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Reihe: Leben in der digitalisierten Welt
"Die wichtigste Ressource unserer Zeit ist die Aufmerksamkeit"

Wer unsere Aufmerksamkeit bündele, der habe uns als Konsumenten schon da, wo er uns haben wolle, sagte der Chefredakteur des "Philosophie Magazins", Wolfram Eilenberger, im DLF. Erfolgreiche Unternehmen wie Facebook und Twitter stellten ja gar nichts her, sondern seien nichts anderes als Plattformen zur Bündelung unserer Aufmerksamkeit.

Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 26.08.2014
    Schüler schreiben SMS und telefonieren am 22.04.2013 auf einem Schulhof in Braunschweig (Niedersachsen).
    Alle paar Minuten der Blick aufs Handy - die Zerstreuung kann positiv und negativ sein. ( picture alliance / dpa)
    Stefan Koldehoff: "Leben in der digitalisierten Welt" heißt die Sommerreihe, in der wir in diesem Sommer zu ergründen versuchen, wie sich unser aller Welt verändert hat, seit sie eigentlich nur noch aus 1 und 0, aus Strom und Nicht-Strom, aus digitalem Datenfluss besteht. Wir sprechen mit Medizinern und Pädagogen, mit Künstlern und Wissenschaftlern, mit Warnern und Begeisterten – und heute mit dem Philosophen Wolfram Eilenberger. Er ist Chefredakteur des "Philosophie Magazins" und hat dort vor nicht allzu langer Zeit einen Heftschwerpunkt zum Thema "Der zerstreute Mensch" verantwortet. Werden wir durch das Dauerfeuer digitaler Reize innerlich ortlos? lautete die Frage dahinter. Ich habe ihn gefragt, Wolfram Eilenberger: Ist "Zerstreuung" für Sie denn ein positiver oder ein negativer Begriff? Man kann Zerstreuung ja auch ganz angenehm empfinden.
    Wolfram Eilenberger: In der Tat: der Begriff der Zerstreuung ist vieldeutig ambivalent, wie man sagen könnte, und es gibt sicher eine Zerstreuung, eine Form der gewalttätigen Unterbrochenheit, des unterbrochen Werdens, des sich nicht finden Könnens, des permanenten abgelenkt seins, die wir als negativ und als Selbstverlust und Selbstflucht empfinden. Und es gibt natürlich die ganz angenehmen Aspekte der Zerstreuung, die mit Erholung, mit Gedankenfreiheit, mit Drucklosigkeit verbunden werden, und diese Zerstreuung ist tatsächlich im Deutschen ein sehr interessanter und philosophisch bedenkenswerter Begriff.
    "Eine Form der Fremdbestimmtheit"
    Koldehoff: Ist denn das sich Zerstreuen ein bewusster Akt, oder geschieht es einem?
    Eilenberger: Ich glaube, es gibt zwei oder mindestens zwei Möglichkeiten, zerstreut zu werden oder sich zerstreut zu finden. Das eine hat sehr stark, denke ich, mit unserer digitalen Lebenswelt, mit unserer Existenzweise als digitalem Wesen zu tun, und das ist eher ein zerstreut werden, etwas was mir zustößt, oder was mir widerfährt als Akt, den ich selbst nicht steuere und der mir auch eher unangenehm ist und mich belastet. Wenn Sie an die ganzen Push-Alerts, Google-Nachrichten, an die Popup-Windows denken, an die Intensität der E-Mails, an die Anrufe, dann, denke ich, leben wir alle heute fast in einem Arbeitsalltag, in dem man sich gar nicht mehr auf etwas länger als zwei bis drei Minuten konzentrieren kann, ohne unterbrochen zu werden. Und diese Form der Zerstreuung ist etwas, was man nicht selbst steuert, was einem widerfährt, und in dem Sinne ist es etwas, was man vielleicht mit Immanuel Kant eine Form der Heteronomie bezeichnen könnte, eine Form der Fremdbestimmtheit, die dann auch dazu führt, dass man, wie man so sagt, keinen klaren Gedanken mehr fassen kann.
    Und dann gibt es auf der anderen Seite die Zerstreuung, die man aufsucht, um klare Gedanken zu finden, wie bei einem Spaziergang, und ich glaube, das Interessante an der zerstreuten Subjektivität, die wir heute alle sind oder die wir zu werden drohen, ist, dass sich beide Formen der Zerstreuung stark ausbreiten.
    Koldehoff: Warum gibt es denn den Eindruck, dass man dieses sich nicht mehr konzentrieren können, keinen klaren Gedanken mehr zu Ende denken, dass man das nicht einfach ablehnt?
    Eilenberger: Ich glaube, das sind eher Handlungslogiken, die uns durch den Arbeitsalltag und letztlich durch die Leitsysteme, mit denen wir arbeiten, vorgegeben sind. Die Digitalisierung und das sogenannte Netz, wenn wir es weit fassen, ist da sicher das Entscheidende. Und Sie können ja in gewissen Berufen, mittlerweile in fast keinem Beruf mehr es sich gar nicht leisten, permanent nicht auf Abruf zu sein, nicht erreichbar zu sein.
    "Die Trennung zwischen Arbeit und Alltag ist praktisch aufgelöst"
    Koldehoff: Würde das in letzter Konsequenz bedeuten, dass es die Trennung zwischen Arbeitswelt und Freizeitwelt eigentlich schon gar nicht mehr gibt?
    Eilenberger: In der Tat. Das beobachten wir natürlich durch die Mobilisierung des Netzes. Das was dann etwa ab 2003, 2004 mit dem iPhone und den gesamten Revolutionen im Handy-Markt geschehen ist. Da ist es so: Die Trennung zwischen Arbeit und Alltag, zwischen Freizeit und Konzentration, die ist praktisch aufgelöst worden. Und das ist nicht nur eine zeitliche Auflösung; es ist ja auch eine räumliche Auflösung. Und auch da ist es wie bei vielen Techniken so, dass da, was eigentlich ein Zuwachs an Freiheit und Freizeit hätte sein können, eher eine Logik der Versklavung und Unterwerfung erfolgt ist.
    Koldehoff: Aber wo bleibt denn dann, verflixt noch mal, wenn Sie vorhin Kant zitiert haben, der freie Menschenwille?
    Eilenberger: Ich denke, es ist wirklich eine wesentliche Herausforderung unserer Zeit, diese Heteronomie durch Fremdreize, durch Unterbrechungen zu unterbinden, zu kontrollieren, zu regulieren, und ein freier Mensch ist tatsächlich nur ein Mensch, der sich selbst besinnen kann. Ich glaube, die Gründe, die dort treibend sind im Hintergrund, sind tatsächlich ökonomische Gründe, denn wenn Sie daran denken, was treibt denn diese Logik der Unterbrechung eigentlich, dann kommen Sie sehr schnell auf den Gedanken, dass die wichtigste Ressource unserer Zeit die Aufmerksamkeit ist. Wer unsere Aufmerksamkeit bündelt, der hat uns als Konsumenten schon da, wo er uns haben will, und tatsächlich sind die weltweit wichtigsten und größten Firmen, die derzeit ja immer noch im Wert explodieren, wie Facebook, wie Google, wie Twitter, das sind ja Firmen, die gar nichts herstellen. Das sind nichts anderes als Plattformen zur Bündelung unserer Aufmerksamkeit, und der Kampf um unsere Aufmerksamkeit ist als Ressource derzeit stark entbrannt, was wir alle spüren.
    Koldehoff: Würde es denn dann helfen, wenn mehr Firmen sich so verhielten, wie es VW zum Beispiel vor einigen Wochen getan hat, indem die Firma sagt, 18 Uhr ist Schluss mit E-Mails und da gibt es dann auch keinen Zugriff mehr von außen, dann ist bitte Freizeit, von oben verordnet?
    Eilenberger: Ja. Das ist sicher jetzt eine Dynamik, die neu ist. Es gibt ja immer mehr Betriebe, die sagen, wir haben eine E-Mail-freie Zone von Freitagabend bis Montagfrüh. Ich bin mir nicht sicher, wie stark das in der Praxis funktioniert und tatsächlich auch eingeholt wird, denn zumindest an mir selbst und an den Menschen, mit denen ich arbeite, empfinde ich es sehr schwer, aus dieser Logik der permanenten Erreichbarkeit selbst am Wochenende oder in sogenannten arbeitsfreien Zeiten auszubrechen. Man hat dann sehr stark das Bedürfnis, nachzuschauen, weil man etwas verpasst. Einerseits finde ich das sehr begrüßenswert; andererseits glaube ich nicht, dass das die eigentliche Lösung des Problems sein wird.
    "Schutzgrenzen für uns verschwimmen zunehmend"
    Koldehoff: Umgekehrt behindert es mich aber doch eigentlich auch in meiner freien Willensausübung, so eine Firmenentscheidung. Wenn ich beispielsweise überlege, jetzt gehe ich nach Hause, spiele mit den Kindern und freue mich darauf, und die Anmoderation für das Gespräch mit Herrn Dr. Eilenberger, die schreibe ich dann am Samstagabend, wenn die Kinder im Bett sind. Meine freie Entscheidung!
    Eilenberger: Ja! Das ist, glaube ich, die Ambivalenz eines anderen Begriffes, der mit der Zerstreuung sehr eng verbunden ist. Das ist das, was Richard Sennett als den flexiblen Menschen bezeichnet hat. Die Flexibilität ist natürlich ein Freiheitszuwachs. Ich kann mir meine Arbeit selbst einteilen, ich kann selbst entscheiden, wenn ich eine Aufgabe erledigen will. Andererseits führt eben diese Flexibilität auch dazu, dass die Grenzen, die auch Schutzgrenzen sind für uns, dass die zunehmend verschwimmen. Diese Flexibilität wirklich für sich selbst zu nutzen und nicht ein Sklave ihrer Möglichkeit zu werden, das ist eine sehr, sehr schwierige Aufgabe.
    Koldehoff: Und jetzt mal ganz konkret: Sie haben ja viel darüber nachgedacht. Wie machen Sie es in der Praxis? Sie sitzen beim Kaffeetrinken mit der Familie und möchten als Philosoph mit DFB-Trainerlizenz doch mal eben wissen, wie Schalke oder Dortmund gespielt hat, oder Ihre Frau interessiert doch ganz kurz mal eben, was die finnischen Basketball-Damen denn so gemacht haben. Gucken Sie rein?
    Eilenberger: Ich glaube, im Familienalltag für mich hat sich bewährt, dass man etwas ganz Altmodisches tut: Man führt Rituale ein wie beispielsweise ein gemeinsames Abendessen, oder ein gemeinsames Frühstück. Ich glaube, der Begriff des Rituals aus einer starren, regelgeleitet Wiederholung, die keine Abweichung duldet, ist insgesamt kulturell ein großes Heilmittel in dieser digitalisierten Zerstreuungslogik. Ich glaube, diese Zonen, die man sich freihält, die sollte man starren Regeln unterwerfen, die sollte man stark ritualisieren, und dann gewinnen Sie auch das, was Rituale dann immer annehmen: Sie gewinnen etwas Heiliges, etwas Schönes, etwas, in dem man sich selbst wiederfinden kann.
    "Ritual insgesamt kulturell ein großes Heilmittel"
    Koldehoff: Brauchen wir nach vielen Jahren der Technikbegeisterung so was wie eine neue Netiquette wie neue Regeln fürs Benehmen in der digitalen Welt?
    Eilenberger: Ich würde sagen, dass die erste Anforderung noch vor diesen Benimm- und Benehmensregeln die wäre, dass man wirklich eine Kunst der Selbstbeobachtung im Mediengebrauch einführt, so eine Art neue Medienpädagogik. Das scheint mir sehr viel wichtiger und da sehe ich kulturell in der Schule, aber auch in vielen anderen Bildungsinstitutionen tatsächlich eine große Anforderung, dass man der Subjektivität, die heute digitalisiert entsteht, beibringt, sich in dieser Zerstreuungslogik zu finden, souverän zu bleiben und sie zu steuern, anstatt ihr Sklave zu werden.
    Koldehoff: Von wem könnte das denn kommen?
    Eilenberger: Es gibt ja ganz, ganz starke kulturelle Gegenbewegungen zu dieser Zerstreuungszumutung, beispielsweise die ganzen asiatischen Versenkungstechniken des Yoga, oder auch gewisser Kampftechniken, die auf Versenkung und Konzentration beruhen. Das heißt, es gibt auch eine ganze Sammlungsindustrie, die sich gleichsam als Parasit auf diese Zerstreuungslogik hier draufgesetzt hat, und tatsächlich glaube ich, dass auch die Philosophie wie beispielsweise die Tradition der Stoa grundlegende Techniken liefert, die es einem ermöglichen, sich selbst zu finden. Beispielsweise haben die Stoiker gesagt, schreibe deine Gedanken am Tag jeden Tag zehn Minuten auf. Allein schon dieses Aufschreiben der eigenen Gedanken, das ist eine Form der Selbstfindung, die, glaube ich, ganz konkret als heilsam erfahren werden kann und einen von dieser Zerstreuung abhält.
    Koldehoff: Was ist das aus der Sicht des Philosophen, ein Versuch, ein Rad zurückzudrehen, oder ein Versuch, ein Rad anders zu drehen?
    Eilenberger: Ich glaube, die philosophische Leistung kann darin bestehen, diese Dynamik zu durchschauen und auch in ihren Motivationen zu durchschauen. Und wenn Sie mich jetzt fragen würden, was ist denn eigentlich die Grundmotivation hinter dieser Zerstreuungslogik, dann, glaube ich, ist die eine ganz alte, wie im Römischen gesagt wird: Divide et impera, teile und herrsche. Wenn man es schafft, die Menschen von sich selbst abzulenken und in permanenter Zerstreuung zu halten, dann kontrolliert man sie, und das ist eine Form der Versklavung, glaube ich, der wir uns alle als autonome selbstbestimmte Wesen, potenziell selbstbestimmte Wesen entziehen können, und die Techniken dafür sind eigentlich auch dort und kulturell gut kultiviert.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.