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Reinhard Erös: Der einfache Soldat wird überhaupt nicht auf Afghanistan vorbereitet

In Afghanistan sollen US-Soldaten Exemplare des Korans verbrannt haben. Reinhard Erös, seit Jahren vor Ort mit der Kinderhilfe Afghanistan tätig, wundert das nicht: Die Soldaten seien zum Wiederaufbau des Landes dort, wüssten aber viel zu wenig über die afghanische Geschichte und Kultur.

Reinhard Erös im Gespräch mit Dirk Müller | 23.02.2012
    Dirk Müller: Es gibt Tote und Verletzte, nahezu Aufruhr in vielen Dörfern und in vielen Städten Afghanistans, massive Proteste gegen die amerikanischen Soldaten am Hindukusch, wieder einmal gegen GI's, die angeblich Exemplare des Korans verbrannt hatten - absichtlich oder nicht absichtlich, das dürfte in dieser aufgeheizten Stimmung auch keine Rolle mehr spielen. Auch, dass sich die amerikanische Armeeführung vor Ort offiziell dafür entschuldigt hat. Wie auch immer: die religiösen Gefühle der Einheimischen sind erneut verletzt worden. Die Taliban wiederum versuchen, daraus Kapital für sich zu schlagen.Bei uns am Telefon ist nun Afghanistankenner Reinhard Erös. Er ist seit vielen Jahren in der Kinderhilfe am Hindukusch engagiert. Guten Tag.

    Reinhard Erös: Grüß Gott.

    Müller: Herr Erös, sind wieder einmal alles die Amerikaner schuld?

    Erös: Na ja, wir hatten ja vor einem knappen Jahr einen ähnlichen Vorfall, wo in Florida ein Pfarrer versucht hat oder angedroht hat, den Koran zu verbrennen. Daraufhin gab es auch gewalttätige Auseinandersetzungen in ganz Afghanistan - mit dem schrecklichen Ergebnis, dass UN-Mitarbeiter, ausländische und afghanische UN-Mitarbeiter - ich glaube, fast ein Dutzend - getötet wurden. In diese Richtung läuft das jetzt auch wieder. Jetzt ist es halt in Afghanistan passiert und diesmal durch Soldaten, ob nun unbedachtsam oder unsensibel, wie es die Kollegin aus Kabul berichtet hat, das weiß ich nicht. Ich kriege nur mit - ich arbeite ja dort, mitten im Gebiet der US-Amerikaner. Meine Projekte sind nicht im Norden bei der Bundeswehr, sie sind im Osten des Landes, im Paschtunen-Gebiet, im Heimatland auch der Taliban, das ist das Gebiet, wo US-Truppen hauptsächlich sind. Und dort stelle ich fest, seit Jahren, seit Anfang an eigentlich, dass sich US-Soldaten nicht nur sehr unsensibel, sondern sehr aggressiv gegenüber der afghanischen Kultur - und da ist nun mal der Islam ein Teil davon, ein ganz gewichtiger Teil davon - verhalten. Das hat zum einen damit zu tun, dass der amerikanische einfache Soldat, jetzt nicht ein General Allen, den Sie vorhin zitiert haben, oder ein Petraeus, oder wer auch immer, der einfache Soldat, dass der nun überhaupt nicht auf Afghanistan vorbereitet wird. Der versteht vom Islam nichts, der weiß von Afghanistan nichts, das interessiert den auch nicht groß. Und seine Vorgesetzten haben eine so große Distanz zu ihm, dass sie gar nicht im Stande sind und auch nicht willens sind, ihm diese Kulturkompetenz zu vermitteln. Und dann kommen halt solche Sachen heraus.

    Das Üble an der Sache ist ja Folgendes: Die Toten und Verwundeten, die es jetzt schon gegeben hat aufgrund des Vorfalls, das sind ja nicht US-Soldaten, an denen man sich da letztlich rächt. Denn die können sich schützen, die sind jetzt in ihren Kasernen, die gehen nicht heraus. Das sind auch nicht hohe Beamte oder US-Diplomaten. Es sind ganz einfache Afghanen, die jetzt ums Leben kommen. Plus die Hilfsorganisationen, zum Beispiel auch meine, die jetzt quasi ihre Türen schließen müssen, die für Tage, vielleicht für Wochen lang ihre Projekte nicht fortsetzen können und damit natürlich die Ärmsten der Armen in Afghanistan letztlich darunter leiden, weil keine Lebensmittel verteilt werden können, weil - jetzt im Winter sind viele Dutzend Kinder zum Beispiel jetzt erfroren in den letzten Wochen - die Menschen nicht mehr versorgt werden können mit Decken, weil man nicht heraus kommt. Und das ist eigentlich das furchtbar Üble an dieser Geschichte.

    Müller: Herr Erös, bleiben wir bei diesem Punkt noch mal, weil Sie es gerade angesprochen haben. Wie können Sie denn Ihre Mitarbeiter vor Ort schützen?

    Erös: Ich kann nicht die schützen, die müssen eher mich schützen. Die Afghanen schützen natürlich die Ausländer, nicht die Ausländer die Afghanen. Eines unserer Büros ist in Dschalalabad. Das ist eine Stadt, in der es seit gestern auch Unruhen gibt, Demonstrationen gibt, und zwar nicht vom, ich sage mal, Taliban-Fußvolk nur, nicht von der Straße, wie man so schön sagt, oder von den Unterschichten, sondern von Akademikern. In Dschalalabad haben Tausende Studenten der Universität Dschalalabad, also gebildete junge Leute, gegen die Amerikaner, gegen die Ausländer demonstriert.
    Man unterscheidet dort natürlich schon, jetzt auf dieser Ebene zumindest, wer der eigentlich Schuldige ist. Zum Beispiel unsere Einrichtungen im Osten Afghanistans wurden gestern und heute bei den Demonstrationen auf den Straßen nicht angegriffen, noch nicht mal belästigt. Es wurden Dutzende Hilfsorganisationsbüros, UNAMA-Büros und so weiter, beworfen, wurden angegriffen. Es fanden richtig aggressive Protestgespräche vor diesen Behörden statt. Also wir selber - und das ist jetzt wiederum wahrscheinlich eine Folge unserer Vorgehensweise -, wir, also die Kinderhilfe Afghanistan, meine Organisation, die wir seit zehn Jahren jetzt dort arbeiten, haben uns von Anfang an von den ausländischen Soldaten - und das sind bei uns wie gesagt nur US-Truppen - distanziert. Verbal distanziert und auch physisch distanziert. Ausländische Soldaten dürfen sich unseren Einrichtungen nicht nähern, und das schützt - uns und schützt nicht das Militär, im Gegenteil. Unsere Einrichtungen und auch meine tausend Mitarbeiter schützt die Tatsache, dass US-Soldaten keinen Zugang haben zu uns.

    Müller: Herr Erös, ich möchte Sie hier noch einmal unterbrechen, weil ich ja noch einige Fragen in petto habe. Wenn Sie diese Beispiele schildern und auch, dass die Hilfsorganisationen überall jetzt in dieser gefährlichen Situation stecken, und Sie haben auf der anderen Seite von Akademikern, von Studenten, von Gebildeten gesprochen, dann heißt das aber im umgekehrten Schluss, dass diese Kräfte offenbar nicht in der Lage sind, zu unterscheiden zwischen amerikanischen Soldaten und denjenigen, die konstruktiv helfen wollen.

    Erös: Na ja, das ist halt sehr schwer in Afghanistan zu unterscheiden, denn gerade im Osten sind ja vorwiegend einmal US-Truppen und auch US-Hilfsorganisationen tätig. Und ich sage es mal so: Aus der Sicht der Afghanen - und die ist ja auch nicht falsch - stecken die natürlich alle unter einer Decke. Die größte Hilfsorganisation in Afghanistan, die USAID, die amerikanische Entwicklungshilfebehörde, eigentlich eine zivile Behörde, arbeitet nicht nur Hand in Hand, sondern komplett koordiniert und organisiert und geführt von den US-Streitkräften dort. Die CIA-Agenturen, die wir im Osten haben, arbeiten selbstverständlich eng zusammen mit den amerikanischen Hilfsorganisationen. Im Osten gibt es kaum andere, es gibt keine Deutschen außer uns, es gibt keine Franzosen, es gibt nur US-Hilfsorganisationen - zum Teil sehr vernünftige -, aber für sie gilt halt - und das unterscheidet sie von deutschen Hilfsorganisationen zumindest im Tenor: Sie arbeiten nicht mit den Geheimdiensten der Länder und sie arbeiten auch nicht mit der Armee dieser Länder zusammen. Das schützt uns schon etwas.

    Müller: Dennoch sind ja viele Kritiker, die auch durchaus diesem westlichen Militäreinsatz nach wie vor kritisch gegenüberstehen, doch überrascht, dass es immer wieder dann zu solchen heftigen Reaktionen kommt, wenn auf der anderen Seite ein afghanischer Polizist vier französische Soldaten erschießt, passiert nichts.

    Erös: Na ja, gut. Ich meine, die Ausländer sind Ausländer in Afghanistan. Der afghanische Polizist oder der afghanische Soldat, der die Franzosen erschossen hat, oder auch wie vor einem knappen Jahr drei deutsche Soldaten, die von einem afghanischen Soldaten erschossen worden sind, der afghanische Soldat und der Polizist sind Afghanen, sind Einheimische, die aus ihrer Sicht ihr Vaterland verteidigen. Wie auch immer. Da macht man auch einen gewissen Unterschied.

    Aber noch einmal, worauf ich hinaus will: Eines der Grundübel von Anfang an - das gilt für viele Hilfsorganisationsmitarbeiter und es gilt vor allen Dingen für fast alle Soldaten - ist: Sie werden auf dieses Land kaum vorbereitet. Ein US-Marine, eh nicht gerade zur geistigen Elite normalerweise in Amerika gehörend, der in seinem Leben, bevor er Soldat wurde, nie seinen Landkreis oder seinen Bundesstaat verlassen hat, kommt plötzlich in ein Land mit einer völlig anderen Kultur, wo eben der Islam, die Religion die Schlüsselrolle spielt. Und darauf ist er überhaupt nicht vorbereitet worden. Für die Bundeswehr gilt das nicht ganz so schlimm, aber auch unsere Soldaten werden nicht optimal auf Afghanistan vorbereitet, wie man das eigentlich müsste, wenn man in ein Land geht, um es wieder aufzubauen. Noch einmal: Die NATO, ISAF ist nicht dort, um Afghanistan zu erobern. Dann müsste man nicht so viel Kulturkompetenz haben, dann erobert man das Land halt. Wir sind jetzt dort, um ein Land wieder aufzubauen. Der Terminus heißt auch Reconstruction Teams, wiederaufbauen. Dann muss ich wissen, was ich wiederaufbauen soll, aufgrund wessen, welcher Vorgänge ich aufbauen soll, und da spielt die afghanische Geschichte und Kultur und Sprache und Religion eine Schlüsselrolle. Und darauf sind diese 150.000 in der Regel ja jungen Männer überhaupt nicht vorbereitet. Deshalb wundert es mich überhaupt nicht, oder mich wundert es im Gegenteil sehr stark, dass solche Vorfälle wie vorgestern in Bagram nicht häufiger geschehen.

    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der Afghanistankenner Reinhard Erös, seit vielen Jahren in der Kinderhilfe am Hindukusch engagiert. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Erös: Ich bedanke mich. Alles Gute! Tschüß!

    Müller: Tschüß!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.