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Reihe: Leben in der digitalisierten Welt
"Nur die Jetztzeit zählt"

Dass man sich selbst historisch wird, wie Goethe einmal formulierte, werde mit dem Internet immer unwahrscheinlicher, sagte der Medienwissenschaftler Norbert Bolz von der TU Berlin im DLF. Die Menschen verspürten immer weniger die historische Dimension ihrer eigenen Existenz - und das obwohl sie selbst immer aktiver würden.

Norbert Bolz im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich | 29.08.2014
    Apps von Facebook und Whats App auf einem Smartphone
    Apps von Facebook und Whats App auf einem Smartphone (dpa / picture alliance / Felix Hörhager)
    Burkhard Müller-Ullrich: Kulturverluste durch Einäscherung ließen sich zwar nicht vermeiden, aber ihre Folgen mildern, wenn die Bibliotheksbestände gescannt und die Scans auf elektronischen Medien gespeichert wären. Das ist ein Aspekt des Lebens in der digitalen Welt – ein Thema, das wir hier in einer sommerlichen Interview-Serie beackern und wozu ich jetzt Norbert Bolz von der TU Berlin begrüße. Herr Bolz, Sie sind Medienwissenschaftler. Ist Medientheorie nicht ein ziemlich kurzlebiges und kurzfristiges Geschäft, weil sich doch die technischen Möglichkeiten, kaum, dass man sie einigermaßen erfasst hat, schon wieder ändern?
    Norbert Bolz: Das ist absolut richtig, dass die Medientheorie oder die Medienwissenschaft das Problem hat, gewissermaßen den Puls der Zeit fühlen zu müssen, und ich muss ganz offen gestehen, die Grenzen zwischen Medientheorie und Trendforschung sind fließend. Aber es gibt natürlich auch ein paar theoretische Grundlagen dieser gesamten Entwicklung, Stichwort etwa Digitalisierung; die ändern sich ja nicht, sondern im Gegenteil: die werden immer deutlicher und ihr Impact wird immer deutlicher. Und ich persönlich beziehe mich vor allen Dingen auf diese fundamentalen theoretischen Grundlagen, von denen man durchaus sagen kann, dass sie so eine Art Grundwissenschaft für das 21. Jahrhundert abgeben.
    Müller-Ullrich: Wenn man von außen und von oben draufschaut, schien es mir, dann kann man unser Thema in drei Flächen oder Stockwerke unterscheiden. Das eine sind die technischen Spielereien, damit haben Sie schon gerade angefangen. Das andere sind die sozialen Auswirkungen und das Dritte, das ist eigentlich eher philosophischer Natur. Und ich hatte Sie so verstanden, dass Sie das mit der fundamentalen theoretischen Herausforderung auch meinten, wo zum Beispiel das Ich-Bewusstsein tangiert ist, einfach durch Phänomene der Virtualisierung.
    Bolz: Natürlich haben alle Medien, alle neuen Medien einen unmittelbaren Einfluss auf die Selbstreflexion und Selbstdefinition des Menschen. Es ist einfacher zu beurteilen bei Medien, die schon historisch geworden sind, die eine lange Geschichte haben. Da lässt sich das deutlicher machen. Ich gebe nur ein Stichwort: die sogenannte Gutenberg-Galaxis, von der der große Medientheoretiker Marshall McLuhan schon vor vielen Jahrzehnten gesprochen hat, und das sollte genau das ausdrücken: Die Gutenberg-Technologie des Drucks mit beweglichen Lettern verändert nicht nur die Medienlandschaft und Kommunikationslandschaft, sondern hat über die massenweise Verbreitung von Büchern das, was wir Kultur nennen, vollkommen neu definiert und hat damit auch die Identität, das Ich-Bewusstsein der Menschen radikal verändert. Der Mensch war dann primär Leser. Und heute haben wir es offensichtlich mit einer Revolution zu tun, in der der Mensch eben nicht mehr primär Leser ist, obwohl man natürlich auch Computer-Bildschirme immer wieder lesen muss, sondern wo überhaupt das Interface, die Begegnung mit den Bildschirmen, die Kontaktflächen zu diesen digitalen Wundermaschinen, die dominierende Ausgangserfahrung ist, von der jeder sich selber, wie soll man sagen, definieren muss und die auch unentrinnbar geworden ist.
    "Alles ist gleichzeitig, wenn Sie so wollen, alles geschieht jetzt."
    Müller-Ullrich: Was sind denn Ihrer Auffassung nach die allerschwerwiegendsten Veränderungen in der Kultur? Sie hatten ja gerade die Gutenbergsche Trendwende, wenn man das schon damals so sagen konnte, angesprochen. Da geht es im Grunde auch um etwas Ähnliches wie das, was wir jetzt erleben im Zeitalter der Digitalisierung, nämlich Phänomene der Veröffentlichung, der Vervielfältigung und der Verfügbarmachung. Das hat ja auch den Aggregatzustand des Wissens verändert.
    Bolz: Vollkommen richtig. Diese Entwicklung, die ja schon Jahrhunderte währt, die ist auch vergleichsweise gut erforscht und die ist unkontrovers. Nicht ganz so klar ist, was eigentlich mit den neuen computergestützten Medien in Blick auf Kultur und Identität des Menschen geschieht, wo das Buch zum Schlüsselmedium oder zum Leitmedium einer Kultur wurde, wie unter der Ägide der Gutenberg-Technologie. Da war Linearität, Sequenzialität, das Schritt für Schritt, das schrittweise Abarbeiten von Themen, Seite auf Seite, Buch für Buch, die beherrschende Form von Rationalität, von Vernunft, wenn Sie so wollen. Heute ist viel charakteristischer der Umgang mit unendlich vielen Bildschirmen, die gleichzeitig flimmern. Dieses sogenannte Multitasking, das bedeutet ja im Klartext, Sie arbeiten nicht mehr ein Thema ab und gehen dann zum nächsten über, sondern Sie prozessieren Ihre Probleme parallel. In jedem Fall bedeutet das ein vollkommen verändertes Verhältnis zu unseren Wahrnehmungen, zu unseren kulturellen Überlieferungen. Alles ist gleichzeitig, wenn Sie so wollen, alles geschieht jetzt. Dass man sich selbst historisch wird, wie das Goethe mal gesagt hat, oder dass man, wie soll man sagen, eine Art historische Dimension der eigenen Existenz verspürt, das wird immer unwahrscheinlicher. Nur die Jetztzeit zählt.
    Müller-Ullrich: Was glauben Sie denn? Führt das in die digitale Demenz, oder kann man das lernen?
    Bolz: Nein! Das Stichwort von der digitalen Demenz führt sicher in die Irre. Ich will es mal ins Grundsätzliche wenden. Immer dann, wenn neue Medien eine alte etablierte Kultur haben, hat man diesen neuen Medien nachgesagt, sie würden verblöden. Als das Buch massenweise verfügbar war – und das ist nicht sehr viel älter, diese Erscheinung, als 200 Jahre -, haben gerade die Pädagogen befürchtet, dass zarte Mädchenseelen vom rechten Weg abgebracht würden durch die Lektüre von Liebesromanen. Heute würden sich dieselben Pädagogen glücklich schätzen, wenn die Mädchen in der Schule diese Liebesromane noch lesen würden. Aber es war eben die Konfrontation mit einem neuen Medium, und das bedeutet immer auch mit neuen Verhaltensformen, mit neuen Formen von Aufmerksamkeit, und die wirken immer bedrohlich. Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass die Menschen der Gutenberg-Galaxis die computergestützten Medien alle als Bedrohung empfinden. Aber so ganz allmählich spürt man doch, dass da Findigkeiten, Raffinements sich entwickeln im Umgang mit diesen neuen Medien, von denen man sich nie hätte träumen lassen. Ich gebe nur ein Stichwort: Spiele, Computerspiele, ursprünglich natürlich ein Hassobjekt aller Pädagogen. Aber mittlerweile sieht man, da entwickeln sich ganz neue Formen von Intelligenz, echte Formen von Interaktivität, neue Möglichkeiten der Imagination. Das ist ein Bereich, der sich ganz allmählich erst öffnet. Aber man spürt allmählich auch, dass da enorme Potenziale der Gestaltung für Jedermann drinstecken, und das haben ja gerade die alten Gutenberg-Medien nie geboten. Wir waren immer nur Leser, aber nur einer von 10.000 ist dann auch mal Autor geworden und damit meistens gescheitert. Das war eine Einbahnstraße, diese Kultur. Heute spürt man doch sehr deutlich, alle sind irgendwie aktiv, wie auch immer das Niveau sein mag. Aber es gibt keinen Zweifel daran: Die Leute wollen mitmachen, sie wollen selber etwas produzieren, und das finde ich, ehrlich gesagt, zunächst einmal ganz positiv.
    "Dass wir noch sinnvoll mit Begriffen wir privat und öffentlich umgehen ist keineswegs gesichert."
    Müller-Ullrich: Man kann über unser Thema, das Leben im digitalen Zeitalter, derzeit nicht sprechen, ohne wenigstens einen Bereich politischer Aktualität und auch, würde ich sagen, philosophischer Brisanz zu streifen: Stichwort "Überwachung". Denn philosophisch brisant ist natürlich immer das Verhältnis Fremdbestimmung/Selbstbestimmung.
    Bolz: Ich muss ganz ehrlich sagen: Bei dieser Diskussion hat mich die wahrscheinlich sogar nur gespielte Naivität überrascht, eine Naivität, die sich etwa darin kundtut, erstaunt darüber zu sein, dass Geheimdienste spionieren. Ich bin immer davon ausgegangen, das ist ihre Definition, das ist ihre Aufgabe. Selbstverständlich spionieren Geheimdienste, selbstverständlich gibt es kostbare Geheimnisse, selbstverständlich hat die Transparenzforderung, die heute so aktuell ist, Grenzen, und zwar vor allen Dingen politische Grenzen, überall da, wo es um das Selbsterhaltungsinteresse eines Staates geht, aber auch von Organisationen allgemein. Darüber sich dann zu wundern, dass die Organe der Obrigkeit oder die Organe der Macht erstens sich gegen diese Transparenzforderung und die Transparenzpolitik stemmen und dass sie auf der anderen Seite selbstverständlich alle Daten, die mit diesen neuen Technologien gesammelt werden können, sammeln und auswerten, das gehört, wenn Sie so wollen, zum Geist jedes Verwaltungsstaats und es gehört vor allen Dingen auch zum Geist jedes Verfassungsschutzes oder jeder National Security Agency. Also ich konnte diese Erregung nie so recht teilen, aber dahinter steckt in der Tat ein großes philosophisches Problem, denn wir empfinden als Bürger selbstverständlich die Medien immer als Chance von Aufklärung, von Information, damit auch von Transparenz, und stoßen jetzt auf solche Themen wie Unvermeidlichkeit des Geheimnisses. Das ist schon eine sehr spannende Frage, die sich übrigens sehr eng verschränkt mit der Diskussion über das Verhältnis von Privatleben und Öffentlichkeit. Da gibt es ja diese sehr, sehr starke Tendenz, die Grenze zwischen Privat und Öffentlich zu nivellieren oder zu liquidieren, und zwar von beiden Seiten ausgehend. Die Privatleute selber zeigen immer mehr exhibitionistische Tendenzen, stellen sich selbst und ihre Privatsphäre ins Netz und machen sie öffentlich, und auf der anderen Seite greift der Staat und greifen viele Verwaltungsorganisationen immer tiefer mit ihren Fürsorgeprogrammen in unser Privatleben ein. Das ist ein, wie ich finde, extrem gefährlicher Prozess. Ich empfinde ihn natürlich deshalb gefährlich, weil ich ein ganz bürgerlicher Mensch bin und davon lebe, dass es so etwas wie eine gesicherte Privatsphäre gibt, aber es ist keineswegs gesichert, dass wir im 21. Jahrhundert noch sinnvoll mit den Begriffen Privat und Öffentlich operieren können.
    Müller-Ullrich: Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz von der TU Berlin. Danke, Herr Bolz, für diese Auskünfte.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.