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"Wir haben nicht gut gespielt"

Der UN-Sonderbeauftragte für Sport, Willi Lemke, ist der Ansicht, trotz der deutschen Niederlage ist es ein "wunderbarer Fußballabend" gewesen. Er bezeichnete das spanische Team als die "beste Mannschaft des Turniers". Sie habe zu Recht den Titel gewonnen.

Moderation: Christian Schütte |
    Rolf Kramer: Natürlich kann man sagen, die Spanier waren ein überraschend starker Gegner, aber all das, was man in den ersten Spielen in der Vorbereitung bemängelt hat - zu Recht -, all das tritt heute hier wieder zu Tage.

    Günther Netzer: Man hat es noch verstärkt gesehen, glaube ich. Das Mittelfeld und die Abwehr hat die Sturmspitzen keineswegs unterstützt und jeder kocht sein eigenes Süppchen. Es ist nichts aufeinander abgestimmt, was ineinander übergehen müsste.

    Christian Schütte: Rolf Kramer und Günther Netzer analysieren die Niederlage der Deutschen gegen Spanien. Das war allerdings nicht gestern Abend, sondern bei der Europameisterschaft 1984 im Viertelfinale. Jetzt ist 2008. Spanien ist Europameister, Deutschland im Finale der EM geschlagen. Über die Europameisterschaft und über die Frage, inwieweit Fußball politisch ist und die Welt verändern kann, spreche ich mit Willi Lemke, dem UNO-Sonderbeauftragten für Sport. Guten Morgen Herr Lemke.

    Willi Lemke: Guten Morgen Herr Schütte.

    Schütte: Sie haben das Spiel in Wien gesehen. Wie haben Sie die deutsche Mannschaft erlebt?

    Lemke: Ich habe einen wunderbaren Fußballabend erlebt.

    Schütte: Trotz der Niederlage!

    Lemke: An dem völlig zu Recht die spanische Mannschaft, die klar die beste Mannschaft des Turniers war, dann letztendlich Cup Winner geworden ist. Die deutsche Mannschaft habe ich eigentlich nur über ganz wenige Phasen - da denke ich jetzt vielleicht an die ersten zehn Minuten - als einen Partner gesehen, als einen Konkurrent gesehen, der in dieser Phase noch willens war, richtig gegenzuhalten. Das hatten wir uns eigentlich gewünscht. Ich durfte mit dem DFB anreisen. Da hatten wir sehr viele Gespräche vor dem Spiel und es wurde gesagt, wir haben nur eine Chance, den Spaniern den Schneid abzukaufen. Allgemein wurde eingeschätzt, dass sie fußballerisch stärker wären, und wir hätten das nur positiv erreichen können, wenn wir von Vornherein die Räume sehr eng gemacht hätten und sie nicht zur Entfaltung hätten kommen lassen. Das ist gestern nicht gelungen. Wir haben nicht gut gespielt. Wir haben hier ganz gut abgeschnitten, indem wir nämlich Vizeeuropameister geworden sind. Das hätte vor dem Turnier ich zumindest auf keinen Fall geglaubt, dass das klappen würde. Wir haben überhaupt keinen Grund, traurig zu sein heute Morgen. Die Spanier haben ein bravouröses Spiel hingelegt. Sie hätten eigentlich 2:0 oder 3:0 genauso gewinnen können. Sie hatten die Chancen dafür. Nun sind wir noch ganz gnädig mit dem 1:0 bedient worden. Ich finde sie sind wirklich würdige Europapokalsieger geworden.

    Schütte: Trotz der Enttäuschung jetzt, die Fans wollten bei dieser EM vor allem eines, nämlich feiern. Was ist Ihr Eindruck? Geht es bei dem ganzen überhaupt noch um Fußball, oder eher darum, sich selbst zu feiern?

    Lemke: Das ist eine sehr gute Analyse. Ich merke das schon fast 10, 15 Jahre, dass der Trend dahin geht, und ich werde Ihnen auch ein kleines Beispiel dazu bringen, dass die Fans, selbst die im Stadion sind eher sich selbst dort erleben wollen, zelebrieren wollen. Das gilt logischerweise nicht für alle. Da muss man sehr differenziert das betrachten. Aber ich erlebe immer mehr, dass es den Leuten gar nicht so sehr darum geht, einen Fußball auf ganz, ganz hohem Niveau zu erleben, wenn man zum Teil sieht, wie die balltechnisch drauf sind, wie sie konditionell drauf sind, wie das alles stimmt, wie hochprofessionell das wirklich läuft. Dann sehe ich auf der anderen Seite - ich bringe jetzt mal das kleine Beispiel. Es war vor etwa 12, 15 Jahren. Da bin ich mal bei einem Spiel in der Fan-Kurve gewesen als damaliger Manager noch. Dann sind die Fans rein- und rausgelaufen. Das war auf einem Stehplatz. Diese Bewegung zeigte mir: Ihr könnt doch jetzt nicht während des Spiels rauslaufen, euch ein Bier holen oder eine Bratwurst oder sonst irgendwas. Die waren gar nicht so sehr bei dem Spiel, sondern es war mehr wichtiger interessant, für sie wichtiger, dass da ganz viele Freunde waren. Dann geht man dahin, dann schnackt man darüber. Dann kommt auf einmal ein 11 Meter und einer sagt: "holt die alle mal wieder rein!" - Ich wäre fast umgefallen, weil da stand nicht so sehr das Spiel im Vordergrund, sondern da war Party angesagt. Das gilt natürlich wirklich nur für einen Teil der Zuschauer, aber es gilt glaube ich für immer mehr. Das was wir im Augenblick erleben - ich freue mich übrigens darüber -, dass das übrigens auch in so friedlichem Umfeld stattfindet, das ist große Klasse. Ich will noch eines hinzufügen: Ich bin aufgrund meines neues Berufes in der letzten Woche in Südafrika, in Kenia, in New York und natürlich in Deutschland gewesen und überall hat die Fußballeuropameisterschaft einen unglaublichen Stellenwert. Selbst bei den Vereinten Nationen gab es eine Euro-Cup-Ecke, wo bei den Spielen immer so um die 100, 120 UN-Delegierte saßen. Die gingen zwar auch immer rein und raus, weil irgendwelche Sitzungen gerade begannen oder aufhörten, aber das hat mich total fasziniert, wie auch in Südafrika und in Kenia die Leute genau wussten, woher Thorsten Frings kam, dass Mertesacker aus dem gleichen Club kam. Als ich dann erzählte, was ich früher mal gemacht habe, da gab es ein großes Hallo. Der Fußball war das Thema der letzten Tage - nicht nur in Europa, sondern das galt weltweit.

    Schütte: Fußball bringt die Menschen zusammen. Sport integriert die Völker. Funktioniert das aber auch außerhalb Europas, zum Beispiel in Südafrika?

    Lemke: Da ist noch ein ganz weiter Weg zu beschreiten. Aber ich bin seitdem ich da war und mir das angeschaut habe, wie die Stadien voran gehen, wie die Sicherheitslage aussieht, fest davon überzeugt, dass es richtig war, diesen Welt-Cup nach Südafrika zu bringen. Die Menschen haben dort und auch die Gesellschaft hat noch ganz, ganz große Probleme, zusammenzufinden. Bevor ich nach Südafrika gegangen bin, habe ich überhaupt nicht gewusst, dass es dort elf verschiedene Sprachen gibt, elf verschiedene Stämme, ursprüngliche Stämme, die jetzt zusammengeführt werden nach dieser schrecklichen Zeit der Apartheid. Und man ist längst noch keine "one nation", sondern man hat nach wie vor noch nicht zusammengefunden. Es gibt ganz, ganz große Probleme in der Sicherheit.

    Schütte: Es hat zahlreiche Unruhen gegeben. Das hat viele verunsichert, auch den Fifa-Chef Joseph Blatter. Der hat angedeutet, die WM 2010 könnte auch anderswo als in Südafrika ausgetragen werden. Ist das denn mehr als eine leere Drohung?

    Lemke: Ich hoffe, dass es ein Signal sein sollte. Dieses Signal sollte unbedingt die Verantwortlichen auch in der Regierung, nicht nur im Organisationskomitee, sondern auch in der Regierung heftigst auffordern, den Sicherheitsaspekt etwas mehr in den Vordergrund zu nehmen. Ich habe vielleicht auch dort erlebt, dass es ein bisschen zu sehr auf die leichte Schulter genommen wird. Nicht vom Organisationskomitee! Das Organisationskomitee macht eine hervorragende Arbeit. Aber bei Mitgliedern der Regierung mag es so sein, dass man diese Probleme der inneren Sicherheit nicht so vehement bearbeitet, wie ich mir das eigentlich wünschen würde. Ich will unbedingt versuchen, auch in dem Bereich, in dem das die Vereinten Nationen überhaupt können, doch darauf hinzuwirken, dass diese Frage etwas ernster genommen wird. Ansonsten ist es ein großartiges Land. Das ist so voller Ressourcen, hat auch fantastische Menschen. Aber sie müssen zusammenfinden. Deshalb glaube ich übrigens, dass die Entscheidung der Fifa eine richtige Entscheidung war, denen die Chance zu geben zusammenzufinden. Bitte denken Sie noch mal, wie wichtig es war 2006. Da gab es einen zitierten Ruck durch Deutschland und wir haben uns zu unserer Nation, zu unserem Land, zu unseren Symbolen bekannt. Das ist ein innenpolitischer Prozess gewesen, den man gar nicht unterschätzen darf.

    Schütte: Nun war das Deutschland. In Südafrika - Sie haben es kurz beschrieben - sieht das ganze etwas anders aus. Zeigt das nicht, dass der Sport grundsätzlich überfordert ist, wenn er für politische Zwecke zur Integration eingesetzt wird?

    Lemke: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass jede große Veranstaltung einen politischen Hintergrund hat, egal in welchem Land sie stattfindet. Das ist automatisch. Das ist ein Automatismus. Der Sport darf nur nicht bewusst eingesetzt werden, um bestimmte politische Ziele umzusetzen. Wenn das passiert geht es schief. Wenn eine Regierung sagt, wir bemühen uns um eine Großveranstaltung und wir wollen unseren Gästen ein guter Gastgeber sein und wir wollen zeigen, was wir drauf haben, die organisatorischen Probleme bewältigen können, was meinen Sie was da im Vorfeld hier wie in Zukunft auch natürlich beim World Cup 2010 in Südafrika alles zu bedenken ist: an Organisationsleistung, an Logistik und an verschiedensten Dingen, dass das alles klappt wie geschmiert. Dann denke ich, das ist eine großartige Gelegenheit, die Leistung eines Staates zu zeigen. Das alleine ist Politik! Da gibt es überhaupt keine Frage. Wenn es aber dann heißt, und jetzt wollen wir gleichzeitig bei diesem Europapokal mal versuchen, dieses oder jenes hinzubekommen, indem man das gezwungen aufsetzt, das finde ich geht selten gut. Ich erkenne eher negative Dinge, als dass ich das positiv fände. Aber wenn man das laufen lässt und sagt, innenpolitisch wollen wir uns stabilisieren und außenpolitisch wollen wir den teilnehmenden Nationen - und nicht nur denen, sondern der ganzen Welt - zeigen, was wir drauf haben, das kann man machen. Das kann natürlich auch schief gehen, wenn man nicht so gut organisieren kann wie das jetzt hier gelaufen ist.

    Schütte: Innenpolitische Stabilisierung ja, aber der Sport kann, so höre ich bei Ihnen heraus, auch kein Regime verändern. Wie ist dann die Vergabe der Olympischen Spiele an Peking zu bewerten? Damit hatte man sich ja durchaus innenpolitische Veränderungen versprochen.

    Lemke: Ja und diese innenpolitischen Veränderungen sind von allen Experten, die ich in den letzten drei Monaten befragt habe, ohne Frage zu sehen.

    Schütte: Wo sind sie zu sehen? Pressefreiheit und Meinungsfreiheit sagen viele, das sind bisher nur Lippenbekenntnisse aus Peking.

    Lemke: Das ist richtig, aber wie lange haben die westlichen Demokratien gebraucht, um sich so zu entwickeln wie sie heute sind. Das ist doch keine Selbstverständlichkeit, sondern das ist ein Prozess, der unglaublich lange dauert. Sehen Sie das China, das ich noch erlebt habe, als ich vor 20 Jahren mit Werder Bremen zweimal dort war, das ist ja überhaupt nicht zu vergleichen mit dem China, das sie heute erleben. Ich habe das China Mao Tse-tungs noch erlebt. Das hat sich total gewandelt. Natürlich gibt es eine Vielzahl von Dingen, mit denen ich überhaupt nicht einverstanden sein kann. Aber ist es nicht richtig, auch der chinesischen Führung... Gestern habe ich einen Journalisten im Fernsehen gehört, der gesagt hat, es finden dort permanente Häutungsprozesse in der Gesellschaft statt. Diese Häutungen finden auf einem immer schnelleren Weg statt. Ich fand die Beschreibung eigentlich ganz gut und ich glaube, man darf die Chinesen nicht überfordern bei diesen Prozessen. Ich hoffe von Herzen, dass sich das weiter öffnet. Im Bereich der Justiz sagen mir Experten hätte sich enorm etwas verändert. Über die Wirtschaft brauchen wir überhaupt nicht zu reden, wie dramatisch sich das verändert hat. Bisher ist China nach wie vor ein Entwicklungsland mit gar nicht guten Zahlen, was Armut, was Produktivität und sonst etwas angeht, aber die Zuwachsraten waren in den letzten Jahren unglaublich. Und ich darf natürlich auch sagen, dass China auch für Deutschland, für viele andere Staaten ein sehr, sehr wichtiger Partner ist.

    Schütte: Willi Lemke hat noch Hoffnung, dass sich durch die Olympischen Spiele etwas tut.

    Lemke: Ja natürlich.

    Schütte: Der Sportbeauftragte der Vereinten Nationen und ehemaliger Manager beim Bundesligaverein Werder Bremen. Ich danke Ihnen für das Gespräch.