerste Auslosung, die wir hatten und so wie das Tableau dann aussah. Dafür war mir zu viel Achterbahn dabei. Das muss man schon nüchtern begucken: Was war gut, was war nicht so gut. Gehen wir es doch schnell mal durch. Das erste Spiel gegen Polen: Eröffnungsspiele sind immer so ein bisschen schwierig, weil man nicht weiß wo man steht. Und die Polen: mit viel Ehrgeiz war das sehr ordentlich, was die deutsche Mannschaft dort gespielt hat. Aber was dann passierte, war sehr undeutsch. Da gab es viel Lob und viel Arroganz, Selbstgefälligkeit, Sattheit und "das machen wir schon mit links gegen Kroatien". Das Ergebnis haben wir gesehen gegen eine Mannschaft, die nun wirklich nicht aller-, allererste Klasse ist. Gegen die hat man dann sang- und klanglos 2:0 verloren, ist richtig vermöbelt worden, hat sich selber so unter Druck gesetzt, dass man gegen Österreich, die mit Abstand schlechteste Mannschaft dieses Turniers und nur dabei, weil sie Gastgeber waren - bei allem Respekt, aber das ist eine simple Tatsache -, zu einem 1:0 gewürgt hat. Das hat schon fast weh getan. Aber Mund abputzen, durchgekommen. So sind deutsche Mannschaften, Turniermannschaften. Man steigert sich, kann das alles ändern. Dann kommt der erste Brocken: das ist Portugal. Und da muss ich sagen, da habe ich vor dem Spiel gesagt: mit der Form wie gegen Kroatien und Österreich sehe ich nicht den Hauch einer Chance. Aber da hat die deutsche Mannschaft sehr, sehr gut gespielt, sehr gut gespielt. Das würde ich mitnehmen aus diesem Turnier. Da hat man gesehen: Da ist Potenzial da. Das muss noch stabiler werden, daran muss gearbeitet werden, aber da ist Potenzial da. Das war taktisch und spielerisch eine Meisterleistung. Da dachtest du "so, jetzt sind sie am laufen" und das dachten auch alle anderen Gegner im Übrigen. Die dachten "ach du Schande, jetzt ist es wieder so weit. Die Deutschen sind im Laufe des Turniers wieder so stark geworden." Gegen die Türkei? Das war Glück, reines Glück. Die Türkei musste das Ding gewinnen. Eine Mannschaft mit dem letzten Aufgebot und die haben vorher auch erzählt, bei uns spielt wahrscheinlich noch der Platzwart und der Busfahrer muss spielen. Und die Deutschen haben das geglaubt. Undeutsch, unseriös wie gegen Kroatien, und hatten am Ende unsäglich Glück, da weiterzukommen. Und dann kommt Spanien. Das ist eine Mannschaft, die bei diesem Turnier alle Spiele gewonnen hat. Die sind zusammengewachsen. Die spielen einen klasse Fußball und die haben uns dann die Grenzen gestern aufgezeigt. Insofern es taugt nicht für Legenden, auch gestern nicht, irgendwelche Schiedsrichterleistungen und ob er den Silva da rausstellt oder auch nicht. Komm, hören sie auf! Lassen sie uns doch einfach sagen hey, nicht schlecht, nicht wirklich gut, viel zu viel Achterbahn, unstabil. Das ist eigentlich wie Deutschland. Daran muss gearbeitet werden. Und gegen einen richtig guten Gegner hätte die beste Mannschaft des Turniers verloren.

    Schütte: Heißt zusammengefasst Deutschland hat den Titel Vizeeuropameisterschaft gar nicht recht verdient?

    Reif: Wer ihn am Ende hat nach einem Turnier mit sieben Spielen, der hat ihn verdient. Sehr wohl, der hat ihn verdient.

    Schütte: Was bedeutet die Niederlage für die künftige Ausrichtung der deutschen Mannschaft?

    Reif: Sehen, dass man noch ein Stück hinter der absoluten Weltspitze hinterher ist. Was passt schon, was können wir. Das was gegen Portugal war, das können wir. Wir können es, aber nur noch nicht am Stück abliefern. Wir müssen technisch noch besser werden. Das ist wichtig für die Ausbildung bei den Jugendlichen. Wir müssen technisch besser werden, damit man das Tempo, das heute in der Spitze gespielt wird, gehen kann. Sobald eine Mannschaft richtig schnell gespielt hat, haben wir Probleme. Und man hat gesehen: die Holländer, als die noch richtig im Turnier drin waren - dann ging es ja schnell raus -, die konnten einen unglaublich schnellen Fußball spielen. Die Russen: da ist einem schwindlig geworden. Die Spanier können es mit ihrer Art Kombinationsfußball auch technisch und vom Tempo her eine Klasse noch besser als Deutschland. Das muss man lernen. Das muss man in der Liga lernen. Diesen Rückstand muss man in der Bundesliga aufholen. Dann ist mir nicht bange. Aber wir haben noch Rückstände.

    Schütte: Im Deutschlandfunk sprechen wir mit Marcel Reif, dem Fußballexperten und Chefkommentator beim Sender Premiere. Gehen wir einmal weg von den Akteuren auf dem Platz und hin zu den Akteuren im Stadion und vor den Bildschirmen. Fußball ist nicht mehr nur eine Domäne der männlichen Fans. Inzwischen schauen genauso viele Frauen die Spiele an und eben auch Männer, die sich sonst gar nicht für Fußball interessieren. Früher hieß es, wer die Abseitsregel nicht versteht, hat am Bildschirm nichts zu suchen. Was hat sich da geändert?

    Reif: Hat sich denn wirklich was geändert? Jetzt kriegen wir diese Fan-Zonen gezeigt, in denen die Menschen auf die Straße gehen, um Fußball zu gucken, eben auch mindestens so viele Frauen wie Männer. Aber Freunde: Das ist Laufkundschaft! Das ist Europameisterschaft. Das ist so wie WM. Da sind auch Leute da, die sonst nicht ständig sich mit Fußball beschäftigen. Das ist doch auch schön! Das ist ein großes nationales Ereignis. Da sind alle dabei. Die Bundeskanzlerin ist bei jedem Spiel fast dabei. Das ist halt so! Deswegen ist noch nicht die ganze soziale Struktur oder soziologische Struktur des Publikums verändert. Aber ja, Fußball ist in Deutschland eine durchgängig funktionierende, eine durchgängig durchdringende Geschichte, die alle Schichten erreicht. Das ist so!

    Schütte: Vereinzelte Moderatoren haben Kritik geerntet wegen sagen wir Altherrenwitzen. Müssen die Kommentatoren verstärkt umdenken in der Berichterstattung, weil sie nicht mehr für biertrinkende Männer im Feinripphemd moderieren?

    Reif: Den Verdacht hatte ich aber immer schon. Das bringt nichts. Wenn ich Europameisterschaft oder Weltmeisterschaft kommentiere weiß ich, welches Publikum zu Hause ist. Da bringt es nichts, wenn ich entweder Herrenwitzchen reiße, oder aber wenn ich kommentiere für die Trainerausbildungsakademie in Köln, sondern da muss ich mich schon ein bisschen breiter aufstellen.

    Schütte: Marcel Reif, Fußballexperte und Chefkommentator beim Sender Premiere. Ich danke Ihnen für das Gespräch.

    Reif: Danke auch.